«Zeit-Fragen»-Interview mit dem Chef der Armee, Korpskommandant André Blattmann
thk. Als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach und der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, glaubte doch so mancher, das Zeitalter des «ewigen Friedens» sei angebrochen: Die Friedensdividende war das geflügelte Wort, und es schien, als ob mit dem Ende des Kalten Krieges das Ende aller Kriege eingeläutet worden sei. Heute, 20 Jahre später, sehen viele die Dinge wohl etwas realistischer.
Noch nie war die Welt so unsicher wie heute. Ein Blick in die Tageszeitungen bestätigt uns das. Neben den herkömmlichen Kriegsszenarien, die nach wie vor aktuell sind (vgl. Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien), taucht eine neue Form kriegerischen Vorgehens auf: der Cyber-War. Eine Armee, will sie ihre Aufgabe der Landesverteidigung wahrnehmen, muss sich auf alle möglichen Szenarien einstellen und dazu muss unsere Armee vollständig und gut ausgerüstet sein. In der Schweizer Bevölkerung besteht ein hohes Bewusstsein über diese Fragen. Seit einigen Jahren will – nach einer naiven Phase der Sorglosigkeit – vor allem die junge Generation wieder einen Beitrag zum Schutz von Land und Leuten leisten. Diese Entwicklung ist äusserst erfreulich, denn die Schweiz hat wahrlich Wertvolles zu erhalten und zu verteidigen.
Im folgenden Interview mit dem Chef der Armee, Korpskommandant André Blattmann, werden diese und noch andere wichtige Fragen der Landesverteidigung zur Sprache gebracht.
Zeit-Fragen: Je problematischer es aussieht in der heutigen Welt, desto mehr wächst das Sicherheitsbedürfnis, vor allem unter Frauen. Aber auch bei der jungen Generation insgesamt ist ein deutliches Umdenken in bezug auf die Armee im Gang. Während vor Jahren noch manche zum Arzt gingen, um ihre Untauglichkeit bestätigen zu lassen, werden die Hausärzte immer häufiger von jungen Schweizern aufgesucht, weil sie eine Untauglichkeit bei der Rekrutierung nicht akzeptieren und tauglich geschrieben werden wollen. Das ist eine erfreuliche Wende für unsere Willensnation Schweiz.
Korpskommandant André Blattmann: Wenn wir zurückschauen, ist zwar die Armee oft kritisiert worden. Heute geht es um die Sicherheitspolitik, und das ist nicht dasselbe. Die Armee steht heute auf festem Boden, wir arbeiten konzentriert und gut. Das Wichtigste ist, dass wir konsolidieren und die Leistung erbringen können, die von uns verlangt wird. Das funktioniert recht gut. Ausser der Konsolidierung ist es für mich prioritär, dass man den Bürgerinnen und Bürgern aufzeigen kann, wie wichtig Sicherheit ist. Wir haben aktuell das Beispiel einer Schweizer Stadt, die auf Grund der Sicherheitslage Absagen von ausländischen Firmen bekommen hat. Die Sicherheitslage ist eigentlich einer der wenigen Standortvorteile der Schweiz. Was im Kleinen auf Stufe Stadt oder Kanton gilt, gilt auch auf Stufe Eidgenossenschaft. Mein Schwerpunkt neben der Konsolidierung ist also, den Bürgerinnen und Bürgern die Bedeutung der Sicherheit und die Rolle der Armee aufzuzeigen. Denn wenn das einleuchtend getan wird, dann versteht man auch, dass es die Armee braucht.
Wo sehen Sie den Schwerpunkt, was die Sicherheit in unserem Land betrifft? Ist in unserer Bevölkerung ein realistisches Bewusstsein da über den Zustand der Welt?
