Dass die Nato die Waffenbrüderschaft mit Islamisten nicht scheut, belegt ein Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. April. Demnach kämpfen «Mitglieder der regionalen Organisation ‹al-Kaida im islamischen Maghreb› an der Seite der Rebellen.» Aiman al Zawahiri, im April noch die Nr. 2 der al-Kaida, hatte zum Kampf gegen Gaddafi aufgerufen. (FAS 24.2.11). Die FAS weiter: «Aus den Lagern der libyschen Sicherheitskräfte sollen die Extremisten nach Angaben von Diensten aus der Region auch schwere Waffen, Panzerabwehrwaffen und Manpads – schultergestützte Luftabwehrwaffen – aus russischer Produktion erbeutet haben. Diese Pendants zu amerikanischen ‹Stinger›», so die FAS, «sind in ihrer modernen Variante zwar schwierig zu bedienen, stellen aber potentiell auch eine Gefahr für den zivilen Luftverkehr dar.» Das ist längst nicht alles. Welch destabilisierendes Potential der von der Nato eskalierte Krieg auf die Gesamtregion hat, macht folgende Meldung von RIA Novosti vom 1.6.2011 überdeutlich: «Aus algerischen Sicherheitskreisen erfuhr Reuters, dass etliche Konvois von mit Waffen beladenen LKWs von Libyen nach Niger fahren. Von dort aus würden die Waffen nach Nordmali gebracht, wo sich mehrere al-Kaida-Lager befinden. Die Behörden dieses Landes hatten noch Anfang Mai einen Zustrom von Flugabwehr-Raketen und schweren Waffen gemeldet, die aus dem Militärlagern in Libyen gestohlen worden sind.» (http://de.rian.ru, 1.6.2011) Hier braut sich etwas zusammen, was dem US-Regionalkommando für Afrika, Africom, Argumente liefert, um endlich in Afrika militärisch eingreifen zu können.
Quelle: www.ag-friedensforschung.de/regionen/Libyen/henken2.html
Ayman al-Zawahiri: der neue Chef von al-Kaida. (Bild reuters)
von Dr. h.c. Hans-Christof von Sponeck*
In wenigen Monaten wird die Uno 67 Jahre alt. Anfangs waren es 51 Staaten, die sich 1945 zu einer Staatengemeinschaft zusammenschlossen. Inzwischen gehören 193 Staaten der Uno an. Der Süd-Sudan ist das jüngste Mitglied. Schnell ist das neue Land aufgenommen worden. Die im Augenblick Mächtigen wollten es so. Palästina muss weiterhin warten. Mitgliedschaft bedeutet Akzeptanz der Uno-Charta, die mit einem Netzwerk von verpflichtenden Pakten, Konventionen und anderen internationalen Vereinbarungen verknüpft ist.1
Uno-Charta-Recht wurde mit dem Ziel geschaffen, «weltweite Sicherheit zu wahren», «wirksame Kollektivmassnahmen zu treffen» und «internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beizulegen».2 An vielen Stellen weist die Uno-Charta auf die «souveräne Gleichheit» aller Mitgliedstaaten hin. Im Sinne dieser Souveränität ist die Uno-Charta zweifellos die Magna Charta der Schutzverantwortung – «Responsibility to Protect» (R2P).
Die politische Debatte im Uno-Sicherheitsrat geht weiterhin in die Richtung, dass für internationale Interventionen in fremdstaatliches Geschehen die nationale Souveränität die Grenzen setzt. Viele Staaten, besonders solche mit komplexen ethnischen Strukturen und grossem Arm-Reich-Gefälle, hüten besorgt diese Vorgehensweise. Sie wissen, dass nach den Jahren der Unabhängigkeits-Euphorie im vergangenen Jahrhundert Konflikte zwischen den Staaten immer mehr inneren Konflikten der unabhängigen Staaten gewichen sind.3 Schutzverantwortung (R2P), so wird argumentiert, beziehe sich auf «internationales» Recht4 und habe nur mit «internationaler» Sicherheit zu tun. Damit bleiben nationale Auseinandersetzungen interne Angelegenheiten. Je mehr intranationale Konflikte entstanden und interstaatliche Konfrontationen abnahmen, je lauter wurde dennoch der Ruf nach neuen Ansätzen für die internationale Schutzverantwortung (R2P).
