Welche Bedeutung hat das neue Abkommen zwischen den USA und der Islamischen Republik Afghanistan ?

Welche Bedeutung hat das neue Abkommen zwischen den USA und der Islamischen Republik Afghanistan?

von Professor Dr. Albert A. Stahel, Institut für Strategische Studien, Wädenswil

Am 2. Mai haben Barack Obama als Präsident der USA und Hamid Karzai als Präsident der Islamischen Republik Afghanistan ein Abkommen unterzeichnet, das bis 2024 gültig sein soll.1 Das Abkommen ist in acht Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt, die Präambel, wird mit der Aussage eingeleitet, dass die beiden Staaten seit 2001 Partner sind. Das Ziel dieser Partnerschaft ist «to respond to threats to international peace and security and help the Afghan people chart a secure, democratic, and prosperous future». Dieser allgemein gehaltene Satz wird mit dem Hinweis ergänzt, dass Afghanistan nun auf dem Weg zur gesicherten Selbständigkeit im Sicherheitsbereich, bezüglich Regierungstätigkeit, der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und auf der regionalen Ebene zu einer konstruktiven Partnerschaft sei.
Im November 2011 habe die traditionelle Loyal Jirga dem Abkommen zugestimmt. Warum das afghanische Parlament für die Zustimmung zum Abkommen nicht konsultiert worden ist, wird nicht erwähnt. Dafür wird sehr wortreich auf die segensreiche Bedeutung der afghanischen Verfassung, die vor neun Jahren2 in Kraft gesetzt worden ist, auf die Frauenrechte und die freie Meinungs­äusserung hingewiesen. Hervorgehoben wird die strategische Kooperation mit den USA. Ausgehend von den Beschlüssen der Konferenzen von London 2010, von Kabul und von Bonn 2011 hätten sich die USA langfristig verpflichtet, Afghanistan bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sowie der regionalen Partnerschaft weiterhin zu unterstützen.
Im zweiten Abschnitt mit dem Titel «Protecting and Promoting Shared Democratic Values» wird die Bedeutung der Verfassung noch einmal hervorgehoben. Afghanistan verpflichtet sich, die Menschenrechte und die politischen Rechte zu schützen. Die demokratischen Institutionen sind zu stärken. Diskriminierungen der Bürger müssen verhindert und die Frauenrechte bewahrt werden. Im Prinzip ist dieser zweite Abschnitt eine Wiederholung der Präambel und eigentlich überflüssig.
Der dritte Abschnitt «Advancing Long-Term Security» dürfte für die Amerikaner den Kern des Abkommens bilden. Die Präsenz der US-Truppen in Afghanistan diene seit 2001 der Bekämpfung von al-Kaida und der affiliierten Gruppen. Beide Staaten3 würden diesem Ziel zustimmen und gleichzeitig der Opfer, die die amerikanische Bevölkerung in dieser Auseinandersetzung bisher erbracht hätte, gedenken. Für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Stabilität Afghanistans wollen beide Staaten zukünftig eine engere Kooperation eingehen. Deshalb wird einerseits auf der Grundlage des Partnerschaftsabkommens über ein bilaterales Sicherheitsabkommen (Bilateral Security Agreement) verhandelt. Bei Abschluss dieses ergänzenden Abkommens (innert einem Jahr) werden die bisherigen Vereinbarungen über die Anwesenheit der US-Streitkräfte in Afghanistan sistiert. Andererseits werden die gegenwärtigen Militäroperationen bis zum Abschluss des bilateralen Sicherheitsabkommens auf der Grundlage der bisherigen Vereinbarungen weitergeführt.
Die USA erteilen Afghanistan den Status eines «Major Non-Nato Ally». Entgegen den Erwartungen des afghanischen Verteidigungsministers Wardak, der bis anhin die volle Unterstützung der USA genoss, wird Afghanistan nicht zu einem Nato-Staat werden und muss sich deshalb mit einem tieferen Status begnügen.
Die beiden Staaten unterstützen die Friedensbemühungen Afghanistans. Sie verlangen von der Gegenseite,4 dass sie ihre Beziehungen zu al-Kaida abbricht, auf Gewalt verzichtet und die afghanische Verfassung, einschliesslich des Schutzes aller Frauen und Männer, anerkennt.
Für die Aufrechterhaltung, Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte nach 2014 wollen die USA sich um die finanziellen Mittel (Funds) bemühen.5 Wer allerdings diese Mittel aufbringen soll, wird nicht erwähnt. Im Rahmen des Abkommens wird ein Ausschuss «U.S. Afghanistan Working Group on Defense and Security» gebildet. Dieser Ausschuss soll die Bedrohung gegenüber Afghanistan laufend beurteilen und Empfehlungen zuhanden der zu bildenden bilateralen Kommission (Bilateral Commission) formulieren. Die afghanischen Sicherheitskräfte sollen den Standard der Nato-Streitkräfte erreichen.6 Beide Staaten bitten die Nato-Staaten, auf der Grundlage des Gipfels von Lissabon von 2011 Afghanistan auch nach 2014 zu unterstützen.
