von Dr. phil. René Roca
Am 21. und 22. Juni 2012 fand in Aarau im Grossratssaal eine öffentliche Demokratiekonferenz statt. «Gegenseitige Blicke über die Grenze: Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie in Deutschland und der Schweiz» war der offizielle Titel. Als verantwortliche Organisatoren zeichneten die Landesregierung von Baden-Württemberg und der Regierungsrat des Kantons Aargau. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit sollten die Universität Konstanz und das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) sichern. Wieso eine solche Konferenz, ein solches Konstrukt? Dazu heisst es in der dürren Programmbroschüre unter dem Titel «Hintergrund»:
«Am 27. November 2011 entschied die Bevölkerung von Baden-Württemberg über die Zukunft des Bahnhofs in Stuttgart (Stuttgart 21). Diese Abstimmung hat der Diskussion über Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie in Deutschland neue Impulse verliehen und das Interesse an der direkten Demokratie in der Schweiz belebt. Die Regierung von Baden-Württemberg hat das klare Ziel, die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Unter anderem möchte sie die formalen Hürden bei den Volksrechten abbauen.»
Dass ausgerechnet das Beispiel von Stuttgart 21 als Begründung für ein neu entfachtes Interesse an direkter Demokratie angeführt wird, muss den kritischen Zeitgenossen skeptisch stimmen. Stuttgart 21 hat wenig bis gar nichts mit direkter Demokratie zu tun. Aber vielleicht genügt in Baden-Württemberg allein die Tatsache, dass die neue rot-grüne Regierung ein Plebiszit gewährte, um dann von «neuen Impulsen» zu reden. Doch bleiben wir noch ein wenig beim erwähnten «Hintergrundtext» der Broschüre.
Der Kanton Aargau, so die Broschüre weiter, habe sich in den vergangenen Jahren gerade auch in Fragen der Demokratieentwicklung hervorgetan und mit dem ZDA befinde sich ein wichtiges Forschungszentrum der direkten Demokratie im Kanton Aargau. Am 31. August 2011 hätten Ministerpräsident Winfried Kretschmann und der Aargauer Regierungsrat deshalb vereinbart, in Aarau eine gemeinsame Konferenz zu «Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie» durchzuführen.
Tatsächlich hat die neue Regierungsmannschaft in Baden-Württemberg in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die Bürgerbeteiligung zu stärken. Dass man in diesem Zusammenhang die Schweizer nach ihren Erfahrungen fragen will, ist schön und gut. Die Frage ist immer, ob das Interesse wirklich ernst gemeint ist, ob die Interessierten echte Fragen stellen und auch zuhören können. Wenn nicht, gibt es neben dem in einen Text gefassten «Hintergrund» noch einen weiteren, tiefergehenden «Hintergrund», den auszuleuchten sich lohnt.
Die Politik war besonders hinsichtlich der kantonalen und Landesebene prominent vertreten, und die Botschafter der beiden Länder verliehen der Konferenz eine gewisse diplomatische Note. Die Wissenschaftler, die zu einem Referat eingeladen wurden, waren zwei Juristen und neun Politikwissenschafter. Die vier Themenblöcke «Repräsentation und Legitimation bei Bürgerbeteiligung», «Quoren und Stimmbeteiligung bei direkt-demokratischen Instrumenten», «Die Rolle der Regierung im Vorfeld eines Volksentscheids» und «Informelle Bürgerbeteiligung vor und nach einem Volksentscheid» sorgten für einen eher trockenen Rahmen sowie für meistens langfädig komplizierte, um Wissenschaftlichkeit bemühte Ausführungen. Daran änderten auch die eingeschobenen «Ateliers» – eine offenbar moderne Art von Arbeitsgruppen, wo man sich ausplaudern kann – und die künstlich inszenierten «Debatten im Grossratssaal» nichts. Was fehlte und sträflich vernachlässigte wurde, ist die historische Dimension, der historische Bezug. Ohne Geschichtsbewusstsein und historisches Denken lassen sich aber demokratische Prozesse nicht verstehen und schon gar nicht zwischen zwei Ländern oder Landesteilen vergleichen. Direkte Demokratie ist nicht einfach ein Instrumentarium, das man einführen und wieder abschaffen kann. Sie muss immer von unten wachsen und darf nie von oben verordnet werden. Der politische Druck von unten – ausgehend von einer breit abgestützten Volksbewegung – bewirkte für die Schweiz einen Machtverzicht von oben. Aus diesem historischen Prozess entwickelte sich eine völlig andere politische Kultur. Diese ist Ausdruck einer echten Volkssouveränität und besitzt als Grundlage ein personales Menschenbild, das unabdingbar für Menschenrechte und Demokratie ist. Die politischen Repräsentanten und die Verwaltung im direktdemokratischen System – von einer politischen Elite kann eigentlich keine Rede mehr sein – haben auf allen politischen Ebenen jederzeit mit direkten Vorstössen aus der Bevölkerung zu rechnen. Das heisst konkret, dass die politische Agenda von der Bevölkerung bestimmt wird und eben nicht durch politische Absprachegremien. Das ist die historische Erfahrung der Schweiz, die sie seit 1291 zu einem fein austarierten politischen System führte. Über diese Erfahrungen – gute wie schlechte – tauschen wir Schweizer uns gerne aus, wenn uns ein ehrliches Interesse entgegengebracht wird.