Formal war der kalte Krieg am 20. November 1990 zu Ende, als die Charta von Paris für ein neues Europa unterzeichnet wurde. Gleichzeitig hatte sich der Warschauer Pakt aufgelöst. Die Gefahr einer gefährlichen Konfrontation zwischen zwei ideologischen Blöcken schien gebannt. Für den Westen, insbesondere für die Nato-Staaten, bot sich die Gelegenheit, die internationalen Beziehungen neu zu ordnen. Die Nato als ein Instrument aus der Zeit des kalten Krieges musste sich nach einer neuen Existenzberechtigung umschauen.5 Es war eine Gelegenheit von historischer Bedeutung zur Förderung des Multilateralismus und einer Kultur des Friedens.
Inzwischen hatte die Zahl unabhängiger Staaten stark zugenommen. In vielen dieser Staaten entwickelte sich zugleich eine komplexe politische Landschaft. Nicht-staatliche Gruppen versuchten mit legalen und illegalen Mitteln auf nationale Prozesse Einfluss zu nehmen.6 Die internationale Reaktion blieb nicht aus. Hier spielten divergente Motive eine Rolle. Auf der einen Seite gab es machtpolitische Überlegungen in der Nato-Welt, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Neokonservative Urheber des sogenannten «Projects for a New American Century» (PNAC)7 beobachteten mit Argwohn die innerstaatlichen Entwicklungen in der Welt und den Einfluss Russlands und Chinas in vielen Gebieten. Andere Stimmen wollten eine ernsthafte Debatte darüber führen, wie die internationale Gesellschaft auf die sich vermehrenden intrastaatlichen Krisen reagieren sollte. «Zerfallende Staaten» (failing states) und «Neue Kriege» (new wars) wurden Begriffe, die immer häufiger den politischen Diskurs bestimmten. Eine einheitliche Meinung zu diesen Entwicklungen konnte niemand erwarten – auch deshalb nicht, weil in den internationalen Beziehungen das Misstrauen über die Jahre stark gewachsen war.
Wann ist ein Staat ein «zerfallener Staat»? Was ist neu an den «neuen Kriegen»? Was ist berechtigter Widerstand und was strafbarer Terrorismus? Wer hat Schutzverantwortung (R2P)? Wie verhärtet die Fronten in der Debatte geworden sind, zeigte sich in der Tatsache, dass eine international akzeptierte Definition von «Terrorismus»8 bisher nicht zustande gekommen ist.
Die Geschehnisse des 11. Septembers 2001 und die amerikanische Reaktion darauf haben diese Debatte erheblich intensiviert. Internationale Beziehungen, nicht nur zwischen den USA und der islamischen Welt, sondern weltweit, wurden davon beeinflusst und die intra-staatlichen Konflikte gefördert. Schutzverantwortung (R2P) ist zu einem Schlüsselthema geworden – in der Politik, in der Öffentlichkeit und im akademischen Diskurs. Nach den Genoziden in Kambodscha, Ruanda und Srebrenica gilt es zu verhindern, dass sich derartige Verbrechen gegen die Menschlichkeit irgendwo wiederholen können.
Für den Uno-Generalsekretär jener Jahre, Kofi Annan, war die Lehre von Ruanda Ansporn für die Schaffung einer neuen internationalen Sicherheitsarchitektur. Es ging ihm dabei um eine zeitgemässe Definition des Begriffs der kollektiven Sicherheit sowie die damit verbundene erweiterte Auslegung von Kapitel VII, Artikel 51 der Uno-Charta.9 In den ersten Jahren nach der Gründung der Vereinten Nationen konzentrierte man sich auf den Schutz des Staates. Am Ende des 20. Jahrhunderts sollte es um den Schutz der Menschen gehen, wo auch immer diese leben. In dieser Hinsicht hatten die Vereinten Nationen und einzelne Mitgliedstaaten bereits wichtige Vorarbeit geleistet. Die Definition von Menschenrechten war präzisiert worden, ein neues internationales Recht zum Schutz des Menschen10 wurde verabschiedet und im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit waren technische Hilfeprogramme für verbessertes Regierungshandeln (governance) eingeführt worden.
