«Ihr schwebt über dem Abgrund»

«Ihr schwebt über dem Abgrund»

Die Walliser Terrassenlandschaften. Entstehung – Entwicklung – Wahrnehmung

von Dr. Dr. h. c. Raimund Rodewald, Geschäftsleiter Stiftung für Landschaftsschutz

ab. In seiner Studie über die Terrassenlandschaften im Wallis würdigt Raimund Rodewald in bewegender Weise die Leistung unserer Vorfahren und bringt diese dem Leser zugleich auf ganzheitliche und systematisch gründliche Art nahe.
Zeit-Fragen freut sich, ihren Lesern zunächst die Einleitung und ein Kapitel aus dieser Studie vorzustellen. In loser Folge werden Beispiele aus dem Buch vorgestellt, wie die Terrassen revitalisiert und verschiedenartig genutzt werden.

Ihr Anblick verrät unverwechselbar das Wallis: Die imposanten, von Trockenmauern durchsetzten Rebberge im Rhonetal beeindruckten früher wie heute die Reisenden, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Sind sie zwischen Brig und Visp mit Ausnahme der ausgedehnten Rebterrassen von Visperterminen nur als vereinzelte Stufen innerhalb eines kulturlandschaftlichen Geflechts vornehmlich an der Lötschberg-Südrampe erkennbar, so nehmen sie ab Leuk und vor allem zwischen Siders und Martigny gross­artige Dimensionen an und weiten sich zu einem geschlossenen, kompakten und überwältigenden Ganzen aus. Viel weniger bekannt und beachtet sind die ebenso eindrücklichen Ackerterrassen, die sich weit bis ins Goms und Lötschental hineinziehen und praktisch in sämtlichen Seitentälern des Wallis zu finden waren. Sie reichen von Kleinst­äckern mit niederen Erdböschungen bis zu den ausgedehnten terrassierten Kornkammern an den Leuker Sonnenbergen, in Isérables bis ins Entremont und steigen bis über 1800 m über Meer.
Wir kennen diese menschgestaltete Landschaft auch in den Anden, wo Ackerbauterrassen bis auf 4000 m hinaufreichen. Dann die Sorghum-Terrassen im nördlichen Jemen, vor allem die grünen Reisterrassen auf den Philippinen, in China, Bali oder im Kaschmirgebirge. Einen Hauch Exotik und uralter Kulturen vermitteln auch die terrassierten Berghänge in der Schweiz, besonders im Wallis. Was im waadtländischen Lavaux zum Prädikat «Unesco-Weltkulturerbe» führte und durch die Lieblichkeit des Sees «zivilisiert» erscheint, mutet im Wallis durch die Steilheit des Geländes und vor dem Hintergrund des Hochgebirges expressiver an.
Lösen die Terrassenlandschaften heute bei den meisten Menschen Gefühle der Faszination und Begeisterung aus, so war dies in früheren Zeiten keineswegs immer der Fall. Beschreibungen und Abbildungen dieser Landschaftsbauwerke finden sich relativ spät in schriftlichen Quellen und in der Malerei in Europa, obwohl in der italienischen Renaissance terrassierte Landschaften allerdings noch häufig auf Fresken und Gemälden abgebildet wurden. Später scheinen diese Landschaftsformen als nicht pittoresk bewertet und «übersehen» oder bewusst vernachlässigt worden zu sein. Ihre Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert ist aber wiederum zu einem guten Teil den Künstlern, Literaten und Malern zu verdanken. So ist die öffentliche Wertschätzung im Wallis vor allem mit dem Namen Charles Ferdinand Ramuz verbunden.
Die Geschichte der Wahrnehmung der Terrassenlandschaften im Wallis ist eng mit der Geschichte des Begriffes des landschaftlich Schönen verbunden. Dennoch kontrastiert die heute hohe Wertschätzung des Landschaftsschutzes mit dem vielerorts zunehmenden Zerfall und der Entwertung der Terrassenlandschaften. So wurden ehemalige Trockenmauern und Hangstufen durch Rebbergmeliorationen ausnivelliert, Mauerböschungen schleichend durch Betonmauern ersetzt, Strassen gebaut, ungenutzte Lebensräume überschüttet oder gar die Hänge als Bauzonen ausgeschieden. Auf der anderen Seite gingen viele terrassierte Ackerbaugebiete vergessen und verbuschen zusehends. Erst ein Wiedererkennen der ästhetischen, ökologischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung der Terrassenlandschaften eröffnet den Weg zu deren wirksamem Schutz.
