Greift die deutsche Politik im Angesicht der Not der europäischen Völker erneut nach der Macht in Europa?

Greift die deutsche Politik im Angesicht der Not der europäischen Völker erneut nach der Macht in Europa?

von Karl Müller

Während in europäischen Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien, Irland, Italien oder Frankreich die sozialen Probleme immer offener und krasser zutage treten und Mitmenschlichkeit in Wirtschaft und Politik das Gebot der Stunde wäre, setzen deutsche Politik und deutsches Grosskapital auf beschleunigte Expansion und Markteroberung. Das soziale Ethos einer sozialen Marktwirtschaft, so wie es zum Beispiel von Wilhelm Röpke während des Zweiten Weltkrieges im Schweizer Exil formuliert worden war, das Ethos von Humanität, Rücksichtnahme und Mass­halten auch im Wirtschaftsleben, ist bei vielen wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen in Deutschland verloren gegangen. Es weht der Wind des Grössenwahns, des Sozialdarwinismus, des Neoliberalismus. Seine Sprecher an der politischen Front sind Angela Merkel und Joachim Gauck, sind die Parteispitzen der Grünen, ist Winfried Kretschmann.
Joachim Gauck, der neu gewählte Bundespräsident, hatte schon in seiner Antrittsrede lobende Worte für die 68er gefunden. Er hofierte die Kreise, die mit den Errungenschaften von Kultur und Zivilisation brechen wollten. Gauck ist eine wichtige Brücke zwischen dem neu-grünen Nihilismus und neoliberaler, auch auf Krieg setzender neokonservativer Politik.
Joachim Gauck hat am 19. April Baden-Württemberg besucht. Im Landtag hielt er eine Rede. Er sprach von seiner «Wertschätzung […] für den Geist, der hier im Südwesten herrscht». Er sagte: «In Baden-Württemberg gelingt Bildung». Einen Tag zuvor hatte der Landtag ein Gesetz beschlossen, das sogenannte Gemeinschaftsschulen als Regelschulen einführen soll. Gauck hat eine Schule besucht, die Gemeinschaftsschule werden soll. Sogenannte Gemeinschaftsschulen sind Einrichtungen, deren «pädagogisches Konzept» aus dem Topf des Privatschulunternehmers Peter Fratton aus Romanshorn stammt und das darauf setzt, dass die Schüler sich mehr oder weniger selbst überlassen sind. «Bildungspolitische Sprecher» der Arbeitgeber loben das «pädagogische Konzept» in höchsten Tönen. Das bisherige Schulsystem sei ja auch nicht länger zu finanzieren. Die OECD hatte Anfang April in einem Positionspapier zur Staatsschuldenkrise («Fiscal consolidation: How much, how fast and by what means?», Seite 18f.) davon gesprochen, dass ihre Mitgliedstaaten zwei grosse öffentliche Haushaltsbereiche hätten, in denen noch sehr viel gespart werden könnte: das Gesundheitswesen und das Bildungswesen.
Aber werden diese neuen Einrichtungen nicht als ganz besonders «sozial gerecht», «integrativ» und «demokratisch» angepriesen? Das sind die schönen Worte, das ist der Betrug. In Tat und Wahrheit haben sie nämlich ein «pädagogisches Konzept», das wunderbar zum Neoliberalismus und zu den alten Plänen von Milton Friedman passt. Hier wird der Schwächere – wenn die Lehrer vor Ort den Plänen der Grünen nicht mehr entgegensteuern können – unter die Räder kommen – und der «Stärkere» wird «ungebremst» mit seinen Ellenbogen arbeiten können. Man spricht von «Solidarität», aber die neue Schulart wird entsolidarisieren. Ist das damit gemeint, wenn die grün-rote Regierung ihre neue «Schule» als besonders «leistungsstark» anpreist?
Gauck sagte im Landtag von Baden-Württemberg: «Sie in Baden-Württemberg stellen sich dem weltweiten Wettbewerb ohne Angst.» Und er sagte: «Baden-Württemberg ist eine europäische, eine europafreundliche, eine weltoffene Region, mit engen Beziehungen zu den Nachbarn in Frankreich, der Schweiz und Österreich.» Meinte Gauck damit, dass die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg sich vorgenommen hat, nationale Grenzen und die Souveränität benachbarter Völker nicht mehr zu achten? Meinte Gauck, dass der grüne Ministerpräsident Kretschmann mit sogenannten Regionalisierungskonzepten die Souveränität der Nachbarvölker aus den Angeln heben will?
Gauck hat nun schon mehrfach betont, dass er «mehr Europa» will. Meint er damit mehr EU unter deutscher Führung? Er muss die deutschen Pläne als europäische Pläne verkaufen. Für eine nur noch «europäische» Aussenpolitik hat er bei seinem Besuch in Brüssel plädiert. «Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!» – ganz so plump geht es heute nicht mehr. Mit Winfried Kretschmann zusammen soll es nun aber noch besser gehen. Kretschmann ist auch für «mehr Eu­ropa». Kurz nach seinem Regierungsantritt in Baden-Württemberg hatte er vorgeschlagen, Joseph Fischer zum Kanzlerkandidaten der Grünen zu machen. Der will schon seit mehr als 10 Jahren gemeinsam mit Daniel Cohn-Bendit «mehr Europa». Kretschmann war schon Leiter von Fischers Grundsatzabteilung, als dieser noch Umweltminister in Hessen war. Wie schon Fischer 1999 stehen auch heute wieder die Grünen an vorderster Front in der deutschen Kriegspropaganda.
Ein zentrales Mittel der Entsolidarisierung der Völker in Europa sind EFSF, ESM und die dazugehörigen geplanten weiteren Bestimmungen wie der sogenannte Fiskalpakt. Laut unterstellt wird, dass zum Beispiel deutsche Bürger für die Schulden griechischer, italienischer oder spanischer Bürger haften müssten. Das ist nicht richtig. Es kann nicht oft genug betont werden, dass die Bürger in diesen Ländern keinen einzigen Cent der Billionenbeträge sehen werden. Das Geld geht ausschliesslich an irgendwelche Finanzinstitute und ist auch nur für sie gedacht. Wohin die Gelder, die die Regierungen zuvor von den Finanzinstituten geliehen hatten, geflossen sind, darüber wird bis heute keine Auskunft gegeben. Mikis Theodorakis hat ein paar Hinweise gegeben (vgl. Zeit-Fragen, Nr. 16 vom 16. April). Die Völker jedenfalls – und diese Linie wird vor allem von deutscher Seite verfolgt – sollen in die Armut getrieben werden.
Joachim Gauck ist ein Befürworter von EFSF, ESM und Fiskalpakt. In Brüssel verstieg er sich sogar zu der anmassenden Bemerkung, Klagen gegen den geplanten ESM und den Fiskalpakt hätten vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht keine Chance auf Erfolg.
Fritz Fischers Buch «Griff nach der Weltmacht» war vor rund 50 Jahren jahrelang viel diskutiert. Heute spricht kaum noch einer darüber. Vor dem Ersten Weltkrieg hat das deutsche Kaiserreich voll und ganz auf Expansion gesetzt. Es suchte den Spitzenplatz in der Konkurrenz der imperialistischen Mächte. Das Ergebnis waren 10 Millionen Tote. Der Sozialdarwinismus war die vorherrschende Ideologie. Kann es sein, dass die Verantwortlichen in Deutschland noch immer nichts aus der Geschichte lernen wollen?    •

