«Warum Europa sein Verlangen nach Weltmachtstatus aufgeben und dem Vorbild Schweiz nacheifern sollte»

«Warum Europa sein Verlangen nach Weltmachtstatus aufgeben und dem Vorbild Schweiz nacheifern sollte»

Ein Diskussionsbeitrag von Peter Gauweiler

km. Unter der Überschrift «Welches Europa wollen wir?» veröffentlicht die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» seit dem 7. Juli in ihrem Feuilleton umfangreichere Beiträge bekannter deutscher Persönlichkeiten aus Politik, Rechtswissenschaft, Philosophie und anderen Disziplinen. Diese Beiträge versuchen, die derzeitige Situation der Europäischen Union zu untersuchen und Vorschläge zu machen, wie die offenkundig gewordenen Probleme gelöst werden könnten.
Unter den Autoren finden sich Stimmen, die es befürworten, die politische Macht innerhalb Europas mehr oder weniger ganz auf die Institutionen der Europäischen Union zu verlagern, aber auch solche, die den Weg der vergangenen 60 Jahre sehr kritisch sehen. Eine dieser kritischen Stimmen ist die des CSU-Abgeordneten im Deutschen Bundestag und Münchner Rechtsanwalts Peter Gauweiler. Sein Beitrag, der am 2. August erschien, trägt den Obertitel «Alles so grosstuerisch, so herzlos und leer!» und ist mit dem langen Untertitel versehen: «Die Enteignung des demokratischen Souveräns muss das zentrale Thema der Debatte werden: Warum Europa sein Verlangen nach Weltmachtstatus aufgeben und dem Vorbild der Schweiz nacheifern sollte.» Beide, Obertitel und Untertitel, greifen Formulierungen innerhalb des Beitrages auf.

Bismarcks Deutsches Reich und die heutige EU

Der Obertitel ist einer Aussage des Wittelsbachers Otto entnommen. Otto war der Bruder des bayerischen Königs Ludwig II. und Vertreter Bayerns bei der deutschen Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles am 17. Januar 1871. Otto fühlte sich gar nicht wohl in Versailles, und Peter Gauweiler knüpft an dieses Unbehagen Bayerns gegenüber der von Preussen ausgehenden Reichsgründung an. Er vergleicht die Entwicklung und den Zustand der heutigen EU mit der Politik Otto von Bismarcks, des preussischen Ministerpräsidenten und ersten Reichskanzlers, ein Deutsches Reich unter preussischer Führung zu gründen und mit einem solchen Reich Europa zu beherrschen und Weltmachtgeltung zu erlangen.
Damals verlor Bayern seine Unabhängigkeit, war «vom selbständigen Staat zum ‹königlich bayerischen Teil des Reiches› geworden». Und in den Jahrzehnten danach wurden auch überall in Bayern sogenannte Bismarck-Türme gebaut, Symbole der Ehrerbietung gegenüber dem Reichsgründer – aber auch eine Art von Demutsgeste gegenüber einer neuen Form des Gessler-Hutes.
Gauweiler zitiert den namhaften Publizisten und Historiker Sebastian Haffner, der Preussen als ein Staatsgebilde bezeichnet hat, das «keine nationale, ethnische, religiöse Identität besass […] sich wie ein Zelt hin- und hertragen und verschiedenen Stämmen, sogar verschiedenen Völkern überstülpen liess». Wie die Europäische Union, so Gauweiler. Verlierer dabei waren die Länder des neuen Reiches. Und wieder zieht Gauweiler die Parallele: «Heute gelten die deutschen Länder als die ‹Verlierer der Europäischen Union›. Auf ihren politischen Feldern – Innenpolitik, öffentliche Sicherheit, Bildung, Kultur, Medien, Daseinsvorsorge – haben Berlin und Brüssel Bismarck-Türme reihenweise gebaut.»

«Wenn neue grosse Reiche entstehen, geht es immer um Krieg und Frieden»

Welcher Preis ist sonst noch zu zahlen? Gauweiler schreibt: «Wenn neue grosse Reiche entstehen, geht es immer um Krieg und Frieden.» Bismarck hatte drei Kriege provoziert, um Preussens Vormacht in Deutschland und Europa zu begründen. In den Bismarck-Monumenten sieht Gauweiler auch die Menetekel für den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Er zitiert den bayerischen Landtagsabgeordneten Krätzer in der Debatte um den Beitritt Bayerns zum neuen Deutschen Reich. Krätzer war gegen eine Reichsmitgliedschaft Bayerns, sah einen Grossstaat aufziehen, in dem «alles parlamentarische Leben, alle Freiheit aufgehoben wurde», und sagte dann weiter: «Wohin führt die Gründung eines solchen Staates? Die Sucht, die Herrschaft über Eu­ropa zu bekommen, liegt zugrunde, und diese Anspannung aller Kräfte wird auch in nächster Zeit zum Kriege führen.» Und welchen Weg geht die EU?
Dem Abgeordneten Krätzer schenkte die grosse Mehrheit im Parlament damals kein Gehör – für Gauweiler eine Parallele zum Umgang mit kritischen Stimmen bei heutigen EU-Debatten im Deutschen Bundestag.

Kein Ohr für das Volk

Auch für das Volk, so Gauweiler, hatte dieses neue Deutsche Reich kein Ohr. Man sprach Hochdeutsch, gab sich gebildet und spottete über Leute wie den bayerischen König Ludwig II. Weil der eben nicht nach immer mehr Macht strebte, weil der eben nicht bereit war, das Blut seiner Landsleute zu vergiessen. Ein Arzt diagnostizierte sogar Paranoia. «In der Macht über ein anderes Land keinen Wert zu sehen, schien ihm und seinen Mitgutachtern verrückt», schreibt Gauweiler.