Ich glaube, dass dies noch nicht überall erkannt ist. In Asien hat es Länder, die enorm aufrüsten. Im Gegensatz zu Europa, wo man aus Finanzgründen abrüstet und damit ein Vakuum entsteht, das irgendwann von jemandem ausgefüllt wird. Der ewige Frieden ist sicher nicht ausgebrochen. Aus diesen Gründen müssen wir bereit sein, unsere kritische Infrastruktur zu schützen. Ihr im März 2011 veröffentlichter Artikel «Hackerangriffe auf Zeit-Fragen» ist diesbezüglich ganz wichtig. Ich unterstütze sehr, dass Sie das transparent gemacht haben, weil sehr viele Leute meinen, sie seien davon nicht betroffen. Diese kritische Infrastruktur ist nach einem derartigen Angriff ausser Betrieb. Wen muss man jetzt informieren? Wenn die Steuerung der Trams oder der Grünphase im Strassenverkehr nicht mehr funktioniert, dann bricht der Verkehr zusammen. Weil in der Schweiz normalerweise immer alles funktioniert, wiegt man sich schnell in Sicherheit und denkt, man sei davon nicht betroffen. Daher ist dies ein gutes Beispiel. Die meisten Firmen machen solche Vorgänge nicht publik, denn man möchte nicht, dass die Öffentlichkeit erfährt, dass etwas nicht stimmt. Mit solchen Beispielen muss man den Menschen die Gefahren begreifbar machen. Sie realisieren dann, dass so etwas viel öfter vorkommt, als sie meinen.
Vor wenigen Tagen meldete die «FAZ», dass nach Stuxnet nun bereits eine vierte Malware (Schadprogramm) mit Namen «Gauss» im Umlauf ist. Könnte die Schweiz mit so etwas auch erpresst werden?
Computerwürmer wie Stuxnet oder Gauss sind eine Realität, die nicht vor den Landesgrenzen der Schweiz haltmacht.
Müssten nicht Informatiker-Kompanien gebildet werden? Da würden doch die Jungen mit Begeisterung mitmachen.
Diese Spezialisten haben wir bereits, bei der Führungsunterstützungsbasis der Armee respektive der Luftwaffe, zu welcher die RS [Rekrutenschule] für Elektronische Kriegführung gehört. Die Begeisterung der Jungen für dieses Thema ist eine Tatsache!
Weiss man, ob solche Malware als «Schläfer» in unseren Systemen plaziert ist? Energieversorgung, Spitäler, Verkehr, Banken usw. – das hätte ja verheerende Folgen bei einem «Blackout».
Wie gesagt: auch die Systeme der Schweiz können davon betroffen sein.
Wenn wir die gesamte Sicherheitslage auch in Europa anschauen, dann müssen wir feststellen, dass Dinge geschehen, die wir uns vor vier Jahren noch nicht hätten vorstellen können. Ein Beispiel: Die Wirtschaftslage in Europa ist ein Risiko, was sich auch auf die Sicherheitslage auswirkt. Wenn die Menschen anfangen zu verzweifeln, wie wir es in Südeuropa sehen, dann ist das der Anfang einer Abwärtsspirale, die sehr gefährlich werden kann. Wir müssen nicht so weit zurückschauen, um zu sehen, was geschehen kann, wenn die Menschen in Europa unzufrieden sind. Ein zweites Beispiel: Wir können die Entstehung nationalistischer Regime beobachten, die sagen, dass die anderen an der eigenen Unfähigkeit Schuld sind. Das sind alles Risiken für die künftige Entwicklung.
Vor bald drei Jahren hat Bundesrat Maurer gesagt, wir kaufen keine Flugzeuge, wir haben kein Geld. Damals hatte die Armee 3,7 Milliarden zur Verfügung gehabt. Am 25. September bewilligte im Gegensatz dazu das Parlament 5 Milliarden. Man kann also dem Parlament überhaupt keinen Vorwurf machen, aber es brauchte einiges an Überzeugungsarbeit. Seit dem letzten Herbst haben wir ein neues Parlament. Das müssen wir jetzt wieder überzeugen. Das ist auch unsere Aufgabe. Ich bin überzeugt, dass das gelingt. Schwierig ist hingegen, wenn ständig die Vorgaben geändert werden: Das Parlament hat sich entschieden, der Armee 5 Milliarden Franken zur Verfügung zu stellen. Nachher entscheidet der Gesamt-Bundesrat, es gebe nur 4,4 Milliarden Franken für eine Armee mit 100 000 Angehörigen. Was gilt am Schluss? Klar ist: Ich bekomme den Auftrag von der Politik. Wir müssen uns auf beides einstellen.
Die Reform «Armee XXI» war ein schwerer Aderlass für unsere Armee. Wie kann die Armee unter diesen Umständen weiterhin ihren in der Verfassung verankerten Auftrag der Landesverteidigung übernehmen?
