Den Bund der Eidgenossen befestigen

Den Bund der Eidgenossen befestigen

Die innereuropäischen Kräfte vereinen, so wie es beispielhaft am Rütli geschehen ist

von Dr. phil. René Roca

In einem Artikel in Zeit-Fragen (5. Dezember 2011, Nr. 49) schreibt H.W. Gabriel über die sich anbahnenden neuen Kriege und kommt am Schluss auf die «Pflichten der ­Europäer» zu sprechen: «Die sicherheitspolitische und ökonomische Entwicklung verlangt von den politischen Entscheidungsträgern in Europa neue Weichenstellungen, um den Interessen ihrer Bevölkerung gerecht zu werden. Ein erster Schritt muss sein, die innereuropäischen Kräfte zu vereinen, so wie es beispielhaft am Rütli geschehen ist.»

Das Rütli ist für die Schweiz mehr als der mythische Ort, wo 1291 die Grundlagen für die Schweizerische Eidgenossenschaft gelegt wurden. Liest man heute den Bundesbrief, so wird klar, dass er eine ethische Dimension aufweist, die für unser Land richtungsweisend war und ist und die auch Europa kennen muss.

Rütli 1291 als Orientierung

Der Bundesbrief von 1291 war nicht eine Verfassung, welche die Innerschweizer Kantone zu einer Nation machte. Er war vielmehr eine «Landfriedensordnung», die eine ethische Tradition und politische Kultur begründete, die später für die Entwicklung der «Nation Schweiz» das entscheidende Fundament bereitstellte. Die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden besassen als Teil des deutschen Kaiserreiches bereits sogenannte «Freibriefe», das heisst, sie waren direkt der Herrschaft des Kaisers unterstellt und waren somit «reichsunmittelbar». Die Urkantone waren im Grunde mehrere Täler, die sich genossenschaftlich organisiert hatten und sich so Reichsvögte vom Hals halten konnten. Der Bundesbrief war nötig, weil die Täler einerseits untereinander Frieden stiften wollten:
«Wenn zwischen Eidgenossen Uneinigkeit entsteht, sollen die Verständigeren unter ihnen den Streit zwischen den Parteien schlichten.»
Andererseits hatte die Innerschweiz mit der Öffnung des Gotthardpasses geostrategische Bedeutung gewonnen. Mächtige Nachbarn versuchten, ihre Hand auf die politisch und wirtschaftlich wichtigen Alpenpässe zu legen. Als der deutsche Kaiser 1291 starb, waren die Eidgenossen unsicher, was der Nachfolger wirklich im Schilde führte. Deshalb erneuerten sie ihren Bund und wollten so der «Arglist der Zeit», wie es im Bundesbrief heisst, aktiv begegnen:
«Alle sollen wissen, dass die Leute von Uri, Schwyz und Nidwalden in Anbetracht der Arglist der Zeit und damit sie sich eher verteidigen können, einander mit Hilfe, Rat und Tat, mit Leib und Gut beistehen wollen, innerhalb und ausserhalb der Täler gegen jeden, der ihnen Gewalttat oder Unrecht zufügen will.»
Mit dem sogenannten «Richterartikel» stellten die Eidgenossen sicher, dass sie ihre Rechte autonom wahrnehmen konnten und die eigene Entscheidung nicht aus der Hand gaben:
«In gemeinsamem Rat haben wir auch angeordnet, dass wir keinen Richter annehmen, der sein Amt um irgendeinen Preis oder um Geld erworben hätte oder der nicht unser Landsmann wäre.»
Der Bundesbrief verfehlte seine Wirkung nicht. Bereits 1332 schloss sich dem Bündnis mit Luzern die erste Stadt an. Bis 1513 folgten zehn weitere Orte. Auf diese Weise entstand ein eigentliches «Bündnisnetz» aus Länderorten und Städten. Das Besondere daran war, dass dieser Verbund – im Gegensatz zu anderen Bündnissen in Eu­ropa – Bestand hatte und sich ausserordentlich bewährte. Entscheidend dabei war, dass die Verantwortlichen jeweils den ethischen Gehalt des «Rütli» verinnerlichten und sich damit eine eigentliche schweizerische Identität immer mehr verdichtete.

