Libanon – ein Aufmarschgebiet für den Krieg in Syrien

Libanon – ein Aufmarschgebiet für den Krieg in Syrie

Beirut, 5. Juli 2012

zf./ga. In den letzten Wochen ist der Syrien-Konflikt zu einem Krieg eskaliert. Ein globaler Krieg ist wahrscheinlicher geworden. Von einem Krieg im Interesse der Menschen und ihrer Rechte kann nicht gesprochen werden.
Die Hintergründe, der aktuelle Stand und die Perspektiven sollen aus Sicht des Nachbarlandes Libanon beleuchtet werden.
In Syrien tobt die vierte Stufe nahöstlicher Kriegsabenteuer: Irak–Iran-Krieg (1980– 1988), zwei Kriege gegen Irak (1991 und 2003) und der Krieg Israel gegen Libanon (2006). Die Kriege in Afghanistan, Libyen und Serbien runden das Bild im erweiterten Zirkel postkolonialer Interessen ab.
Alle diese Kriege sind von der westlichen Welt und ihren Stellvertretern begonnen worden. Die Zahl der Toten überschreitet bei weitem den Millionenbereich.
Rechtfertigungen für Kriege wie Beseitigung von Massenvernichtungswaffen, Kampf gegen Terror und Schutz von Menschenrechten sind weder durch das Prinzip der Verhältnismässigkeit noch durch eine internationale Charta geschweige denn durch christliche Grundsätze gedeckt.
Wer die Verhältnismässigkeit des Mittel­einsatzes vergisst und Kriegsgründe vortäuscht, handelt bösartig und kriminell.
Darf sich der Westen überhaupt noch «christlich» nennen, wenn seine Regierungen in wichtigen Feldern der Politik permanent Grundgesetz und Gebote brechen? «Du darfst nicht lügen, nicht stehlen, nicht töten» ist selbst in politischen Parteien mit einem «C» in Vergessenheit geraten. Heute führt man verdeckte Kriege mit Computern, Drohnen, Partisanen und den Medien – immer unter dem Mantel aufopfernder Humanität.
Das multikonfessionelle Libanon wird nun wieder zur Unterstützung ausländischer Kriegsinteressen in Syrien missbraucht. Nach den Freiheitsbewegungen (Arabischer Frühling) in Tunesien, Libyen, Bahrein und Ägypten fühlten sich die Libanesen – sehr ungewohnt – ausserhalb des zentralen politischen Interesses.
Mit dem Anwachsen des Krieges an ihrer Nordgrenze zu Syrien stehen sie plötzlich wieder in einem gefährlichen Spannungszentrum.

Der libanesische Norden

Der Norden, beginnend ab Tripoli über das Aakaargebirge bis hin zur syrischen Grenze, hat sich zu einem Ausnahmegebiet entwickelt, welches nicht mehr von der regulären libanesischen Armee kontolliert wird.
Über dieses Gebiet gelangen nach zuverlässigen Informationen die mittels Schiff und Luftfracht (Flugplatz Koleyat) angelandeten grossen Anteile der Waffen für die in Syrien kämpfenden «Menschenrechts»-Gruppen (welche nicht unerwartet die meisten westlichen Medien beherrschen). Die türkischen und irakischen Grenzen sollen ebenfalls eine gewisse Permeabilität haben.
Über die jordanische Grenze liegen noch keine verwertbaren Erkenntnisse vor.