In der Diskussion über Souveränität, innerstaatliche Konflikte und Schutzverantwortung (R2P) ist im Jahr 2001 ein entscheidender Meilenstein gesetzt worden. Auf Initiative der kanadischen Regierung wurde eine internationale Kommission zum Thema Schutzverantwortung (R2P) gebildet, die im Dezember des gleichen Jahres ihren Bericht vorlegte.11 Hier finden wir wichtige und zeitgerechte Aussagen, die die weitere Debatte zu diesem Thema entscheidend beeinflussten. Die Kommission erklärte: i) Die staatliche Souveränität beinhaltet staatliche Verantwortung; ii) staatliche Verantwortung bedeutet sowohl eine externe wie auch eine interne Verantwortung; iii) externe Verantwortung heisst, die staatliche Souveränität anderer Länder zu achten; iv) interne Verantwortung zeigt sich darin, dass die Würde und die Grundrechte aller Teile der Bevölkerung respektiert werden.12
Der Bericht enthält die Grundaussage, dass die Menschenrechte wichtiger sind als nationale Souveränität. Weil dies so sein muss, darf es bei der Ausübung von Schutzverantwortung (R2P) keine nationalen Grenzen geben. Damit hatte die Kommission konzeptionell und normativ Neuland betreten. Die bis dahin existierende Vorbedingung einer nationalen Zustimmung für internationale Interventionen in innerstaatlichen Bereichen wurde für hinfällig erklärt. Der Bericht konstatierte jedoch, dass Staaten, die von internen Gefahren für menschliches Leben bedroht sind, für die Wiederherstellung menschlicher Sicherheit zunächst die Hauptverantwortung zu tragen haben.
Dieser Bericht ist weltweit mit grossem Interesse aufgenommen worden. Die Uno-Generalversammlung, der Uno-Sicherheitsrat, Generalsekretär Kofi Annan und sein Nachfolger Ban Ki-moon haben sich seit 2001 intensiv mit der Weiterentwicklung des Konzepts des Schutzes der menschlichen Sicherheit befasst. Bei den komplexen Herausforderungen unserer Zeit, wurde weiterhin erkannt, könne kein Land der Welt diese Aufgabe allein bewältigen.13 Wie aktuell dieser Hinweis ist, zeigt sich an den gegenwärtigen globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen, den sozialen Veränderungen, nicht nur im arabischen Raum, sowie den Gefahren, die von Massenvernichtungswaffen und organisierter Kriminalität im 21. Jahrhundert ausgehen.14
Uno-Generalsekretär Kofi Annan ermahnte in diesem Zusammenhang den Uno-Sicherheitsrat, dass dieser «keine Bühne ist, auf der nationale Interessen dargestellt werden. Er (der Sicherheitsrat) ist das Leitungsgremium für unser sich entwickelndes globales Sicherheitssystem.»15 In seiner Botschaft zum Uno-Jahrestag am 24. Oktober desselben Jahres forderte der Generalsekretär, dass «alle Staaten, wenigstens in Worten, ihre Verantwortung bestätigen, die Menschen vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Vergehen gegen die Menschlichkeit zu schützen».16 Sein Nachfolger, Ban Ki-moon, führte die R2P-Debatte weiter. Drei Berichte17 sind hier zu erwähnen, die in den Jahren 2009 bis 2011 von dem Uno-Generalsekretär und der Uno-Vollversammlung den Regierungen und der Öffentlichkeit vorgelegt wurden.
Die Diskussion ist breiter geworden. Sie umfasste neben normativen Überlegungen nun auch strukturelle und operationale Aspekte, wie zum Beispiel den Ausbau der Kapazitäten für internationale Hilfe bei der Durchführung von Schutzverantwortung (R2P), für schnellere Einsätze zur Verhinderung oder Unterdrückung von Genoziden und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die Einführung von Frühwarnsystemen.18 Die Rolle von regionalen und sub-regionalen Organisationen ist auch angesprochen.19
Kofi Annans Forderung an die Weltgemeinschaft, sich von der Klammer der staatlichen Souveränität zu lösen, ist nicht nur der Beweis für die Vision eines Uno-Generalsekretärs. Sie ist erneuter Hinweis, dass der weltpolitische Wandel immer wieder innovative Reaktionen auslöst, die im Interesse der Weltgemeinschaft und des Multilateralismus liegen. Beispiele aus den letzten Jahrzehnten sind die Millennium-Entwicklungsziele (MDGs), das Thema «Strukturanpassung mit menschlichem Gesicht» (structural adjustment with a human face)20, die Verbesserung von Regierungsverwaltung (governance) sowie die Forderung nach zukunftsfähiger Entwicklung (sustainable development).