Unabhängigkeit 1648 als Grundlage der Souveränität

So auch im 17. Jahrhundert, als in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Dreissigjährige Krieg tobte, der im deutschen Reich weite Landesteile verwüstete und unglaubliches Leid über die Zivilbevölkerung brachte. Die Schweizerische Eidgenossenschaft vermochte sich einigermassen aus den Kriegswirren herauszuhalten, weil sie bereits im 16. Jahrhundert als eines der ersten Länder in Europa den Religionszwist zwischen ­Katholiken und Reformierten beilegen konnte («Kappeler Milchsuppe»). Schon damals war die alte Freundschaft stärker als der neue Glaube. Und auch jetzt mischten sich die Eidgenossen nicht in den Krieg ein und hielten an der Neutralität fest, die bereits seit der Niederlage bei Marignano 1515 zu einer Konstante der Schweizerischen Eidgenossenschaft geworden war. So blieb die Schweiz inmitten von Krieg und Elend eine Friedens­insel und konnte nach dem Dreissigjährigen Krieg – im Rahmen des Westfälischen Friedens – gestärkt und als unabhängiges Land auftreten. Die schweizerische Delegation erreichte, dass ihr Land in den westfälischen Friedensvertrag 1648 aufgenommen wurde und sich nun auch de jure vom deutschen Kaiserreich trennen konnte. Es war vor allem der Basler Bürgermeister ­Johann Rudolf Wettstein, der in seltener Weitsicht die Gunst der Stunde erkannte und zu nutzen wusste. Die Schweizerische Eidgenossenschaft erlangte damit als Staatenbund die volle Souveränität und vermochte nun mit inneren Reformen (Humanismus und Aufklärung) die Bürgerlichkeit ihrer Einwohner und die Strukturen des Staates auf der Grundlage der Gedanken des Rütli immer mehr zu stärken.

Wiener Kongress 1815 als Ausgangspunkt der immerwährenden Neutralität

Im Rahmen des Zweiten Pariser Friedens  1815, der nach Napoleons letzter Niederlage geschlossen wurde, anerkannten die europäischen Mächte die immerwährende Neutralität der Schweiz und gewährleisteten die Unverletzlichkeit ihres Territoriums. Wie der bekannte Jurist Prof. Dr. Hans-­Ulrich ­Walder immer wieder betonte, wurde dieser völkerrechtliche Vertrag nie ausser Kraft gesetzt und ist nach wie vor gültig. Für die Schweiz erreichten einige besonnene Persönlichkeiten in zähen und hartnäckigen Verhandlungen eine gute Lösung. In einer langen Tagsatzung, die vom April 1814 bis zum August 1815 dauerte, wurde aus der Schweizerischen Eidgenossenschaft nun ein Staatenbund aus 22 gleichberechtigten, souveränen Kantonen. Mit dem Bundesvertrag, der ersten selbstgegebenen gesamtschweizerischen Staatsordnung, und in Anlehnung an den Bundesbrief von 1291 legten die Verantwortlichen folgendes fest:
«Die XXII souveränen Kantone der Schweiz [es folgt die Aufzählung der Kantone] vereinigen sich durch den gegenwärtigen Bund zur Behauptung ihrer Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit gegen alle Angriffe fremder Mächte und Handhabung der Ruhe und Ordnung im Innern.»
Mit dem Bundesvertrag rettete das Land wichtige demokratische Errungenschaften (u.a. die Abschaffung der Untertanenverhältnisse) und vermochte später im kantonalen Rahmen die politischen Rechte der Bevölkerung sukzessive auszubauen. Eine eidgenössische Armee, die aus Kontingenten der Kantone zusammengesetzt war, gewährte die äussere Sicherheit.