Einzig im Rahmen der Abendveranstaltung gab es ein historisches Blitzlicht. Die grüne aargauische Regierungsrätin Susanne Hochuli versuchte bei ihrer Begrüssungsansprache im gediegenen Rittersaal des Schlosses Lenzburg, einen historischen Bezug zwischen Baden-Württemberg und dem Aargau herzustellen. Beide hätten ja vor langer Zeit einmal zu habsburgischem Gebiet gehört, woraus die Regierungsrätin eine weitere Gemeinsamkeit konstruierte. Sie vergass leider zu erwähnen, dass die schweizerische Eidgenossenschaft nur Bestand hatte und sich mit einem Bündnisnetz ausweiten konnte, weil es gelang, den habsburgischen Adel zu vertreiben, und dazu gehört auch 1415 die Eroberung des Aargaus. Aber vielleicht hat ja Regierungsrätin Hochuli zu intensiv in neueren historischen Publikationen zu den Habsburgern in der Schweiz gestöbert. Dort werden die Habsburger nämlich plötzlich zu den netten Nachbarn, die den Schweizer Bauernlümmeln etwas adelige Kultur beigebracht haben sollen. Der Leser solcher Publikationen findet darin nur Weniges über das Werden der Schweiz, über bereits frühe geostrategische Interessen, über Alpenpässe, das Wasserschloss und so manches mehr …
Ministerpräsident Kretschmann genoss offensichtlich die warmen Worte der Regierungsrätin und antwortete mit einer eigenen kurzen Predigt. Er war mit seinem Limousinentross gut bewacht auf Schloss Lenzburg gereist und ging dann gleich wieder von dannen. Für die Konferenz fehle ihm leider die Zeit, er habe dringenden politischen Geschäften nachzugehen …
Die neue Regierung von Baden-Württemberg spricht beim Thema der «Bürgerbeteiligung», das sie nun besetzen und intensiv bearbeiten will, von einem eigentlichen «Paradigmawechsel». Wie Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, ausführte, wolle man, um diesen Wechsel voranzutreiben, informelle Gremien, so zum Beispiel «Zukunftswerkstätten», institutionalisieren. Dabei sei es wichtig, vorerst den Fokus auf die kommunale und die Landesebene zu legen. Der kritische Zuhörer wird dabei den Eindruck nicht los, dass es dabei nicht wirklich um einen demokratischen Prozess von unten nach oben gehen soll, sondern vielmehr um einen Manipulationsprozess von oben. Erler führte denn auch am Schluss der Konferenz vielsagend aus, dass wie im Zeitalter der Aufklärung eben vieles von oben kommen müsse und erst dann das Volk entscheiden soll. Auch hier wäre eine Geschichtslektion zur europäischen Aufklärung fällig, denn wenn die politische Elite nicht wirklich den Machtverzicht übt, kann von direkter Demokratie keine Rede sein. Machtverzicht und Machtteilung waren ja gerade Hauptthemen der europäischen Aufklärung.
Weiter ist bei der direkten Demokratie die Tatsache wichtig, dass das Volk am Schluss einer politischen Debatte wirklich entscheiden kann. In der Schweiz ist es üblich, dass am Schluss einer längeren oder kürzeren öffentlichen Auseinandersetzung eine zwingende Abstimmung durchgeführt werden muss, egal was Regierung, Parlament und Parteien dazu sagen. Auch wenn dieser Punkt an der Konferenz diskutiert wurde, so wurde klar, dass die neue Regierung in Baden-Württemberg so etwas nicht will. Sie will ihre Macht nachhaltig zementieren, spricht praktisch nie von «direkter Demokratie», sondern mehr von «informeller Bürgerbeteiligung». Sie besetzt bis jetzt erfolgreich dieses Thema und versucht über informelle Gremien wie eben «Zukunftswerkstätten», die Opposition im eigenen Lande zu paralysieren. Dies ist nichts anderes als Machtsicherung und -ausbau im machiavellistischen Sinn.