Die Akteure im libanesischen Norden

Hier leben überwiegend sunnitische Fundamentalisten (zum Beispiel Salafisten), welche der wahhabitischen/saudischen Glaubensrichtung entstammen. Sie werden auch aus der entsprechenden Region finanziert.
Al-Kaida ist praktisch nur eine Aktionsgruppe aus der wahhabitisch / salafistischen Gemeinschaft. Diese Salafisten praktizieren, wie die Taliban, einen von früheren Generationen gelebten Islam. Die Salafisten werden seit 2007 zunehmend von Palästinensern unterstützt, die ihren menschenunwürdigen Lagern entkommen wollen. Offen heben die Salafisten in Gesprächen die Berechtigung hervor, eine sunnitisch geführte Regierung in Syrien errichten zu müssen. Die zu 70% sunnitische Bevölkerung müsse sich nicht von 7% Assad-Alawiten beherrschen lassen.
Auf Vergleiche mit Bahrein – dort hatten sunnitische/saudische Panzer die mehrheit­lich schiitische Opposition niedergewalzt –, wird mit tiefer Abwertung der Schiiten reagiert. Der Hinweis, wonach die sunnitische Mehrheit in Syrien (nach Befragung) gar keinen fundamentalistisch orientierten Staat wünsche, wurde nicht kommentiert. Solch ein Hinweis führt häufig zum Abbruch von Gesprächen.
Westliche Söldner sollen in respektabler Zahl und mit besonderer Qualifikation die Aktivisten beiderseits der Grenze unterstützen. Entlarvt eine derartige Koalition den West-Krieg gegen den Terror nicht als opportunistisches Gespinst?
Der Friedenssicherung im Norden des Libanon steht gleiches Gewicht zu wie im Süden. Warum verhindern nicht die schon lokal tätigen Uno-Blauhelme den Waffentransfer über Libanon nach Syrien?
Warum reagiert die Uno nicht auf Namen und Herkunft der in Libanon und in Syrien in Gefangenschaft geratenen West-Söldner?

Der libanesische Aktionismus

Er resultiert aus grosser politischer Klugheit und gleich grossem Egoismus der gesellschaftlichen Gruppen.
Wer dieses Land seit mehr als einem Jahrzehnt kennt und in keiner Neujahrsansprache der Gruppenvertreter den Begriff «wir Libanesen» gehört hat, wundert sich nicht über die vielfältigen Möglichkeiten zur Destabilisierung der libanesischen Politik durch externe Mächte. Zwei neue fehlgeschlagene Mordanschläge auf christliche Politiker deuten darauf hin, die bislang passiven Christen in den Syrien-Krieg verwickeln zu wollen.

Frankreich, frühere Schutzmacht

Frankreich als besondere Kennerin von Syrien/Libanon sowie der islamischen Welt hat eine Wende vollzogen. Wenn noch der französische Aussenminister Kouchner 2006 neben dem radioaktiven Bombenkrater in Süd-Libanon (Khiam) sich mit der Bemerkung profilierte: «C’est la guerre», und Sarkozy 2011 mit hohem Bombeneinsatz die libyschen Menschenrechte nebst etwas Öl sicherte, gehen der neue französische Präsident Hollande und sein Aussenminister Fabius heute neue Wege.
Zusammen mit dem Sohn (Saad Hariri) des 2005 ermordeten ehemaligen Ministerpräsidenten Hariri stellten sie Überlegungen an, wie der sunnitische Extremismus in Libanon eingegrenzt werden könnte.
Diese Absicht kann sich auf Erfahrungen stützen: Im Jahr 2007 ist der Aufstand der sunnitischen Palästinenser im Lager El-Bared (nördlich von Tripoli) von der konfessionell gemischten libanesischen Armee mühevoll niedergeschlagen worden. Der christliche General Hajj erhielt damals die volle Rückendeckung seines sunnitischen Ministerpräsidenten Saad Hariri. Hajj ist 2008 ermordet worden. Saad Hariri hat sich aus der vorderen politischen Reihe zurückgezogen. Er sucht noch immer nach den wahren Mördern seines Vaters, vermutlich mit wachsenden Erfolgsaussichten. Bei französischen Stellen liegen viele nicht veröffentlichte Informationen.
Französische Staatsbürger greifen zunehmend die Verwicklung der Nato in Kriegsvorbereitungen auf, «wenn dies so weitergeht, ist die Verteidigungsgemeinschaft am Ende und de Gaulle hatte recht. In Deutschland muss wohl erst ein Dichter die mehrheitliche Meinung der Bürger mit letzter Tinte zu Papier bringen.»

