Der Ton wird rauer: Politiker wie Norbert Lammert oder Wolfgang Schäuble beschweren sich lautstark über Kritik an der Regierung. Dahinter verbirgt sich ein schlimmes Missverständnis.
Demokratie ist eine tolle Sache – wäre da nur nicht das Volk, das stört und aufsässig ist und nicht schweigen will: Diese Auffassung bricht sich in erhitzten Tagen mehr und mehr Bahn. In immer kürzeren Abschnitten platzt Politikern der Kragen. Sie fühlen sich offenbar grundsätzlich missverstanden, schlecht beraten, zu Unrecht in den Senkel gestellt. Die vorderste Reihe bilden derzeit Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble.
Der Bundesfinanzminister ist Träger des «Internationalen Karlspreises 2012» als «Ideengeber und wichtiger Akteur bei nahezu allen Integrationsfragen in den vergangenen drei Jahrzehnten» und insofern Nachfolger des Euros selbst, der skurrilerweise 2002 ebenfalls mit dem Aachener «Karlspreis» ausgezeichnet wurde. Diese seltsame Ehre hielt Schäuble nicht davon ab, dem Bürger und Finanzexperten Thilo Sarrazin tüchtig eins überzubraten. Nur «himmelschreienden Blödsinn» und gar ein «verachtenswertes Kalkül» ortete Schäuble in Sarrazins einheitswährungskritischen Thesen. Quasi regierungsamtlich wurde festgestellt: Wer mir widerspricht, ist ein schlechter Mensch. Wer anders denkt als ich, der Finanzminister, der sollte sich schämen. Ein bemerkenswerter Vorgang.
Kaum freundlicher verfuhr Schäuble, der promovierte Jurist, nun mit fast 200 deutschen Wirtschaftsprofessoren. Diese hatten sich erkühnt, in klarer Diktion vor einer EU-weiten Haftungsunion für Banken zu warnen. Die Schulden nämlich der Banken seien insgesamt dreimal so hoch wie die Staatsschulden. Es sei grundfalsch, bei Banken das Insolvenzrisiko faktisch abzuschaffen, «Banken müssen scheitern dürfen». Flugs revanchierte sich Schäuble: Empörend und verantwortungslos sei eine solche Panikmache mit «Horrormeldungen». Ziel der EU-Massnahmen sei es nicht, «die Haftung zu vergemeinschaften, sondern eine gemeinsame Aufsicht in Europa zu schaffen». Wirklich?
Sollen hier ausnahmsweise Absichtserklärungen, Ziele, Schutzmassnahmen bindend sein, während sie doch in der Vergangenheit schneller dahin schmolzen als Vanilleeis auf der Sonnenbank? Da wagen sich Professoren, die man sonst für ihre Weltabgewandtheit im akademischen Elfenbeinturm rügt, aus der Deckung, nehmen ihr zivilbürgerliches Mandat wahr, von dem die Republik lebt wie der Fisch vom Wasser – und müssen sich von einem führenden Regierungsmitglied beschimpfen lassen. Verantwortungslos ist, wer in der Öffentlichkeit für eine Position wirbt, die von der Regierungsdoktrin abweicht?
Interessant. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert ist vor solchen Anwandlungen nicht gefeit. Der nominell zweite Mann im Staate agiert mittlerweile habituell so, als sei der eigentlich verblasste Begriff vom Besserwessi eigens für ihn erfunden worden. Der Bochumer zeigt uns allen gerne seine Belesenheit, seine rhetorische Delikatesse, seine umfassende Bildung. Er weiss einfach Bescheid. Auch das Vaterunser hat er schon neu übersetzt. Das alte war wohl suboptimal.
Norbert Lammert, promovierter Soziologe, knöpfte sich gleich die ganze akademische Intelligenz vor. «Die Experten» hätten sich in der Vergangenheit allesamt als «nicht hilfreich» erwiesen: «Von allen denkbaren Verfahren in der Bewältigung dieser Krise in den vergangenen Monaten ist das am wenigsten taugliche die Umsetzung von Expertenempfehlungen gewesen.» Halten zu Gnaden, Herr Bundestagspräsident: Die Verantwortung für politische Entscheidungen liegt noch immer in der Hand der Politiker, die so und nicht anders entscheiden. Wer falschen Ratschlägen folgt, ist dafür komplett selbst verantwortlich. Eine rein technische «Umsetzung von Expertenempfehlungen» hat mit Demokratie nichts zu tun. Die einen dürfen beraten, die anderen müssen entscheiden zum Wohle und im Namen des Volkes. So, nur so bildet sich eine Republik. Ehrlicher wäre es gewesen zu sagen: Alle falschen Entscheidungen in den vergangenen Monaten wurden von Politikern gefällt, die es nicht besser wussten.
Natürlich ist das (menschlich vielleicht verständliche) Aufheulen wider den Souverän keine Spezialität der CDU. Legendär blieb der Satz des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily (SPD), der Ende 2002 «überzogene Kritik» an der Bundesregierung «antidemokratisch» nannte.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer die Exekutive, die theoretisch nur ausführen, nicht entscheiden soll, nicht kritisiert, verzichtet auf sein demokratisches Urrecht. Durch das Feuer der öffentlichen Kritik muss jedes, schlichtweg jedes Tun oder Lassen der Regierung hindurch. Wer derlei nicht erträgt, der mag sich umsehen nach anderen Staatsformen. Auf Schloss Neuschwanstein ist noch ein Zimmer frei. •
Quelle: «Kisslers Konter» bei Focus.de am 12.7.2012; siehe auch: <link http: www.alexander-kissler.de>www.Alexander-Kissler.de ; mit freundlicher Genehmigung des Autors.