Bundesverfassung 1848: ideale Grundlage für Föderalismus und direkte Demokratie

Die Schweiz vollzog dann 1848 die Umwandlung in einen föderalistischen Bundesstaat. Nach dem Sonderbundskrieg 1847 versöhnte die Mässigung der liberalen Sieger die konservativen Unterlegenen in kürzester Zeit mit der Niederlage. In einem der Schweiz angemessenen Föderalismus fanden die Gründungsväter einen lebensfähigen Ausgleich. Bereits 1834 hatte der Philosoph und Arzt Ignaz Paul Vital Troxler in einem seiner Artikel diese ideale Lösung als «Die eine und wahre Eidgenossenschaft» beschrieben:
«Es ergibt sich nun, dass die richtige Mitte ebensowenig der Staatenbund als der Einheitsstaat ist, sondern der Bundesstaat […]. Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Eidgenossen in ihren Gemeinden, in den Kantonen und in dem Gesamtvaterland ist das Geheimnis […]. Jeder Eidgenosse besonders und alle zusammen haben ihre besondere Eigentümlichkeit und ihre Gemeinsamkeit mit andern. Durch die erstere Eigenschaft ist er und sind sie Kantonsbürger, durch die zweite Schweizerbürger».
Aus dem früheren Bunde wurde jetzt, zum ersten Male aus freiem Willen der Schweiz selbst, ein Staat. «Die Bundesverfassung von 1848 ist eine der glücklichsten Schöpfungen der Schweizer Geschichte», sagt der renommierte Schweizer Historiker Prof. Dr. Wolfgang von Wartburg. Erst jetzt erhielt das schon jahrhundertealte Nationalgefühl politische Form. Die Verfassung sagt dies auch mit aller Deutlichkeit in der Präambel:
Die Schweiz habe die Verfassung angenommen «in der Absicht, den Bund der Eidgenossen zu befestigen».

Wolfgang von Wartburg führt dazu weiter aus:

«Die Verfassung schafft nicht etwas Neues; ebensowenig wie die Freiheitsbriefe des Mittelalters die Freiheit oder die Neutralitätsurkunde die Neutralität geschaffen haben, ebensowenig schafft die Verfassung die Eidgenossenschaft. Die Eidgenossenschaft ist eine Wirklichkeit, die vor jeder Verfassung und unabhängig von jedem Papier besteht. Die Aufgabe der Verfassung ist nur, diese Eidgenossenschaft zu ‹befestigen›.»
Die Eidgenossenschaft besteht aus den Bürgern der Schweiz, die in einem Willensakt ihre Nation befestigen können oder die Bande lockern. Diese Bande wurden in stürmischen Zeiten immer wieder gelockert, und es waren politische Entscheidungsträger gefragt, welche den Menschen wieder Zuversicht gaben und das Band befestigten. So geschehen auch während des Zweiten Weltkrieges.

Guisans Rütlirapport 1940 als Weckruf in einer schwierigen Zeit

Die Schweiz war mit ihrer Milizarmee und der immerwährenden bewaffneten Neutralität neben Deutschland das einzige Land – die Grossmächte nicht ausgenommen –, das für einen Krieg vorbereitet war. Als der Zweite Weltkrieg 1939 ausbrach und die ­politische Stimmung in der Schweiz schwankte, wirkte General Guisans «Rütlirapport» wie ein Weckruf. Für den Fall eines Angriffs auf die Schweiz hatte Guisan den «Réduitplan» entwickelt, ein Abwehrkonzept, bei welchem die Unterlegenheit an Panzern und Flugzeugen nicht allzustark ins Gewicht fiel. Guisan legte daher das Schwergewicht auf die Verteidigung des Alpenraumes («Réduit»). Das neue Konzept verkündete der General den höheren Offizieren am 25. Juli 1940 auf der Rütliwiese und demonstrierte mit diesem «Rütlirapport» den Verteidigungswillen der Schweiz und weckte den Widerstandswillen des Landes. Damit erteilte er jeglicher Anschlusspolitik an Grossmächte eine Absage und überzeugte die Offiziere, zusammen mit der schweizerischen Bevölkerung den eigenständigen Weg im Sinne des alten Rütlischwures weiter zu gehen. Markus Somm schreibt in seiner bekannten Guisan-Biographie:
«Wo sich Defätismus verbreitet hatte, herrschte nachher die Gewissheit vor, gegen die Deutschen etwas ausrichten zu können. Aus dem Opferlamm, als das sich die Schweiz zusehends gesehen hatte, war ein Igel geworden.»

Und heute?

Die Schweizerische Eidgenossenschaft erlebte in ihrer Geschichte immer wieder ­Situationen, in denen Entscheide gefragt waren, welche die Existenz der Schweiz garantierten und ihr Weiterleben sicherten. Dabei waren vorausdenkende Persönlichkeiten nötig, die konsequent dem Weg der Knechtschaft eine Absage erteilten. Auch in der heutigen Wirtschaftskrise, die bereits extreme soziale Verwerfungen produziert, ist die Absage an eine Grossmachtpolitik entscheidend. Dafür müssen wir Schweizer – ausgehend von einem gestärkten demokratisch verfassten Nationalstaat – grenzüberschreitend, wie Gabriel schreibt, die «innereuropäischen Kräfte vereinen, so wie es beispielhaft am Rütli geschehen ist.»     •

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