Wenn es das Ziel ist, eine Staatengemeinschaft zu schaffen, die in der Tat «gemeinschaftlich» denkt, dann muss kollektive Sicherheit ein fester Bestandteil der Handlungsweise sein. Die Schutzverantwortung (R2P) ist damit sowohl eine intra- wie interstaatliche Verpflichtung. Dies wird inzwischen weitgehend anerkannt. Die Beschlüsse der Uno-Generalversammlung von 200521 sind allerdings noch nicht bindend und die erweiterte Schutzverantwortung (R2P) ist bisher kein definierter Teil des Völkerrechts.22
Im Frühjahr 2012 lautet der Stand der Dinge: Es existiert ein neues Konzept zum Schutz der Menschheit, und die Völkergemeinschaft hat ein solches akzeptiert. Es gibt Vorschläge für eine Operationalisierung, die Erkenntnis hat allerdings noch nicht zu völkerrechtlichen Reformen geführt. Das Argument, Kapitel VI und VII und besonders Artikel 51 der Uno-Charta seien zur Durchführung der kollektiven intrastaatlichen Schutzverantwortung ausreichend, hat noch keine weltweite Akzeptanz gefunden. Die Aussage der Vereinten Nationen lautet, die Frage sei nicht mehr «ob», sondern «wann» und «wie» die internationale Gemeinschaft Schutzverantwortung (R2P) anwenden soll.23 Das Misstrauen gegen die Einführung kollektiver Schutzverantwortung ist geblieben und hat sich nach dem Nato-Einsatz in Libyen verstärkt. Die Diskussion geht weiter.
Die Kluft zwischen der interstaatlichen Rhetorik auf der einen Seite und der tatsächlichen Anwendung durch Machtpolitik war immer gross. Die Folgen für menschliche Sicherheit waren dementsprechend verheerend. Die Empirie der Krisen der letzten Jahrzehnte im Nahen Osten, in Zentral- und Südasien und in Europa zeigt deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung, trotz aller Behauptungen des Gegenteils, immer zweitrangig gewesen ist. Entscheidend waren die internen und externen Eigeninteressen einzelner Uno-Mitgliedstaaten. Schutzverantwortung (R2P), wie sie auf dem Uno-Weltgipfel von 2005 vorgeschlagen worden war, ist – Irak und Libyen sind gute Beispiele – im konkreten Fall zur Schutzverantwortungslosigkeit geworden. Der Versuch der Anwendung von Schutzverantwortung (R2P) im Falle Libyens ist gescheitert und macht deutlich, warum das internationale R2P-Misstrauen so gross geblieben ist.
Der Uno-Sicherheitsrat entschied im Frühjahr 2011, dass die Regierung in Tripolis ihrer internen Schutzverantwortung nicht nachkam und ausserdem eine Gefahr für die internationale Gemeinschaft darstellte.24 Resolution 1973 wurde verabschiedet und legitimierte damit den internationalen Einsatz militärischer Mittel. Im einzelnen forderte die Resolution unter anderem: i) ein Flugverbot im libyschen Luftraum mit Ausnahme von Hilfsflügen; ii) das Verbot von ausländischen Truppen auf libyschem Boden; iii) ein Waffenembargo; iv) das Einfrieren des Vermögens der Regierung. Ausserdem ermächtigte die Resolution 1973, auf nationaler und regionaler Ebene, «alle Massnahmen zu ergreifen», um die Einhaltung des Flugverbots zu gewährleisten.25
Die «Operation Unified Protector» («Unternehmen Geeinter Schützer»), der sogenannte R2P-Einsatz von 5 der 28 Nato-Länder, Katars, Jordaniens und der Vereinigten Arabischen Emirate, ist vorbei. Es sollte um Schutz der libyschen Bevölkerung gehen, ging aber um einen Regimewechsel. Das Waffenembargo betraf das Militär der Regierung. Die Milizen der Opposition wurden mit Waffen ausgerüstet. Die Söldner der Regierung waren verboten, Militär und Mitglieder von Spezialeinheiten (in Zivil) aus der Nato und anderen Ländern waren zugelassen und nahmen auf seiten der oppositionellen Kräfte teil. Nato-Flugzeuge bekämpften Regierungstruppen und unterstützten den Widerstand. Die ausländischen Konten der Regierung waren eingefroren, oppositionellen Kräften flossen Gelder aus dem Ausland zu.
