von Sandra Buchser
Das System Pisa (Programme for International Student Assessment) hat seit 2000 mehrere regelrechte Schockwellen ausgelöst. Dies scheint System zu haben: Wo diese standardisierten Tests zur Anwendung gebracht werden, kommen häufig angebliche gravierende Mängel der Kenntnisse von Schülerinnen und Schülern zum Vorschein. Wie Naomi Klein in ihrem Buch «Die Schockstrategie» herausgearbeitet hat, ebnen solche Schocks jeweils den Weg für tiefgreifende Umwälzungen mit weitreichenden Konsequenzen. So geschehen in der Folge von Pisa: Tausendfach wurde in den Medien die schlechte Nachricht wiederholt, unsere Kinder (und damit unser Schulsystem) hätten angeblich grundlegend versagt. Die Schockmeldung setzte die Verantwortlichen unter grossen Druck, sehr schnell etwas zu unternehmen. Entsprechend zeichneten sich die folgenden «Reformen» durch die «unbedachte und schnelle Übernahme fertiger Lösungskonzepte ohne ausreichende wissenschaftliche und öffentliche Debatte» (Langer, S. 61) aus. Doch woher kommt die Idee, unsere Schulen und Schulsysteme dem Wettbewerb auszusetzen, die so weitreichende Folgen für unsere Schüler und unser gewachsenes Schulsystem hat? Kurz zusammengefasst stammt sie aus den USA, die sie über die OECD in unsere Länder exportiert hat.
Um dies zu verstehen, soll hier ein kurzer Blick auf die Geschichte der OECD1 (Organisation for Economic Cooperation and Development, also Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) geworfen werden. Die Organisation wurde 1961 als Nachfolgerin der OEEC (Organisation for European Economic Cooperation) gegründet. Diese hatte zum Ziel, nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshall-Plan in Europa durchzusetzen. Von Anfang an kamen den USA also eine Vormachtstellung zu. Durch gezieltes Ausüben von Druck in den 1980er Jahren machte sie dann die OECD zu dem, was sie heute ist: einem hochaktiven «Akteur» im Bereich von Bildungsfragen.2 Auf Drängen der USA (unter Präsident Reagan) hat die OECD in den 1990er Jahren die standardisierten Pisa-Tests kreiert.
Wie kam es dazu? 1983 wurde der Bevölkerung der USA ein Schock, genauer: ein Bildungsschock zugefügt.3 Der Bericht «A Nation at Risk: Imperatives for Educational Reform» bescheinigte den Amerikanern einen erschreckenden Bildungsstand.4 Man sah sich nicht nur von den technologischen Entwicklungen und Fortschritten der Japaner, der Südkoreaner und der Deutschen bedroht, sondern auch von dahinterstehenden Fähigkeiten. Kenntnisse, Lernen, Information und ausgebildete Intelligenz («skilled intelligence») sei der neue Rohstoff des internationalen Handels (S. 6f.). Der Bericht verfolgt eine wirtschaftliche Stossrichtung. Das verwendete Vokabular ist aber auch militärisch geprägt. So sehen die Autoren des Berichts ihre Bildungsmisere als Ergebnis einseitiger Abrüstung («unilateral educational disarmament», S. 5) oder gar als kriegerischen Akt, wäre der Absturz von einer gegnerischen fremden Macht herbeigeführt worden («If an unfriendly foreign power had attempted to impose on America the mediocre educational performance that exists today, we might well have viewed it as an act of war», S. 5).5 Präsident Reagan erklärte die Verbesserung der Bildungsqualität zu einer «vorrangigen Aufgabe seiner Amtszeit» (Martens/Wolf, S. 165).