Ein Massenheer ist heute nicht unser Ziel. Wir haben eine kleine Armee, wenn wir von 100 000 Mann ausgehen. Das bedeutet, dass immer nur rund 5000 Angehörige der Armee gleichzeitig im Dienst sind. Es ist eine kleine Armee, aber wenn sie in den Einsatz muss, dann ist sie massgeschneidert. Das ist der grosse Vorteil bei der Bewältigung einer breiten Palette von Risiken. Ich habe lieber nur 100 000 Armeeangehörige, aber dafür richtig ausgerüstet. Das ist für mich eine Frage der Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit gegenüber der Bevölkerung, aber auch gegenüber der Politik. Wir sparen durch die Reduktion fast 1,5 Millionen Diensttage. Das entlastet die Wirtschaft und ist ein Kompromiss, den ich mittragen kann. Weniger als 100 000 Mann wäre nicht mehr seriös.
Wie können wir mit 100 000 Armeeangehörigen unsere neuralgischen Punkte wie Atomkraftwerke, Staumauern, Flughäfen, Bahnhöfe usw. schützen?
Mit 100 000 können wir nicht schweizweit alles schützen. Man muss entscheiden, was besonders gefährdet ist. Man wird quasi einen Kreis um das Objekt ziehen, der hin und wieder Lücken hat. An diesen Stellen kommen elektronische Mittel zum Einsatz. Da müssen wir den optimalen Mix finden. Im Moment haben wir ein Gleichgewicht zwischen denkbaren Szenarien und unseren geeigneten Gegenmassnahmen.
Unsere Armee funktioniert, obwohl wir einen grossen Personal- und Materialabbau zu verzeichnen haben. Wie ist das möglich?
Gestern habe ich die Schiessanlage Reppischtal im Kanton Zürich besucht in Begleitung eines pensionierten Brigadiers. Er hat die Effizienz dieser Anlage gelobt und festgestellt, dass es zu seiner Zeit parallel immer noch sehr viele Nebenarbeitsplätze gegeben habe und nur eine Gruppe geschossen hätte.
Heute hat es Plätze mit automatischen Scheiben, das geht viel schneller. Die Effizienz mit Simulatoren, mit der Elektronik ist enorm verbessert worden. Trotz der Reduktion sind unsere Soldatinnen und Soldaten immer noch sehr gut ausgebildet. Und da gibt es keine Abstriche. Wenn unsere Soldaten in den Einsatz müssen, haben wir die Gewähr, dass sie sehr gut ausgebildet sind. Die Simulatoren, die wir haben, sind sicherlich etwas vom Besten, was es gibt. Vor ein paar Wochen habe ich den deutschen Generalinspekteur getroffen, und er war beeindruckt davon, was wir zur Verfügung haben. Von Deutschland, einem Land, das selbst viele Soldaten im Ausland im Einsatz hat, ist es interessant zu hören, wie sie das beurteilen. Wir haben verabredet, dass wir unsere Erfahrungen im Ausbildungsbereich austauschen werden. Ich gehe davon aus, dass wir von den Erfahrungen der anderen lernen können.
Die Qualität unserer Leute ist ausgezeichnet, und deshalb bin ich ein konsequenter Verfechter der Wehrpflicht und der Milizarmee. Diese gute Qualität kann man nur so erreichen. Als Chef der Armee bin ich die Beschwerdeinstanz, wenn ein Bürger keinen Dienst machen darf und er dagegen rekurriert. Täglich unterschreibe ich Entscheide, welche dienstwilligen Bürgern den Militärdienst verwehren – es sind häufig Bürger, bei denen dieser Entscheid äusserst bedauerlich ist.
Kann man sagen, dass es heute wieder mehr junge Menschen gibt, die ihren Dienst leisten möchten, auch im Bewusstsein, was man zu verlieren bzw. zu verteidigen hat: unser einmaliges Staatswesen mit der direkten Demokratie zum Beispiel? Sieht man hier eine Entwicklung?