Die Nato beurteilt dies anders und kommt zu dem Schluss, dass das Uno-Mandat in jeder Hinsicht eingehalten wurde. Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon stimmt dieser Beurteilung zu: «Die militärischen Handlungen der Nato haben sich strikt an die Resolution 1973 des Uno-Sicherheitsrats gehalten.»26 Solche Fehldarstellungen sind beunruhigend und geben schwer zu denken.
Indem der Uno-Sicherheitsrat Mitgliedstaaten autorisierte, in der libyschen Krise «alle notwendigen Mittel zu ergreifen», entliess er sich selber aus der Verantwortung, sicherzustellen, dass die Resolutionsbedingungen eingehalten wurden. Ein solch verantwortungsloses Vorgehen des Uno-Sicherheitsrats hat es bisher in der Geschichte der Uno nicht gegeben. In London, Paris und Washington, ebenso an der Nato-Zentrale in Brüssel, wird von dem «grossen Erfolg» des R2P-Einsatzes in Libyen gesprochen. Wenn damit die Entfernung der Regierung Gaddafis gemeint ist, hat der Hinweis auf Erfolg Berechtigung. Das war aber nicht das erklärte Ziel der Resolution 1973. Der R2P-Versuch in Libyen ist kläglich gescheitert. Zusätzlich muss hier darauf verwiesen werden, dass, ähnlich wie im Irak und in Afghanistan, erst im Laufe des militärischen Einsatzes von den Regierungen, die an diesem Unternehmen teilgenommen haben, erkannt wurde, welchen oppositionellen Gruppen im «National Transitional Council of Libya», der Übergangsbehörde des Landes, Schutzverantwortung zuteil wurde.
Die verfehlte R2P-Anwendung in Libyen bedeutet einen erheblichen Rückschlag für die internationale Schutzverantwortungs-Diskussion. Das neue R2P-Konzept wird nun für lange Zeit nicht angewandt werden. Die Syrien-Debatte im Uno-Sicherheitsrat am 31. Januar hat dies deutlich gemacht. Der Aussenminister Russlands, Serge Lawrov, betonte am 4. Februar auf der 48. Münchner Sicherheitskonferenz27, dass die russische Regierung die Initiative der Arabischen Liga für eine Lösung des Syrien-Konflikts voll unterstützt. Er sagte weiterhin, dass «ein Regimewechsel aber keine Angelegenheit des Uno-Sicherheitsrats sein kann». Wenige Stunden später, während die Konsultationen zu einem Resolutionstext für den Syrien-Konflikt weiterliefen, entschied sich der Präsident des Uno-Sicherheitsrats kurzfristig für eine Abstimmung – eine Überraschung für Russland und China. Sie reagierten auf diese mit Ärger und Veto des Resolutionsentwurfs.
Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die Existenz einer Norm wie Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) nicht impliziert, dass sich dadurch automatisch eine normative Anwendung ergibt. Misstrauen wird sich erst dann in Vertrauen zur Teilnahme ändern, wenn mit dem Begriff «Schutzverantwortung» auch der Begriff «Rechenschaftsverpflichtung» verbunden wird. Der erste Schritt, die Norm «Schutzverantwortung» in das Uno-Charta-Recht einzufügen, muss noch getan werden. Dies wird viel Zeit kosten. «Verpflichtende Rechenschaft» (accountability) für internationale politische Entscheidungen muss das nächste Ziel sein. Es darf nicht sein, dass im Uno-Sicherheitsrat lebenswichtige Entscheidungen (siehe Irak und Libyen) getroffen werden, für deren Folgen niemand zur Verantwortung gezogen wird. •
Quelle: International, 1/2012
1 Zum Beispiel Uno-Pakte für Zivile, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Frauen, Kinder, Folter, Landminen-Konventionen der Uno.