Die Bildungshoheit lag jedoch bei den Bundesstaaten, dem Zentralstaat fehlten also die Kompetenzen. Dem «Hindernis» des Föderalismus sollte Abhilfe geschaffen werden durch die Erzeugung von äusserem internationalen Druck. Dazu wurde die Schulqualitätsdebatte «exportiert» und über die OECD auf die internationale Ebene verlagert. Kerstin Martens, Leiterin des Sonderforschungsbereichs 597 «Staatlichkeit im Wandel» der Universiät Bremen, führte Interviews mit OECD-Mitarbeitenden durch und zeichnete diese Entwicklung genau nach:
«Mit der Verschiebung der Debatte auf die internationale Ebene hoffte die US-Regierung, Bildung leichter zu einer nationalen Angelegenheit machen zu können. Die Qualitätsdebatte sollte damit auch dazu dienen, insgesamt ihr Gewicht gegenüber den Einzelstaaten zu erhöhen: ‹Aus nationalen politischen Gründen wurde Bildung aufgebockt in die OECD (…). Dies hatte zur Folge, dass politische Entscheidungsträger unerwartet unter einen immensen Druck gerieten, Resultate vorzuweisen und Benchmarks gegenüber anderen Staaten› zu setzen.» (Martens/Wolf, S. 165)
Der erwähnte Druck sollte mit Vergleichen der Bildungssysteme auf internationaler Ebene erzeugt werden. Als Instrument war die OECD, bis dahin ein Forum für Bildungsfragen ohne eigene Initiativen, vorgesehen. Sie fasste den Auftrag, Indikatoren zu entwickeln, die einen Vergleich von den sehr unterschiedlichen Bildungssystemen der Länder ermöglichen sollten:
«Das US-Bildungsministerium drängte die OECD nachdrücklich darauf, ein Projekt zur Entwicklung international vergleichbarer Indikatoren durchzuführen. Die amerikanische Regierung hielt es also ‹aus vollständig inneramerikanischen Gründen (für) notwendig, externe Unterstützung zu finden, um die amerikanische Bildungsdebatte sozusagen zu exportieren, um deutlich zu machen, dass diese Bildungskrise kein ausschliesslich amerikanisches Problem sei›.» (Martens/Wolf, S. 165f.)
Mit Hilfe der auf diese Weise instrumentalisierten OECD konnten andere Staaten der Welt mit der Idee der «Bildungsmisere» überzogen werden: Auch sie sollten «merken», dass ihr Bildungssystem schlecht sei und ihre Kinder einen entsprechend niedrigen Lernstand hätten, ganz nach dem Motto: Wenn wir nicht gut sind, dann dürft ihr es auch nicht sein. Fazit: Mit dem «Export» des US-Bildungsnotstands auf die internationale Ebene konnten gleichzeitig zwei Ziele verfolgt werden: Er erlaubte den USA, zum einen die eigene Bildungsmisere zu kaschieren und zum anderen die Bildungspolitik sowohl der US-Bundesstaaten als auch anderer Staaten der Welt mit Hilfe der OECD an den staatlichen und demokratischen Institutionen vorbei massgeblich zu beeinflussen.
Die OECD wehrte sich anfangs gegen die Forderung der USA, Indikatoren zum Vergleich der Bildung der Länder zu entwickeln. Aus guten Gründen: «Aus Besorgnis über einen möglichen Missbrauch, ‹vermieden sie [Mitarbeiter der Bildungsabteilung, die Red.] absichtsvoll alles, was dazu beitragen könnte, Staaten zu gegenseitigen Vergleichen zu animieren›». (Martens/Wolf, S. 166) (Was mit «Missbrauch» gemeint war, wissen wir inzwischen zur Genüge.) 1987 drohten die USA sogar mit dem Austritt aus der Organisation, wenn sie sich weiterhin weigere, ihrer Forderung nachzukommen. «Die Tatsache, dass die USA wenige Jahre zuvor aus der Unesco ausgetreten6 waren, liess erwarten, ‹dass dies nicht nur ein schlechter Scherz war›». (Martens/Wolf, S. 166) Die Drohung zeigte Wirkung: 1988 nahm die OECD die Arbeit auf und startete ein erstes Indikatoren-Projekt (Ines). 1990 wurde die Idee Pisa, d.h. die flächendeckende Erhebung von Daten, geboren. Während fünf Jahren arbeiteten etwa 300 (!) internationale Wissenschaftler an der Vorbereitung der Pisa-Studie. Sie unterstanden dabei praktisch keiner Kontrolle. Ein OECD-Mitarbeiter dazu: «Die Fachleute hatten in der OECD ‹viele Freiräume (…), wesentlich mehr als in der nationalen Administration, weil es im Grunde niemanden gibt, der die Spielräume politisch eingrenzt›». (Martens/Wolf, S. 167)
1995 wurden nationale Koordinatoren ernannt, die die «Indikatorkultur» in Bildungskreisen verbreiten sollten (Langer, S. 56). Erstaunt nehmen in der Folge Fachkreise zur Kenntnis, dass die OECD-Länder Pisa trotz anfänglicher breiter Skepsis bereits 1997 absegneten. «Unter einsetzendem Peer pressure war die Idee internationaler Vergleichsstudien in nur kurzer Zeit zu einem Standard geworden, dem man sich öffentlich nicht widersetzen konnte». (Martens/Wolf, S. 167) In der Folge nahm die OECD den Regierungen «zunehmend das Heft aus der Hand».