Trittin, Gauck-Erfinder

zf. Am 21. Februar 2012, kurz nachdem feststand, dass Joachim Gauck der gemeinsame Bundespräsidenten-Kandidat von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen sein würde, erinnerte Zeit-Online an denjenigen, der Gauck schon 2010 zum Präsidenten machen wollte: den Vorsitzenden der Fraktion der Grünen im Deutschen Bundestag, Jürgen Trittin. Und schon im Vorspann des Artikels fügte Zeit-Online mit Blick auf Trittin hinzu: «Nun ist er seinem heimlichen Ziel nähergekommen: Schwarz-Grün.»
Jürgen Trittin, so Zeit-Online, habe lange im Schatten seines Rivalen Joseph Fischer gestanden. Trittin wird als «Anführer des lange tonangebenden linken Flügels der Grünen» bezeichnet, der Fischer in einem Punkt «längst überholt» habe: «im Strippenziehen».
Trittin habe – gegen anfängliche Widerstände bei den Grünen und der SPD – Gauck als Gegenkandidaten zu Christian Wulff entdeckt und durchgesetzt. Gauck wurde 2010 zwar noch nicht gewählt, aber der Schaden für die schwarz-gelbe Koalition war trotzdem gross. Denn Gauck blieb der «Präsident der Herzen».
Nun, so schreibt Zeit-Online, «kann Trittin ein weiteres Mal triumphieren: Gauck wird doch Präsident, Schwarz-Gelb ist erheblich beschädigt».
Die FDP habe sich zwar zuerst darüber gefreut, Gauck auch in der Koalition durchgesetzt zu haben, aber es sei nur ein Schein-Sieg gewesen: «Womöglich hat die FDP unfreiwillig Merkel und den Grünen geholfen. Denn Gauck ist in Wahrheit eher ein schwarz-grüner Kandidat.»

Gauck und Kretschmann: Israel-Reisende

Auch zur Freude von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wird der neue Bundespräsident Joachim Gauck (parteilos) seine Antrittsbesuche in den Bundesländern am kommenden Donnerstag aus Anlass des 60jährigen Landesjubiläums in Baden-Württemberg beginnen. Genauer gesagt: im württembergischen Landesteil. Nicht gänzlich uneingeschränkt dürfte sich das Stuttgarter Staatsministerium dagegen über einen weiteren Reiseplan des Bundespräsidenten freuen. Offenbar will Gauck nämlich im gleichen Zeitraum wie Kretschmann Israel besuchen. Baden-Württembergs Ministerpräsident reist vom 28. Mai bis zum 2. Juni mit einer Delegation nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Aus dem Bundespräsidialamt heisst es, ein Termin für die Reise von Gauck stehe noch nicht fest. Dagegen berichtet die «Leipziger Volkszeitung», der Antrittsbesuch des Bundespräsidenten in Israel, der auf Einladung des Staatspräsidenten Schimon Peres erfolgt, sei für Ende Mai geplant. Damit würde der Bundespräsident nicht nur medial den Besuch von Baden-Württembergs Regierungschef in den Schatten stellen. Er dürfte dem Grünen-­Politiker zudem die Suche nach hochrangigen Gesprächspartnern erschweren. Gauck wie Kretschmann hatten Israel übrigens bereits vor dem erbitterten Streit über den angeblich mit letzter Tinte geschriebenen Gedicht-Aufsatz des deutschen Nobelpreisträgers Günter Grass auf ihre Reiseliste gesetzt.

Quelle: <link http: www.swp.de ulm nachrichten suedwestumschau>www.swp.de/ulm/nachrichten/suedwestumschau/STUTTGARTER-SZENE-vom-13-April;art4319,1417386

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