Das kann man klar mit einem Ja beantworten. Das korrespondiert auch mit der ETH-Studie, die vor ein paar Wochen veröffentlicht wurde. Dort war 1999 bei den 20- bis 29jährigen keine Mehrheit mehr für die Armee. Jetzt sind wir bei 63 Prozent, letztes Jahr waren es sogar 69 Prozent von den Jungen, bei der älteren Generation ist die Zustimmung viel höher. Wenn man sieht, dass sich heute 2/3 der Jungen zur Armee bekennen, dann ist das meines Erachtens eine fundierte wissenschaftliche Antwort auf Ihre Frage.
Wechseln wir auf das aktuelle Thema «Tiger»-Ersatz oder mit anderen Worten, Kauf des «Gripen». Es gibt ein Angebot von Schweden, bis der neuste Gripen verfügbar ist, bekommt die Schweizer Armee ein Ersatzflugzeug. Ist das eine gangbare Variante?
Diese Frage müssen wir in den Gesamtrahmen stellen. Wir haben jetzt 33 FA/18, ein sehr gutes Flugzeug. Eines der besten in Europa. Jetzt ist die Frage: Können wir die Zeit, bis der neue Gripen da ist, mit der Zwischenversion, die in Libyen mit grossem Erfolg im Einsatz war, überbrücken? Dem stimme ich zu. Alles, was besser ist als der Tiger, ist ein Vorteil. Auch Bundesrat Maurer, der dieses Konzept mit der schwedischen Verteidigungsministerin besprochen hat, sagt, dass man diesen Vorschlag unbedingt anschauen muss. Natürlich muss man die Kosten beachten. Aber alles, was die Sicherheit erhöht, ist für mich im Grundsatz gut. Was man schnell vergisst. Vor drei bis vier Jahren haben wir klar gesagt, das neue Flugzeug soll zwischen 2015 und 2020 einsatzbereit sein. Wir liegen also im zeitlichen Rahmen. Mit der Zwischenversion würde uns das natürlich Zeit geben, um auch die Piloten dafür auszubilden. Zuerst müssen wir die Piloten auswählen, dann müssen sie das System kennenlernen. Das gleiche gilt auch für die Bodencrew. Die Übermittlung muss klappen, die elektronischen Sensoren müssen angepasst werden usw.
Als man sich vom VBS her für den «Gripen» entschieden hatte, wurde das zunächst positiv aufgenommen, natürlich weniger von der Konkurrenz. Dann haben die grossen Medien eine regelrechte Kampagne gegen den bundesrätlichen Entscheid geführt. Dazu gehört ein Artikel in der «SonntagsZeitung», der von 99 Mängeln gesprochen hat. Das war eine massive Kritik, dass der «Gripen» den Ansprüchen nicht genügen könne. Er sei nur ein VW und kein Rolls-Royce und ähnliches. Das VBS hat, so schien es, in der Situation dieser Kritik wenig entgegengesetzt. Die Vorwürfe sind im Raum stehengeblieben und nicht klar ausgeräumt worden.
Ich bin zusammen mit meinem Kommunikationsbeauftragten bei der Gesamtredaktion der SonntagsZeitung gewesen. Dort hat der Research-Chef der SonntagsZeitung, Dr. Zihlmann, gesagt: «Wenn Sie wollen, schreibe ich in einem Kommentar in der SonntagsZeitung, dass der Gripen eine gute Wahl ist. Aber, und damit sagte er genau auch das, was Sie sagen: «Es gab und gibt Risiken. Warum kommunizieren Sie das nicht?» Das war uns eine echte Lehre. Bundesrat Maurer hat sich der Sache angenommen und klar gesagt, dass es so nicht gehe. Es werden Anfragen gestellt, und man gibt keine Antworten. Daraufhin haben wir beschlossen, dass wir von Zeit zu Zeit Journalisten einladen müssen. Dann können wir ihnen mitteilen, welche Verbesserungsmassnahmen bereits umgesetzt sind und an welchen wir noch arbeiten. Da braucht es Transparenz. Ich finde es sehr bedauerlich, dass das so geschehen ist. Ich bin überzeugt, dass der Gripen für uns die einzige sinnvolle Lösung ist. Es erfüllt das, was wir brauchen, und kostet so viel, wie wir uns leisten können. Noch etwas zu dem Artikel in der SonntagsZeitung: Es wurden offensichtlich aus dem Protokoll einer Kommissionssitzung Bruchstücke wiedergegeben, mit der Aussage, dass das Flugzeug in der Variante von 2008 ein stumpfes Messer sei. Es wurde aber nicht wiedergegeben, dass die ergriffenen Massnahmen geeignet seien, das Flugzeug dort hinzubringen, wo wir es haben möchten. Gesamthaft hätten wir sagen müssen, dass wir ein Flugzeug wollen, das noch in der Entwicklung steckt, das Risiko aber vertretbar ist. Es war falsch, den Eindruck zu vermitteln, dass es das Flugzeug in dieser Form schon gebe. Das war unser Fehler. Wir erstellten eine Liste mit Massnahmen, aber inzwischen wurden Fortschritte gemacht. Zum Beispiel das neue Radar. Das kommt in die neuen Flugzeuge, das ist das Beste, was es derzeit gibt.