Bis 2014 und auch in Zukunft – vorausgesetzt das bilaterale Sicherheitsabkommen (Bilateral Security Agreement) wird abgeschlossen – erhalten die US-Streitkräfte das Recht, die afghanischen Einrichtungen (Stützpunkte, Flugplätze usw.) im Kampf gegen al-Kaida und für die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte zu benützen. Dabei wird festgehalten, dass die USA keine dauernde Militärpräsenz in Afghanistan anstreben und vom afghanischen Territorium aus keine Angriffe gegen andere Staaten planen werden.
Die beiden Staaten wollen ihre Information bezüglich des Terrorismus, des Drogenhandels, der organisierten Kriminalität und der Geldwäscherei verstärkt austauschen. Offenbar war dies bis anhin nicht der Fall. Dies wirft ein eigenartiges Licht auf die bisherige Anwesenheit der US-Truppen in Afghanistan. Beide Staaten wollen auch die regionale Zusammenarbeit bei der Beseitigung der Produktion, des Handels und des Konsums von Drogen verbessern.
Im vierten Abschnitt «Reinforcing Regional Security and Cooperation» wird die regionale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus, der organisierten Kriminalität, des Drogenhandels und der Geldwäscherei interessanterweise noch einmal erwähnt. Ist dies ein Zugeständnis, dass die organisierte Kriminalität in Afghanistan sowie der Drogenhandel nach Zentralasien die wirkliche Bedrohung in Afghanistan darstellen, und nicht der Terrorismus? Wieso kommt diese Erkenntnis erst jetzt?
Der fünfte Abschnitt trägt einen für die Zukunft von Afghanistan sehr wichtigen Titel: «Social And Economic Development»! Die USA wollen ihre Verpflichtungen, die sie anlässlich der Bonner Konferenz von 2011 bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung von Afghanistan abgegeben haben, einhalten. Trotz der gegenwärtigen Budgetdefizite der USA soll Afghanistan offenbar in der Zukunft «self-sustaining» (selbstbehauptend/selbstversorgend) werden. In den folgenden Bereichen wollen die USA Afghanistan unterstützen: bei der Produktion in der Landwirtschaft, beim Aufbau des Transportsystems, beim Handel und Transit, der Wasserversorgung, der Energie-Infrastruktur, der Errichtung eines Managements für die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und beim Aufbau eines funktionsfähigen Finanzsystems. Die USA werden folgende Institutionen für die Ankurbelung privater Investitionen in Afghanistan motivieren: Overseas Private Investment Corporation, U.S. Export-Import Bank, U.S. Trade and Development Agency. Beide Staaten äussern den Wunsch, dass Afghanistan von seinen Rohstoffen selbst profitieren soll.
Im sozialen Bereich wollen beide Staaten dafür sorgen, dass der Zugang und die Qualität der Bildung, der höheren Bildung und weiterer Ausbildungsbereiche verbessert werden.
Betont wird in diesem Abschnitt auch die Bekämpfung aller Korruption. So soll Afghanistan seine Institutionen für die Bekämpfung der Korruption verstärken. Gleichzeitig soll das Land die Ratschläge der «Financial ­Action Task Asia Pacific Group (FATF/APG)» betreffend Geldwäscherei und Finanzierung des Terrorismus befolgen. Dazu ist zu bemerken, dass die Korruption in Afghanistan nicht neu ist, dass sie auf Grund der Geldschwemme durch die internationalen Hilfsorganisationen sogar noch zugenommen hat. Dagegen steht die Geldwäscherei in direktem Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität in Afghanistan, die sich erst ab 2001 gebildet hat – also nach der amerikanischen Intervention – und heute alle politischen und Sicherheitsbereiche des Landes durchdringt und kontrolliert.
Die USA wollen Afghanistan sozial und wirtschaftlich weiterhin unterstützen. Dazu wollen die USA im Sinne eines «fundraising» das Geld auf- beziehungsweise eintreiben, dies vermutlich bei Staaten, die nicht an diesem Krieg beteiligt sind. Fünfzig Prozent dieser eingetriebenen Mittel sollen nach 2012 direkt in die Staatskasse Afghanistans fliessen.7 Die durch dieses Abkommen eingesetzte «Bilateral Commission» soll das «Geschehen» periodisch überwachen. Betont wird, dass die finanziellen Mittel der Entwicklungshilfe von jetzt an unter die Aufsicht des afghanischen Staates gestellt werden sollen.8
Der sechste Abschnitt «Strengthening Afghanistan Institutions and Governance» weist auf die notwendige Verbesserung der Exekutive, Legislative und Judikative Afghanistans hin. Dazu gehört auch die Beseitigung von Parallelstrukturen wie die Provincial Reconstruction Teams (PRTs) und die District Stabilization Teams.9