Vorgänge im internationalen Umfeld

Folgendes verdeutlicht die Dimension des Syrien-Krieges.
a)    Der Abschuss eines türkischen Kampfjets durch die syrische Flugabwehr hat Fragen nach den Intentionen dieses Nato-Mitgliedes aufgeworfen:
–    Vasall innerhalb der Nato passt nicht zum türkischen Selbstbewusstsein.
–    Entrée für die EU ist im Realinteresse gesunken.
–    Aufbau einer sunnitischen Vereinigung der Turk-Völker ist beachtenswert.
b)    Russland, China und Iran planen ein Grossmanöver mit und in Syrien. Mehr als 100 000 Soldaten sollen zum Einsatz kommen.
–    Chinesische und iranische Kriegsschiffe haben den Suez-Kanal passiert.
–    Ist eine neue, mächtige Allianz entstanden?
c)    Der russische Präsident besucht Israel und Palästina. Er erwägt die Anerkennung des sunnitischen Palästinenser-Staates.
d)    Der deutsche Präsident hinterfragt und korrigiert in Israel die vorbehaltlose Unterwerfung Merkels unter die israelische Politik.
e)    Obama nähert sich dem Syrien-Konzept des russischen Präsidenten an.
f)    Dem gewählten ägyptischen Präsidenten Mursi werden vom west-freundlichen Militärrat demokratische Rechte vorenthalten.
g)    Saudi-Arabien empfiehlt seinen Bürgern, diesen Sommer nicht in Libanon zu verbringen.
h) Vertretungen westlicher Länder in Libanon planen Evakuierungen ihrer Bürger unter drei Szenarien.
–    Ein neuer Konflikt zwischen Israel und der Hizbollah.
–    Ausbruch eines Bürgerkrieges, ausgelöst durch die Massen arbeitsloser Jugendlicher (insbesondere Salafisten und Palästinenser).
–    Ausweitung des Krieges in Syrien, zuerst auf Nord-Libanon …

Wertungen und Massnahmen

Die westliche Politik und die ihrer Stellvertreter im Nahen Osten ist gescheitert. Sie hat für den Westen nur nachteilige Prosperitäts- und Machtverschiebungen gebracht. Sie hat die Zündschnur für einen Weltkrieg gelegt. Die Glaubwürdigkeit christlicher Ethik und Demokratie ging verloren. Phantasien von einer kostenlosen Ausbeute nahöstlicher Rohstoffe im Irak und in Iran wirkten als Drogen. Die Massen kulturell kaum gebildeter West-Krieger betrachten die Muslime als «sand niggers» und sind zu keinerlei humaner Kooperation fähig.
Von den drei genannten Kriegsszenarien in Libanon wird ein neuer Israel/Hizbollah-Konflikt als unwahrscheinlich angesehen. Die Schiiten in Libanon gelten zwischenzeitlich als entscheidender Stabilitätsfaktor. Darf man erwarten, dass sich bald die Führer von Hizbollah, Israel und Iran aus Angst vor den Salafisten inniglich umarmen ?
Das zweite Szenario «Krieg aus Unzufriedenheit der Jugend» wird als hoch wahrscheinlich bewertet. Umfängliche Massnahmen auf nationaler und internationaler Ebene müssen umgehend ergriffen werden. Arbeit und Prosperität schaffende Projekte sind genug vorhanden. Sie sind zudem billiger als ein Krieg.
Betrachtet man dieses Szenario noch genauer, so wird deutlich, dass eine konsequente Lösung des Palästinenser-Konfliktes eine wesentliche Schlüsselfunktion besitzt. Noch haben diesen Schlüssel Israel und die sunnitischen Staaten in der Hand. Sobald in Libanon durch die salafistische Bewegung aus den Lagern der Palästinenser 200 000 wütende Kämpfer rekrutiert werden können, verschieben sich die Machtverhältnisse zugunsten der Fundamentalisten. Erste Opfer werden Jordanien und Israel sein, sobald dort weitere salafistische/palästinensische Aktivitäten entstehen. Unbeschadet dürften auch die Herrscherhäuser im Golf nicht bleiben, die heute den Strick finanzieren, an dem sie später aufgeknüpft werden können.
Die Verhinderung des dritten Szenarios «Kriegsausweitung aus Syrien» haben die Uno und die westliche Welt noch selbst in der Hand. Es müssen nur die Waffen-Lieferungen unterbunden werden.
Kommt die Erkenntnis zu spät, dass Assad, verglichen mit Fundamentalisten, das kleinere Problem darstellt?    •

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