Die terrassierten Landschaften scheinen wie von Künstlerhand geschaffen und bezaubern mich gerade deshalb immer wieder. Sie versetzen mich in eine andere Zeit. Die stufig aus der Rhonetalebene empor klimmenden Rebterrassen von Chamoson oder die hochgelegenen Heida-Terrassen von Visperterminen im Abendlicht erinnern an Fotos innerasiatischer Bergtäler. Die ehemaligen Ackerterrassen von Albinen, die in wellenartigen Bewegungen den Hang formen, sind Skulpturen gleich. Die in der Landschaftsformung erkennbare Geschichte des früheren Kampfes um den bewirtschaftbaren Boden als Ernährungsgrundlage für den Menschen lässt mich meine eigenen existenziellen Bedürfnisse erahnen; die Entfernung unserer Lebenswelt von der früheren bäuerlichen Gesellschaft hüllt diese mythenumwobenen Landschaften in ein Netz voller Geheimnisse.
Terrassenlandschaften sind im hohen Masse sinnliche Animationsräume. Der Waadtländer Lyriker Philippe Jaccottet umschreibt diese Faszination, die er in der südfranzösischen Drôme erlebte: «Dieses Land ist ein Land der Mauern. […] und zwischen den Feldern, die Wege entlang, um die Anwesen herum, gibt es immer noch zahlreiche dieser Mäuerchen aus geschichteten Steinen, deren Gestalt, je nach dem, was man an Ort und Stelle fand, verschieden ist. […] ihre Schönheit auch blieb für mich sehr geheimnisvoll, und ich weiss, wenn ich mich länger bemüht hätte, sie näher zu bestimmen, wäre ich aufs neue dahingelangt, sie in die Nähe der Opfersteine, und der Götter, zu rücken: als ob es dies wäre, worauf wir unweigerlich stossen, wenn wir hinabsteigen; nicht nur zurück zu den Anfängen unserer Geschichte, sondern zu dem, was als tragendes Mauerwerk sich tief unter unserem Denken und unseren Träumen hinzieht; als das, was gewissermassen nicht aufhört, unser Leben zu bestimmen.»1 Lässt sich die Wirkung der Terrassenlandschaften überhaupt fassen? Liegt die Anziehungskraft dieses Stufentheaters vielleicht darin, dass es sich uns in seiner strukturellen Einfachheit einerseits und seiner komplexen Ausformung andererseits immer wieder entzieht?
Und doch sind diese Landschaften für die Einheimischen, die in und vor ihr leben, sehr greifbar, real und aktuell, gleichzeitig aber auch voller persönlicher ästhetischer Erfahrungen. Ich begab mich daher im Mai und Juni 2010 auf die Suche nach Frauen und Männern, die diese Terrassenlandschaften im Wallis prägten und auch von ihnen geprägt wurden, sei es auf Grund ihrer Arbeit als Landwirte, sei es dank ihrer Erinnerungen. Entstanden sind daraus zwölf Porträts von Menschen, die mir ihre Beziehung zu ihrer Landschaft anvertrauten und sich von Giro Annen am Ort ihres mitunter jahrzehntelangen Arbeitens in den Terrassenhängen mit einer Hasselblad-Kamera fotografieren liessen.
Möge diese Wahrnehmungsgeschichte dazu beitragen, dem Vergessen entgegenzuwirken und die Sensibilisierung für Schutz und Pflege dieser «Paysages de mémoire» zu fördern. Lassen Sie sich verzaubern von den Schönheiten der Walliser Terrassenlandschaften und helfen Sie mit, diese gefährdeten Zeugnisse der europäischen Landschaftsgeschichte zu erhalten!    •

1 Jaccottet, Philippe. 1992. Landschaften mit abwesenden Figuren, Stuttgart, S. 19f.

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