Im siebten Abschnitt «Implementing Arrangements and Mechanisms» ist wieder von der Bildung verschiedener Ausschüsse die Rede, mit denen der durch dieses Abkommen ausgelöste Prozess überwacht werden soll. Die Aussenminister der beiden Staaten bzw. ihre damit beauftragten Untergebenen sollen die bilaterale Kommission präsidieren, die halbjährlich in Kabul und/oder Washington tagen soll. Das «Bilateral Security Consultative Forum» soll Teil dieser Organisation werden. Des weiteren soll ein «Joint Steering Committee» mit Arbeitsgruppen den zuständigen Ministern über den Fortschritt im Sicherheitsbereich, der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und die Verbesserungen der staatlichen Institutionen berichten.
Im achten Abschnitt «Final Provisions» wird die Dauer des Abkommens geregelt. Der Zeithorizont ist 2024, aber das Abkommen kann jederzeit einvernehmlich durch beide Staaten oder nach einer Ankündigung durch einen der beiden Staaten nach einem Jahr beendet werden.
Meine Beurteilung:
Der Entscheid der Obama-Administration steht fest: Die USA werden Ende 2014 beinahe alle ihre Streitkräfte aus Afghanistan abgezogen haben. Dafür gibt es zwei wichtige Gründe: Auf Grund des Defizits des Staatshaushaltes und des Zustandes der Volkswirtschaft können die USA diesen Krieg nicht mehr länger finanzieren. Dazu kommt noch die politische und wirtschaftliche Herausforderung durch die aufstrebende Macht China. Allzulange haben die USA den westlichen Pazifik vernachlässigt. Diese Region steht für die USA im Zentrum ihrer geopolitischen Interessen. Deshalb gilt es, die amerikanischen Streitkräfte vermehrt auf den westlichen Pazifik auszurichten und die Verbündeten und Freunde militärisch und politisch gegenüber den Ambitionen von China zu unterstützen. Daraus folgt auch, dass für die USA der geopolitische und geostrategische Wert von Afghanistan deutlich abgenommen hat.
Beim Abzug darf aber nicht der Eindruck entstehen, dass die USA den Krieg verloren haben. Deshalb ist es für die USA wichtig, dass sie und die Nato-Alliierten bis Ende 2014 ihre Militäroperationen gegen die Taliban führen können und Karzai und seine Regierung diese nicht behindern. Diese Forderung steht auch im Zentrum des Abkommens. Der Rest des Abkommens beinhaltet Versprechen, die entweder sehr vage formuliert sind oder die die USA in Zukunft gar nicht erfüllen können oder wollen. Dies betrifft vor allem die zukünftige Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte von über 300  000 Mann. Bereits heute übersteigt der finanzielle Bedarf für die Sicherheitskräfte die Möglichkeiten des Landes. Auch in Zukunft werden die Staatshaushalte der USA und der meisten europäischen Staaten defizitär bleiben. Es ist deshalb nicht vorstellbar, dass in diesen Budgets finanzielle Mittel für die afghanischen Sicherheitskräfte geplant werden könnten.
Was die gemeinsame Bekämpfung des Drogenhandels und damit die organisierte Kriminalität Afghanistans betrifft, so ist diese ein Lippenbekenntnis. Die wuchernde Kriminalität hätte man bereits vor über zehn Jahren ausrotten können.
Das Abkommen muss als fast wertlos beurteilt werden. Für die USA stellt das Abkommen ein Sammelsurium von Bekenntnissen dar, die sie spätestens nach 2014 vergessen haben werden. Erinnert sei hier an das Beispiel Süd-Vietnam mit der Vietnamisierung seiner Streitkräfte. 1975 lösten sich bei der Eroberung von Saigon durch Nord-Vietnam alle amerikanischen Versprechen in Luft auf. Für die Afghanen ist das Abkommen die harte Wirklichkeit, die für sie seit jeher galt: Sie werden wieder durch eine Schutzmacht verraten und verkauft werden.    •

Quelle: <link http: www.strategische-studien.com>www.strategische-studien.com vom 14.5.2012

1 Enduring Strategic Partnership Agreement between the United States of America and the Islamic Republic of Afghanistan, 2. Mai 2012
2 Die Verfassung ist seit neun Jahren (2003) in Kraft.
3 Im Abkommen werden die beiden Staaten als Parteien bezeichnet.
4 Diese Gegenseite, die Taliban, wird als solche im Abkommen nirgends explizit erwähnt. Die Taliban werden nur schemenhaft erwähnt.
5 Vermutlich sollen Nicht-Nato-Staaten für diese Mittel aufkommen.
6 Dies ist ein sehr anspruchsvolles Ziel, das vermutlich nie erreicht werden kann.
7 Dadurch dürfte die Korruption in Afghanistan noch mehr Auftrieb erhalten.
8 Die Korrupten im Staat könnten dank dem Zugriff auf diese Honigtöpfe noch korrupter werden.
9 Die PRTs der USA und der Nato sind bis heute als das effizienteste Mittel für den Aufbau Afghanistans beurteilt worden. Da Karzai sie nicht kontrollieren kann, sind sie ihm ein Dorn im Auge, und deshalb müssen sie beseitigt werden.

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