Das Triebwerk war auch in Diskussion …
Ja, genau. Auch hier gibt es ein Triebwerk von Boeing. Das ist das gleiche wie im neueren FA/18. Auch das ist ein Vorwurf gewesen. Der Gripen sei langsamer als der FA/18. Aber der FA/18 ist auch langsamer als die Mirage III, die flog doppelte Schallgeschwindigkeit. Aber das ist heute unnötig. Die Lenkwaffen sind schneller, und das Radar hat einen grösseren Radius. Das muss man den Bürgern erklären, das ist unsere Kommunikationsaufgabe.
Wie ist die Zusammenarbeit mit Schweden in militärischen Belangen? Hat Schweden immer noch die neutrale autonome Position? Inwieweit ist Schweden auch schon eingebunden?
Schweden versteht sich selbst immer noch als «nicht blockgebunden». Ein Nato-Beitritt kommt für sie definitiv nicht in Frage. Der schwedische Armeechef war im Frühling hier und hat klargemacht, dass es für sie diesbezüglich überhaupt keine Diskussion gibt. Schweden ist Mitglied der EU. Das gibt ihnen einen Zugang zu anderen Staaten. Schweden ist vergleichbar mit der Schweiz, nicht vom Land her, aber von der Armee. Die schwedische Armee hat viele Systeme, die wir auch haben. Sie haben Probleme bei der Erneuerung ihrer Artillerie. Sie sind im Moment daran, das zu verbessern. Dann macht Schweden Einsätze in der Friedensförderung. Hier besteht bereits eine Zusammenarbeit, von der wir profitieren können. Auch gibt es uns die Möglichkeit, wenn es die Politik will, zusammen einen Einsatz durchzuführen. Da können wir sehr viel lernen. Schweden verhält sich in der Nordic-Battle-Group sehr clever. Schweden, Finnland und Norwegen – letzteres ist zwar ein Nato-Staat, aber kein EU-Staat – arbeiten bilateral oder trilateral gut zusammen und können sich bei ihren Aufträgen gut ergänzen. Es ist auch ein Kostenfaktor, wenn man sich auf etwas konzentriert und Aufträge miteinander durchführt.
Laut der ETH-Studie sind 95 Prozent der Bevölkerung für die Beibehaltung der Neutralität und 93 Prozent wollen, dass die Schweiz auf Grund ihrer Neutralität in Konfliktfällen Vermittlungsaufgaben übernimmt. Irgendwo steht dieser vom Volk vertretenen Neutralität die Mitgliedschaft der Nato-Unterorganisation PfP entgegen. In der Mitte der 90er Jahre haben die Bundesräte Cotti und Ogi unser Land in diese Organisation geführt, ohne das Parlament geschweige denn das Volk zu fragen, und somit besteht faktisch eine Verbindung zu dieser Nato. Als neutraler Staat wäre es geboten, sich von der Nato und damit auch der PfP fernzuhalten. Wie ist das, wird das in der Armee-Führung diskutiert?
Wir sind in der PfP wirklich nur sehr bescheiden dabei. Es gibt keinen Einsatz unserer Armee ohne einen Grundsatzentscheid der Uno oder der OSZE, das ist sehr wichtig. Wir können auch nicht von der Nato in Aktionen einbezogen werden. Das ist also ausgeschlossen. Wir profitieren sehr viel, indem wir an Informationen teilhaben können, ohne dass wir gezwungen sind, an den Aktionen der Nato teilzunehmen. Für mich ist es völlig ausgeschlossen, dass wir in die Nato eintreten. Das ist für mich keine Option. Wir sind für Sicherheit und Freiheit im eigenen Land zuständig, und es besteht zusätzlich der Auftrag der Friedensförderung, bei dem wir international einen Beitrag leisten, aber dafür müssen wir nicht in die Nato eintreten. Aber sich komplett dem Austausch zu verschliessen, kann ich nicht gutheissen.