De Gaulles Alternative: «Verzicht auf die Beherrschung des anderen»

Namhafte Nachkriegspolitiker wie der französische Präsident de Gaulle, auf den sich Gauweiler im folgenden beruft, traten dennoch eher in die Fussstapfen eines Königs Ludwig, jedenfalls nicht in die des alten Reiches. Und die Zitate de Gaulles, die Gauweiler anführt, sind wirklich bemerkenswert. De Gaulle sprach von der «Sinnlosigkeit solcher Kämpfe» um die Beherrschung anderer Staaten und Völker, davon, im «Verzicht auf die Beherrschung des anderen einen besonderen Wert zu sehen», warnte davor, «mit Europa ein künstliches Vaterland anzustreben», warnte im Hinblick auf die Organe des supranationalen Europas vor der «Urzweideutigkeit der ganzen Institution» und bezeichnete das Streben nach einer völligen Verschmelzung der Volkswirtschaften und der Politik in Eu­ropa als «Illusion der supranationalen Schule». Sein Ziel für Europa war die «gegenseitige Abstimmung des internationalen Vorgehens», war ein «Europa der Vaterländer».

Der Weg der EU: «Aushöhlung von Freiheit und Demokratie»

Und dann geht Gauweiler wieder auf die heutige EU ein: «Heute sehen sich die Leute von der Europäischen Union als Machtinhaber globaler Reichweite. […] Auch das erinnert an die eingebildete hohe Warte von 1871. Weil der ‹Weltmachtstatus› der Heutigen zum guten Teil auf dem Euro beruht, werden sie aktuell als Sorgenkinder der Weltwirtschaft wahrgenommen. Was dieser oberste Expertenchor […] den seinen Verfügungen unterworfenen Ländern ökonomisch angetan hat, ist noch gar nicht absehbar. Mehr und mehr verdichtet sich die Erkenntnis, dass es nicht nur um die Währung geht […], sondern um die Aushöhlung von Freiheit und Demokratie.»
Damit ist Gauweiler beim Kern seines Artikels, so wie es auch im Untertitel zum Ausdruck kommt. «Diese Enteignung des demokratischen Souveräns wird und muss in der europäischen Öffentlichkeit das zentrale Thema der bevorstehenden Debatte um die Zukunft der Brüsseler Institution sein. Nicht als Denkblockade, sondern als Voraussetzung jeder staatsbürgerlichen Solidarität, auf welcher Gebietsebene auch immer.»
Wer dagegen steht? Gauweiler sieht eine Koalition aus den negativsten Erscheinungen von links und rechts: Marx und Lenin auf der einen, Goldman Sachs auf der anderen Seite.

«Machtpolitische Enthaltsamkeit ist eine verheissungsvolle Chance»

Und was ist zu tun? Noch einmal bezieht sich Gauweiler auf Sebastian Haffner. Dieser hatte den Deutschen vor Augen geführt, «dass machtpolitische Enthaltsamkeit eine verheissungsvolle Chance beinhalten kann». Warum sich nicht aus dem unseligen und antiquierten Wettbewerb der Staatenwelt heraushalten? «Beneidenswertes Europa!», hatte Haffner geschrieben, «es braucht weder Hunger zu leiden noch Sterne zu entzaubern.» Europa, so Haffner, könne zu einer «Schweiz der Welt» werden und die Menschheitsaufgabe angehen, einen «Ausgleich von Technik und Humanität» herbeizuführen.
Gauweiler schreibt: «Europa – die Schweiz der Welt? Das Megapolitisch-Unsympathische der Europäischen Union löste ein solcher Vorschlag jedenfalls sofort auf. Ebenso die Vorstellung von Europa als Eidgenossenschaft. Auch die Pflege der Vielsprachigkeit könnte Brüssel von Bern gut lernen. Ebenfalls die Achtung vor kantonaler Selbstbestimmung und staatsbürgerlicher Funktion. Vor allem der unbedingte Respekt vor dem Volkswillen und die Balance von globaler Einbindung und örtlicher Autarkie. Und das es nicht auf die Grösse des Territoriums ankommt, sondern was man damit macht.»

Wird Bayern einen eigenen Weg gehen?

Für die Bayern war die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg ein direktdemokratisches Vorbild. Auch ein anderer Bayer, Professor Hans Maier, ehemals bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultur, hat daran vor kurzem («Neue Zürcher Zeitung» vom 25. Juli) erinnert: Bayerns politische und wirtschaftliche Erfolge hätten auch etwas mit seinen Volksrechten zu tun. Und dann weiter: «Übrigens verdankt Bayern diese plebiszitären Elemente zwei Kennern und Bewunderern der Schweizer Demokratie, die zu Nazizeiten als Emigranten in der Schweiz lebten: Wilhelm Hoegner und Hans Nawiasky. Was beweist: Neue Demokratien können von alten lernen.»
Gauweiler selbst glaubt nicht so ganz daran, dass die EU sehr zügig aus der Geschichte lernen wird. So schliesst er denn mit einem Hinweis auf ein am 30. August erscheinendes Buch eines anderen Bayern, Wilfried Scharnagl, auch CSU-Politiker und langjähriger Chefredakteur der Parteizeitung «Bayernkurier». Der Titel des Buches: «Bayern kann es auch allein: Plädoyer für den eigenen Staat.»     •

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