Peer pressure als Grundlage von Entscheidungen auf staatlicher und internationaler Ebene? Warum sollte ausgerechnet ein solch antidemokratischer Vorgang die freie demokratische Weiterentwicklung des Schulwesens verdrängen? Denn laut Martens können die Leistungsmessungen durch Pisa «nicht als das Ergebnis einer funktionalen Kooperation zwischen Staaten gewertet werden, die etwa in der Absicht vorgenommen worden wäre, Ressourcen zu bündeln und gemeinsam an der Verbesserung der Bildungsqualität zu arbeiten». (Martens/Wolf, S. 168) Pisa und die Folgen seien vielmehr eine «pathologische Fehlentwicklung» (dass.) des ursprünglichen Indikatoren-Projekts.
Wenn die Autoren Pisa und die ständig wiederkommenden Messungen als «unbeabsichtigte Folgen einer versuchten Instrumentalisierung der OECD» charakterisiert (dass.), dann öffnen sie damit den daran Beteiligten einen Weg zur Umkehr – und das ist gut so. Aus ihren eigenen Nachforschungen ist jedoch klar geworden, dass erstens die Folgen absehbar waren, hätte man nur auf die kritischen Stimmen der OECD gehört. Zweitens wurde die genannte Instrumentalisierung der OECD nicht nur versucht, sondern auch durchgeführt und eine De-facto-Monopolstellung errichtet: «Die OECD nimmt heute eine uneingeschränkte Führungsrolle im Bereich der Bildungsindikatoren ein»7 (Martens/Wolf, S. 163). Diese Vormachtstellung der OECD erlaubt es den darin tonangebenden Staaten, die zu analysierenden Kompetenzen nach ihrem Gutdünken zu formulieren.
Wozu sollten diese «international vergleichbaren Standards», also der internationale Vergleich dienen? Offiziell formuliert z. B. das Pisa-Konsortium Deutschland, dass die «Auftraggeber [die teilnehmenden Staaten, d. Red.] empirisch fundiertes Steuerungswissen [erwarten]» (!) (Prenzel, zitiert nach Langer, S. 63). «Steuerungswissen»: Wer bestimmt, wohin das Schiff gesteuert werden soll? Langer formuliert es so: Es sei «den Staaten (…) gelungen, ein dauerhaftes System einzurichten, das die Bildungssysteme nach und nach zur gezielten Zuarbeit im Sinne des Erhalts der politisch-ökonomischen Vormachtstellung bringt». (S. 69) Erhaltenswert ist der momentane Schlamassel in Politik und Wirtschaft beileibe nicht. Es tut also not, in die «Entwicklung» einzugreifen. Denn sie ist ja von Menschen gemacht.