Wenn ich sehe, was wir mit der ETH oder mit dem Genfer Zentrum für Friedensförderung machen, wie sich Offiziere aus der ganzen Welt bei uns schulen und ausbilden, dann kann ich feststellen, dass die Schweiz auf diesem Gebiet einen sehr guten Ruf hat. Wenn das bei uns durchgeführt wird, sitzen Länder nebeneinander, die sonst niemals ein Wort miteinander reden würden. Bei uns müssen sie das. Das ist ein Beitrag zur Sicherheit, und zwar auf einer vernünftigen Ebene. Letztlich entscheidet die Politik, was zu machen ist, und wenn von dort Einspruch erhoben wird, dann befolgen wir das.
Und in bezug auf die Neutralität sehen Sie kein Problem?
Was heisst Neutralität? Bei einem Konflikt schlagen wir uns nicht auf die eine oder andere Seite, und wir kommentieren das auch nicht. Sobald es zu einem Konflikt kommt, ziehen wir uns zurück. Es hat bisher kein Einsatz der Schweiz im Zusammenhang mit PfP gegeben.
Die Einsätze der Nato in Libyen zum Beispiel sind doch weit über das hinaus gegangen. Erlaubt war das Errichten einer Flugverbotszone, aber kein Regime-Change.
Ja, da waren ganz andere Interessen im Spiel. Ich habe mit dem russischen General Makarow über die Lage in Syrien gesprochen, und Russland hat zum einen natürlich grosse Sorgen, was das Mittelmeer anbetrifft, und zum andern, wer und was folgt, wenn es einen Wechsel geben würde. Wir teilen die Sorge. Wir verurteilen und sagen das auch, was dort zu Lasten der Zivilbevölkerung geschieht, aber wir können die Lösung nicht skizzieren. Die Auffassung, es gebe dann nächstes Jahr Wahlen und im übernächsten Jahr ist das ein demokratischer Staat, ist wohl sehr optimistisch. Aber ich nehme hier niemanden in Schutz. Das ist ein enormes Blutvergiessen zu Lasten der Zivilbevölkerung.
Wir sind, was die Nato anbetrifft, äusserst zurückhaltend. Bilaterale Kontakte zu anderen Nato-Staaten sind für mich kein Problem. Um die Nato kommen wir nicht herum, wenn wir Informationen möchten, das muss man ganz klar sehen. Aber für alles, was darüber hinausgeht, haben wir so viele Hindernisse eingebaut, so dass ich keine Gefahr sehe. Unser Engagement in Friedensförderung und im humanitären Bereich unterstütze ich, hier gibt es pragmatische Zusammenarbeitsansätze.
Wie steht unsere Armeespitze zur Frage der Milizarmee, die in hervorragender Weise die vielfältigen beruflichen Fähigkeiten des zivilen Lebens mit den Erfordernissen der Landesverteidigung verbindet? Umgekehrt lernen sich die verschiedenen Schichten der Bevölkerung, die verschiedenen Landessprachen und unterschiedlichen regionalen Mentalitäten in der Milizarmee näher kennen, besser verstehen und – was für die Demokratie wesentlich ist – sie lernen, gleichwertig zusammenzuwirken. Wo sonst soll die nachwachsende Generation diese Gelegenheit erhalten und den Zusammenhalt für die Willensnation Schweiz bilden?