Einzig Prof. Dr. Werner Patzelt (Technische Universität Dresden) sprach das Problem der EU an und die oft fehlende politische Bildung der jüngeren Generation. Zwei Themen, die es verdient hätten, vertiefter behandelt zu werden, doch sie verhallten im ehrwürdigen Grossratsgebäude. Gerade beim Thema Bildung gehören die Pläne der neuen Regierung in Baden-Württemberg, im ganzen Bundesland flächendeckend sogenannte «Gemeinschaftsschulen» einzurichten, auf den Tisch. Dieses Vorhaben wird – wenn es denn tatsächlich durchgesetzt wird – das Bildungsniveau weiter senken. Dabei wäre gute schulische Bildung im humanistischen Sinn ein unverzichtbares Gut, um ein demokratisches System zu gestalten und weiterzuentwickeln. Ansonsten wird man eben anfällig für Manipulationen von oben. Aber das ist ja vielleicht gewollt …
Auffallend bei der Lektüre der Teilnehmerliste ist, dass neben der aargauischen kantonalen Verwaltungen auch aus anderen Kantonen an die Konferenz eingeladen wurden. Dabei handelte es sich ausnehmend um Stabsstellen, die sich der «Aussenbeziehungen» der Kantone annehmen. «Aussenpolitik» ist eigentlich eine Domäne des Bundes. Aber in letzter Zeit betreiben die schweizerischen Kantone immer mehr Aussenpolitik. Zentral dabei ist die «Konferenz der Kantonsregierungen» (KdK), deren stellvertretender Generalsekretär auch Konferenzteilnehmer war. Die Schaltstelle der KdK ist das «Haus der Kantone» in Bern. Ziel der KdK ist, die schweizerischen Kantone näher an die EU zu führen und über sogenannte «Metropolitanräume» den Nationalstaat zu unterminieren. Vertreter von diversen solchen «Gebilden» waren anwesend: Hochrheinkommission, Oberrheinkonferenz, Regio Basilensis. Das «Europa der Regionen» lässt grüssen. Ein wichtiger «Hebel» für die KdK ist auch, den schweizerischen Föderalismus «weiterzuentwickeln». All das geschieht allerdings ohne Anbindung an die jeweilige kantonale Bevölkerung. Die Bevölkerung wird nicht gefragt, und es wird munter drauflosgeplant. So glich die Demokratiekonferenz zeitweise eher einer «Zukunftswerkstatt» für eine neue europäische Region als einem Forum, wo die Beteiligten sich überlegen, wie wir in Zukunft die Demokratie stärken können.
Die Schweiz muss in Zukunft unbedingt selbstbewusster ihr demokratisches Modell vertreten. Sie darf sich auf keinen Fall für politische Machtspiele missbrauchen lassen. Die kantonalen Regierungen und Verwaltungen müssen zu einer seriösen föderalistischen Politik im subsidiären Sinn zurückfinden. Der Souverän bleibt dabei immer die Bevölkerung, der die politische Agenda offengelegt werden muss. Aber auch die Wissenschaft darf sich nicht in Geiselhaft nehmen lassen und die Unabhängigkeit der Forschung quasi für ein Butterbrot verkaufen. Das demokratische Modell der Schweiz ist mit allen Interessierten offen zu diskutieren. So könnte ein echter Dialog mit wissenschaftlichem Hintergrund über die Grenzen hinweg entstehen und dieser müsste sich nicht «auf gegenseitige Blicke» beschränken, ohne dass man weiss, welches die tatsächlichen Ziele sind. •
«Der ehemalige Anhänger der direkten Demokratie spricht heute von ‹démocratie directe encadrée› (einem Kader unterstellte direkte Demokratie): ‹Ich bin für eine direkte Demokratie, die von einer Verfassung umrahmt wird, die nicht erlaubt, über alles mögliche abzustimmen […]. Die Schweiz darf sich nicht durch diesen Volksentscheid bis ans Ende aller Zeiten die Hände binden lassen.›
Derjenige, der von sich behauptete, weder Gott noch Herr zu haben, und für den die Proletarier kein Vaterland hatten, ist ein überzeugter Atlantiker geworden, ein fanatischer Kriegstreiber, ein Europa-Beseelter, der wütend wird, wenn das Volk es wagt, anders zu wählen oder abzustimmen, als die selbsternannten Eliten es verlangen.»
Quelle: Paul Ariès, Florence Leray. Cohn-Bendit, L’imposture, S. 38f. (Übersetzung Zeit-Fragen)
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