2 Uno-Charta, Kapitel 1 (1).
3 Seit den frühen 50er Jahren bis Mitte der 90er Jahre stieg die Zahl interner Konflikte steil an – siehe Tabelle «Wars 1946–2002», Department of Peace and Conflict Research, Uppsala University and International Peace Research Institute, Oslo (UN/A59/565, Seite 17) Dezember 2004.
4 Siehe Uno-Charta, Kapitel V, Artikel 24 (1).
5 Die Möglichkeit historischen Ausmasses, dass weltbeherrschende Militärallianzen dem Multilateralismus, wie er 1945 durch die Uno-Charta definiert worden war und einer Kultur des Friedens Platz machen könnte, wurde verpasst.
6 Beispiele: Asien – Burma (Karen, Kachin, Shan-Gruppen gegen Zentralregierung), Südamerika – Kolumbien (Revolutions-Streitkräfte (FARC) gegen Regierung), Afrika – Mozambik (Frelimo gegen Renamo.
7 «Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert».
8 Im Oktober 2011 ist der Uno-Generalversammlung erneut nicht gelungen eine «Konvention gegen internationalen Terrorismus» zu verabschieden.
9 Uno-Charta, Kapitel VII, Artikel 51 bestätigt das «naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung», weist aber auf die Verpflichtung hin, dass entsprechend getroffene Massnahmen dem Uno-Sicherheitsrat unverzüglich mitzuteilen sind und dieser das Monopolrecht hat, zu entscheiden, ob diese Massnahmen gerechtfertigt waren und damit von internationalem Recht legalisiert werden können.
10 Siehe Fussnote 1.
11 Siehe «The R2P: Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty», (ICISS), IDRC, Ottawa, December 2001.
12 ICISS, Seite 8.
13 Siehe auch: i) «A More Secure World: Our Shared Responsibility, Report of the UN High Panel on Threats, Challenges and Change», A/59/565, Dezember 2004, ii) 2005 World Summit Outcome Document, A/Res/60/1, Oktober 2005.
14 Siehe: A/59/565, Dezember 2004.
15 Siehe Washington Post, 11. Dezember 2006, Interview mit Uno-Generalsekretär Kofi Annan.
16 Übersetzung des Autors.
17 Siehe: i) Ban Ki-moon: «Implementing the Responsibility to Protect» (2009), ii) A/64/864: «Early Warning Assessment and the Responsibility to Protect», (17. Juli 2010), iii) A/65/877 & S/2011/393: «The Role of Regional & Subregional Arrangements in Implementing the Responsibility to Protect», (28. Juni 2011).
18 In zwei Berichten zu den Genoziden in Ruanda und Srebrenica wies der Uno-Generalsekretär Kofi Annan auf die Versäumnisse der Frühwarnsysteme hin (S/1999/1257 – 16. Dez. 1999) und (A/54/549 – 15. Nov. 1999).
19 Seit 2004 gab es einen Beraterposten für Genozid Prävention; im Jahre 2008 wurde ein zweiter Beraterposten für konzeptionelle, politische und institutionelle Entwicklung für Schutzverantwortung geschaffen.
20 Für die Weltbank war eine ökonomisch ausgerichtete Strukturanpassung nationaler Wirtschaften ausreichend. Unicef wies auf die grossen Schäden hin, die eine solche Politik in allen Entwicklungsländern hervorgerufen hatte und bestand darauf, dass nur eine Strukturanpassung durch Einbeziehung der Bedürfnisse des Menschen vertretbar sei (Unicef: «structural adjustment with a human face»).
21 Siehe World Summit Outcome, A/Res/60(1), 24. Oktober 2005.
22 Edward C. Luck, Sonderberater des Uno-Generalsekretärs für Schutzverantwortung, sieht dies anders. Siehe «Vereinte Nationen» 2/2008: «Der verantwortliche Souverän und die Schutzverantwortung. Auf dem Weg von einem Konzept zur Norm.»
23 Basic facts about the United Nations (2011), Seite 63.
24 Siehe S/Res/1973 (2011), 17. März 2011, Seite 1.
25 Siehe S/Res/1973 (2011), Seite 3, Para 8; siehe auch S/Res/688 (1991).
26 Nato The Secretary General’s Annual report 2011, Seite 8.
27 Der Autor nahm an dieser Sicherheitskonferenz
(3.–5. Februar 2012) als Beobachter teil.
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