Ein grosser Teil der Reformen im Bildungsbereich wird mit den Ergebnissen der Pisa-Studien begründet. Doch Pisa gibt keine zuverlässige Auskunft über den Bildungsstand unserer Schüler. Bereits die Tatsache, dass sich die Pisa-Verantwortlichen sehr bedeckt halten (Langer, S. 62), muss hellhörig machen. Es wurden nur ganz wenige Beispiele von Tests veröffentlicht, der Test als Ganzes wurde der breiten öffentlichen, aber auch der wissenschaftlichen Debatte entzogen. Warum wird eine ehrliche und offene Diskussion der Tests verhindert? Was genau wird geprüft? Wie? Auf welchen Grundlagen? All diese Fragen werden von den Verantwortlichen nicht beantwortet. Im Gegenteil: Langer interpretiert die Verweigerungstaktik so, dass handfeste Interessen dahinterstecken, und charakterisiert das «Kommunikationsverhalten» folgendermassen: «(…) wenn man Interessen vertritt und feststehende Ziele verfolgt, dann betreibt man Werbung für ein Produkt, also ständige Wiederholung derselben, möglichst bildhafter Argumente, ohne einen Dialog anzustreben. Vermeiden von Dialog und Übergehen, Herunterspielen oder Diffamieren von Kritik erscheint solchen Akteuren als angemessen, die der Auffassung sind, dass man nicht die Frösche fragen dürfe, wenn man einen Sumpf trockenlegen wolle. Ob eine solche Politik nach Gutsherrenart wenigstens nebenbei noch eine emanzipierte Gesellschaft anstrebt, kann bezweifelt werden» (S. 66). Wir sind den genannten unehrlichen Manövern nicht ausgeliefert, verfügt doch die OECD über «keinerlei rechtlich verbindliche Instrumente, mit denen sie ihren Mitgliedstaaten Entscheidungen aufzwingen könnte» (Martens/Wolf, S. 162). Eine solche Einflussnahme ist weder ehrlich noch demokratisch legitimiert. •
Literatur:
Langer, Roman: «Warum haben die Pisa gemacht?», in: ders., «Warum tun die das?» Governanceanalysen zum Steuerungshandeln in der Schulentwicklung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2008.
Martens, Kerstin/Klaus-Dieter Wolf: «Paradoxien der Neuen Staatsräson», Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 13. Jg. (2006) Heft 2, S. 145–176.
1 Gründungsmitglieder (1961): Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, Schweiz, Türkei, Vereinigte Staaten, Grossbritannien. Später beigetreten sind: Japan, Finnland, Australien, Neuseeland, Mexiko, Tschechien, Südkorea, Ungarn, Polen, Slowakei. Seit 2010 sind auch Chile, Slowenien, Israel und Estland dabei.
2 Bekanntlich ist die EU ein ebenso aktiver Initiator von «Bildungs»offensiven. Seit 1960 ist sie – genauer die Europäische Kommission – neben den Staaten an der Arbeit der OECD beteiligt. «European Commission representatives work alongside members in the preparation of texts and participate in discussions on the OECD’s work programme and strategies, and are involved in the work of the entire organisation and its different bodies. While the European Commission’s participation goes well beyond that of an observer, it does not have the right to vote on decisions or recommendations presented before Council for adoption.» <link http: www.oecd.org pag>www.oecd.org/pag/0,3417,en_36734052_36761800_1_1_1_1_1,00.html
3 Mit welchen Zielen sei einmal dahingestellt.
4 Sehr aufschlussreiches Detail: Von Anfang an bestand der Auftrag nicht nur darin, den Bildungsstand der amerikanischen Schüler und Studenten festzustellen, sondern ihn mit demjenigen anderer führender Nationen zu vergleichen («comparing American schools and colleges with those of other advanced nations», Bericht S. 1).
5 Das Ganze klingt nach Wirtschaftskrieg …
6 Auch dies ein interessantes Detail: 1984 traten die USA, Grossbritannien und Singapur aus der Unesco aus, nachdem diese eine Resolution zur Verminderung der Abhängigkeit von den vier grossen Nachrichtenagenturen AP, UPI, AFP und Reuters verabschiedet hatte (Resolution zur neuen weltweiten Informations- und Kommunikationsordnung). Was konnten sie nur dagegen haben?
7 Auch die Fortsetzung des Zitats ist sehr aufschlussreich: «[…] und hat anderen Organisationen, die sich damit zuvor befasst haben (wie z. B. die International Association for the Evaluation of Educational Achievement, IEA), inzwischen den Rang abgelaufen. Dies zeigt sich besonders deutlich darin, dass die OECD selbst der Unesco die Weiterentwicklung des Handbuchs zur Klassifikation von Bildungssystemen (bekannt als ISCED) abgenommen hat».
Der erfahrene Diplomat Thomas Pickering, zitiert in Nye, Joseph S. Jr.: «Soft Power. The Means to Success in World Politics», New York 2004, S. 127.
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