«Dies ist übrigens auch die einzige langfristige Chance für Europa: ein Kontinent der Nationalstaaten, der seine Kräfte dort bündelt, wo es zweckmässig ist, und dort individuelle Flexibilität lässt, wo das einzelne Land dies wünscht. Die unterschiedlichen Formen der europäischen Zusammenarbeit und die gemeinsame Währung sind Instrumente der Politik. Ihnen sollte aber kein Eigenwert zugeschrieben werden, der über ihre Zweckmässigkeit hinausweist. Das wäre nämlich Ideologie und nicht Politik.»
Thilo Sarrazin:
«Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat», 2012, S. 417
«Der bedrückende Eindruck im Frühling 2012 ist: Das Projekt ‹Europäische Währungsunion› entwickelt sich nach einer Eigengesetzlichkeit, die auch die Staatenlenker und ihre Berater kaum durchschauen: Sie bestimmen nicht den Kurs, sondern reagieren bestenfalls, und Angela Merkel, deren Stimme sich genauso wie die der freundlichen Frau im Navigator meines Autos anhört, scheint auch exakt diese Funktion wahrzunehmen: Wenn ich offenbar falsch gefahren bin, höre ich für einige Zeit ‹Wenn möglich, bitte wenden›, und dann, wenn die Abweichung sich vergrössert hat, höre ich ‹Bitte links abbiegen›. Hat der Wagen das kartographierte Gelände verlassen, meldet die freundliche Stimme: ‹Das Ziel liegt in der angegebenen Richtung.› Bei meinem Auto weiss ich, dass die freundliche Stimme keinen Einfluss auf den Kurs des Wagens hat, sondern nur den Sachstand vermeldet. Ich befürchte, bei der Entwicklung der Währungsunion könnte es ähnlich sein. In einem bemerkenswerten Gespräch mit Günther Jauch sagte Angela Merkel auch recht klar, dass sie bei den Entscheidungen zum Euro quasi auf Sicht fährt, so wie die Situation des Tages es nahelegt.» (S. 21)
«Den Römischen Verträgen, die 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begründeten, lag das Konzept eines Gemeinsamen Marktes zugrunde. Dieses Konzept bedeutet, richtig durchdacht und konsequent durchgeführt, dass überall Niederlassungsfreiheit und vergleichbare Chancen im Wettbewerb herrschen. Die Mitgliedsstaaten können den Wettbewerb durch gute Bildung und Ausbildung, leistungsfähige Wissenschaft, gute Infrastruktur, verlässliche staatliche Dienstleistungen, durch eine preisgünstige, flexible und korruptionsfreie öffentliche Verwaltung beeinflussen. In der Ordnung des Gemeinsamen Marktes behalten aber alle handelnden Subjekte ihre ursprünglichen Verantwortlichkeiten, und sie haften in diesem Rahmen selbstverständlich auch für ihre Schulden, niemand anders tut das sonst. Zu diesen handelnden Subjekten zählen auch die Mitgliedsstaaten des Gemeinsamen Marktes. Auch eine gemeinsame Währung ändert an diesem Ordnungsrahmen grundsätzlich nichts und ist bei einer unabhängigen, vorrangig dem Ziel stabilen Geldwertes verpflichteten Notenbank grundsätzlich mit diesem kompatibel.
Natürlich haben alle Staaten in diesem Rahmen das Recht, Irrtümer zu begehen und z. B. mehr Schulden zu machen, als für das betreffende Gemeinwesen dienlich ist. Den Schaden haben die Bürger, die müssen sich dann eben eine andere Regierung wählen. Den Schaden haben u. U. auch die Gläubiger, wenn der betreffende Staat bei der Bedienung seiner Schulden in Schwierigkeiten gerät. Wie bei Unternehmen und privaten Schuldnern, so müssen eben die Gläubiger auch bei staatlichen Schuldnern prüfen, wem sie ihr Geld zu welchen Bedingungen anvertrauen.
Eines wird allerdings nicht funktionieren – so jedenfalls meine Eingangsthese: vernünftiges Verhalten der staatlichen Schuldner quasi zentral zu erzwingen. Erstens ist selten eindeutig feststellbar, was eigentlich vernünftig ist. Unterschiedliche Weltbilder und politische Ziele können auch Unterschiede in der Verschuldungspolitik mit sich bringen, die nicht einfach auf einer Skala «falsch und richtig» angeordnet werden können. Zweitens aber bedingt die wirksame Kontrolle des Verschuldungsverhaltens entweder eine Eingriffsintensität, die den betroffenen Staat seines souveränen Charakters beraubt, oder sie ist unwirksam.» (S. 24f.)
«Als ich 1996 mein erstes Buch über den Euro veröffentlichte, war ich zur künftigen gemeinsamen Währung noch vorsichtig optimistisch. Zwar sah ich darin keine grossen zusätzlichen Wachstumschancen und war auch eher zurückhaltend, was den weiteren Beitrag zur Integration angeht. Ich war aber der Meinung, dass es mit der gemeinsamen Währung unter drei Bedingungen gutgehen könnte:
1. Die EZB folgt dem Bundesbankmodell und enthält sich strikt jeder monetären Finanzierung der Staatsschuld.
2. Es gibt keinen gemeinsamen Bail-out für Schulden von Mitgliedsstaaten.
3. Die gemeinsame Währung führt nicht zu überdurchschnittlichen Preis- und Kostensteigerungen in den wettbewerbsschwächeren Ländern.
Alle drei Bedingungen wurden glorios verfehlt. Leider gilt, dass wir nicht mehr an den Ausgangspunkt zurückkehren können. Wir müssen da weitermachen, wo wir heute stehen. Im Verlauf dieses Buches habe ich Wert auf eine neutrale Darstellung der Fakten und Zusammenhänge gelegt. Ich habe Risiken beschrieben und deren Eintrittswahrscheinlichkeit erörtert. Prognosen habe ich vermieden, denn wir haben es mit politischen Prozessen zu tun, die grundsätzlich jederzeit offen sind.» (S. 410f.) •
Auszüge aus: Thilo Sarrazin, «Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat», DVA 2012, ISBN 978-3-421-04562-1. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors
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