Für mich ist das völlig klar: Entweder hat die Schweiz eine Milizarmee mit Wehrpflicht oder sie hat keine Armee mehr. Alles andere ist nicht ehrlich. Es gibt die Volksinitiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht». Das ist ein normaler Vorgang in der Schweiz, wenn man etwas verändern möchte. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Abstimmung gewinnen werden, aber wir müssen etwas dafür tun. Von unserem Staatsverständnis her, und hier fängt es an, wenn man eine liberale Grundeinstellung hat, gibt es Aufgaben, die der Staat erbringen muss. Das ist zum Beispiel die Sicherheit für den Bürger. Dazu gehört die Armee. Was ist diesbezüglich glaubwürdiger als der Bürger in Uniform, der hier seinen Beitrag leistet? Da ist für mich der übergeordnete staatspolitische Gedanke dahinter. Dazu gehört natürlich die Qualität der Soldaten. Ich muss sagen, wenn ich sehe, wie sich die Jungen einsetzen, dann freut mich das. Die Qualität unserer Soldaten ist sehr hoch. Im ABC-Labor Spiez leisten viele Milizangehörige mit Doktortitel den Dienst. Als ich sie fragte, ob das sinnvoll sei, was sie dort machten, gaben sie zur Antwort, natürlich, wer solle denn das sonst machen. Es waren Physiker, Chemiker, Gymi-Lehrer usw. Diese Leute sind bereit, wenn in ihrem Spezialgebiet etwas passiert. Unsere Milizarmee bringt sehr gute Leistungen. Die Qualität der Armee ist das eine, der Zusammenhalt, wie Sie vorhin erwähnt haben, ist das andere. Ich lebe in der Westschweiz an der Sprachgrenze, und ich frage mich öfters, wer ausser der Armee die Menschen noch zusammenbringt. Vor kurzem war ich im Tessin. Es ist für mich zentral, dass die Armee auch die Tessiner bewusst integriert. Dafür setzt sich auch die Tessiner Regierung ein. Ich habe das mit dem zuständigen Regierungsrat besprochen, das gibt einen Austausch, der sehr wichtig ist. Was sollen wir also mit einer Berufsarmee? Abgesehen davon wäre sie viel zu klein, um den Verfassungsauftrag zu erfüllen. Mit 30 000 Angehörigen der Armee, die alle im «Stade de Suisse» Platz hätten, ein Land verteidigen zu wollen, das ist absolut absurd. Jemand, der sich wirklich seriös mit dieser Frage auseinandersetzt, der kommt nicht auf eine solche Lösung. Dazu kommen die Kosten für das Personal. 10 000 Soldaten kosten eine Milliarde Franken Lohn. Unsere 4,4 Milliarden Franken wären da ziemlich schnell verbraucht. Der belgische Armeechef – Belgien hat eine Berufsarmee – hat mir gesagt, dass er den nötigen Nachwuchs von jährlich 1500 Personen nicht sicherstellen kann. Und er sagte weiter: «Nous avons totalement perdu la rencontre avec la population.» Aber für wen sind wir denn da, wenn nicht für die Bevölkerung?
Von mir aus gesehen muss man dies den Menschen aufzeigen, und dann werden sie dieser Entwicklung nicht zustimmen. Es ist gefährlich: Mit der Abschaffung der Wehrpflicht und der Milizarmee ist die Armee abgeschafft und damit die Sicherheit von Land und Leuten.
Die Milizarmee ist also nicht nur eine militärische Frage. Es ist auch eine Daseinsfrage und letztlich auch eine Frage der staatlichen Souveränität. Darum ist das für mich in der heutigen Zeit die mit Abstand wichtigste Weichenstellung. Nur durch unsere Milizarmee haben wir eine positive Verbindung zwischen Bevölkerung und Landesverteidigung. Und das braucht es.
Herr Korpskommandant Blattmann, herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch. •
«Deutschland bereitet sich vor: Soll gegen die eigene Bevölkerung gekämpft werden? In aller Heimlichkeit entsteht auf einem der grössten deutschen Truppenübungsplätze Altmark in Sachsen-Anhalt auf 232 km2 (!) Europas grösstes Übungszentrum für das Training zur Aufruhrbekämpfung (CRS). Speziell im Fokus: das Üben der Niederschlagung von Aufständen der Bevölkerung. Um grösstmögliche Realität zu erreichen, wird eine Geisterstadt mit über 500 Gebäuden auf einer Fläche von 6 km2 für über 100 Millionen Euro gebaut. So sollen Industrieanlagen, eine Anbindung an ein Stück fiktiver Autobahn und ein Flugplatz mit 1700 m Graspiste im Projekt einbezogen sein. Die Bundeswehr als verantwortliche Bauherrin will noch in diesem Jahr mit dem Bau der Geisterstadt beginnen.»
Quelle: Vertraulicher Schweizer Brief Nr. 1331 vom 10.8.2012
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