<link http: www.focus.de politik deutschland kisslers-konter kritik-in-zeiten-der-krise-demokratie-ist-keine-kommandowirtschaft_aid_780984.html>www.focus.de/politik/deutschland/kisslers-konter/kritik-in-zeiten-der-krise-demokratie-ist-keine-kommandowirtschaft_aid_780984.html
«Alles ist bereit: die Vermögenswerte, die Autonomie der Wirtschaftsmacht, die Fantasievorstellungen (der Allmachtsglaube, die Vorstellung einer Welt ohne Grenzen), der Technikwahn. Es wird alles gemacht, um auf den Wachstumswahn nicht verzichten zu müssen. Es wird alles versucht, um nicht die Herrschaft der einen über die anderen und aller über die Erde aufgeben zu müssen.
Alles ist geschrieben. Alles ist beziffert. Es werden Tausende von Patenten eingereicht. Projekte, die verrückten Wissenschaftlern würdig sind, existieren neben banalen Umsetzungen. Nach den gentechnisch veränderten Organismen und der Verstrahlung von Nahrungsmitteln verspricht man bereits für morgen früh die allgemeine Verbreitung von künstlichen Techniken zur Klimaveränderung; die Schaffung eines riesigen Schutzschildes um die Erde, um sie vor den Sonnenstrahlen zu schützen; Milliarden von kleinen Linsen von ungefähr 60 cm Durchmesser in eine Umlaufbahn zu bringen, um das Sonnenlicht zu filtern; das Abdecken von 3% des Globus, um die CO2-Verdoppelung auszugleichen; eine Million Tonnen Aluminium- und Schwefelstaub in die Athmosphäre auszubringen, um die Erdtemperatur um ein Grad zu senken; die Schaffung eines Ringes von kleinen Partikeln im Weltall, um über der tropischen Zone Schatten zu machen und das extreme Klima zu mässigen; die künstliche Herstellung von Wolken mittels schwimmenden, 3000 Tonnen schweren Gebilden, entwickelt, um durch die Wellenbewegung Generatoren anzutreiben; das Abdecken des Sonnenlichts mittels 50 000 Spiegeln von 100 km2 Fläche, die im Weltraum installiert werden; das Ausstossen von Russ in die Stratosphäre; die Stimulierung der Wolkenbildung durch das Verbrennen von Schwefel, um Sulfat-Aerosol zu bilden, um damit das Sonnenlicht zu reflektieren; CO2 einzufangen und in Karbonschächten zu lagern; die Stimulierung der ozeanischen Biomasse durch das Ausbringen von Eisen; die Auflösung des FCKW in der Atmosphäre mittels Laserstrahlen; die Stimulierung der Wolkenbildung durch das künstliche Ausbringen von Kondensationskernen; die Züchtung von gentechnisch veränderten Bäumen, die CO2 verbrauchen; […] nicht zu vergessen die Möglichkeit, genmanipulierte Kühe zu schaffen, die gegen BSE (Rinderwahnsinn) resistent sind oder nicht mehr wiederkäuen müssen (Grund für einen gewichtigen CO2-Ausstoss); und ebenfalls nicht zu vergessen die künstlichen Bestäuber, um dem drastischen Sterben der Bienenvölker zu begegnen. Und so weiter.
Dieser grüne Kapitalismus entspricht im industriellen Bereich dem Sarkozysmus auf politischer Ebene: eine entfesselte Rechte im Dienste eines entfesselten Kapitalismus. Der grüne Kapitalismus rehabilitiert die Geschäftswelt und die verrückten Wissenschaftler in dem Moment, wo man mit dem Finger auf sie zu zeigen begann, mit dem Vorwurf, den Planeten kaputt gemacht zu haben.
Nachdem die Rechte und die Wirtschaftskreise lange Zeit die ökologischen Probleme verleugnet haben, erfanden sie ihre eigene Antwort darauf, indem sie sich die CO2-Währung (monnaie carbone), ein regelrechtes Finanzsystem mit seinen CO2-Börsen im Gefolge, seinen CO2-Krediten, seinen CO2-Händlern, seinen Derivaten, seinen guten Geschäften etc. ausdachten. Eine regelrechte anthropologische Revolution.» (S. 183ff.)
«Die CO2-Währung (monnaie carbone) ermöglicht es dem Bürgertum, diesen gleichen Kampf gegen die Sphäre der Unentgeldlichkeit weiterzuführen und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche noch weiter auszudehnen.» (S. 185)
«Der ehemalige [französische] Umweltminister erklärt, dass ‹es die Idee ist, sich des Kapitalismus zu bedienen, um Ökologie durchzusetzen›, und verficht so die Idee, dass der Zweck die Mittel heilige. Doch warum den Satz nicht umdrehen und sagen, dass die CO2-Währung die beste Art darstellt, sich der Ökologie zu bedienen, um Kapitalismus durchzusetzen?» (S. 186)
«Die dritte Welle des grünen Kapitalismus wird also die Anpassung der Menschen an die Forderungen der Gewinnmaximierung verfolgen.
Dany [Cohn-Bendit] müsste den Essayisten Philippe Godard lesen, welcher erklärt, wie gentechnisch veränderte Organismen (GVO) einen Weg zu gentechnisch veränderten Menschen öffnen. Seine Schlussfolgerung: Die GVO mit therapeutischen Zielen stellen einen Schritt auf dem Weg zur allgemeinen Akzeptanz einer Politik der Eugenik, angewandt auf die Menschen, dar.» (S. 186)
*Auszüge aus dem Schlusswort des Buches von Paul Ariès und Florence Leray: Cohn-Bendit, l'imposture. Paris 2010.
ISBN 978-2-35341-086-6
(Übersetzung Zeit-Fragen. Die letzten zwei Zwischentitel gesetzt von der Redaktion)
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