von Felix Staratschek
Mit grosser Sorge betrachte ich die Bestrebungen, die Vorgaben unseres Grundgesetzes für die Europa- und Aussenpolitik dadurch ausser Kraft zu setzen, dass man per Volksentscheid nach Artikel 146 Grundgesetz über eine neue Verfassung abstimmt. Nachdem der Verein «Mehr Demokratie» seine Kampagne «Volksentscheid, sonst klagen wir» Ende März 2012 begonnen hat, springen nun immer mehr Politiker auf diesen Zug auf. Nachdem Schäuble im Spiegel kundtat, dass so ein Volkentscheid schneller kommen könnte, als gedacht, und nachdem ich in der «Rheinischen Post» schon am 2. Juli 2012 gelesen habe, dass Steinbrück (SPD) es für möglich hält, so einen Volksentscheid durch ein Bündnis von Politik, Wirtschaft und Medien zu gewinnen, lese ich nun auch in der Tagespresse oder höre in Nachrichtensendungen, dass sich immer mehr Politiker für einen Volksentscheid aussprechen.
Ich bin ein Befürworter der direkten Demokratie im Sinne der Aussage von Verfassungsrichter Papier, dass über alles, was der Bundestag entscheiden darf, auch Volksentscheide denkbar sind. Aber darum geht es hier nicht. Es geht den Politikern darum, jetzt nur einmalig – und danach wahrscheinlich nie mehr – einen Volksentscheid zu fordern. Es geht nicht darum, die Demokratie zu verbessern, sondern es geht darum, Verfassungsklägern, die sich in Fragen der internationalen Zusammenarbeit an das Bundesverfassungsgericht wenden, durch eine neue Verfassung die Klagemöglichkeiten zu nehmen. Was die Politiker wollen, ist eine Revolution. Sie wollen bei ihrem Tun nicht mehr gestört werden, denn derzeit haben laut Verfassungsrichter Vosskuhle («Rheinische Post» vom 5. März 2012) alle Bürger das Recht, Klagen einzureichen, wenn diese den Identitätskern des Grundgesetzes verletzt sehen.
Im Lissabon-Urteil haben die Verfassungsrichter klare Aussagen gemacht, was mit dem Grundgesetz möglich ist:
In der Randnummer 244 des Lissabon-Urteils schreiben die Richter: «Weder darf die europäische Integration zu einer Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems in Deutschland führen noch darf die supranationale öffentliche Gewalt für sich genommen grundlegende demokratische Anforderungen verfehlen.»
Aus Randnummer 233: «Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht, Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten für die Europäische Union begründet werden können. […] Auch eine weitgehende Verselbständigung politischer Herrschaft für die Europäische Union durch die Einräumung stetig vermehrter Zuständigkeiten und eine allmähliche Überwindung noch bestehender Einstimmigkeitserfordernisse oder bislang prägender Regularien der Staatengleichheit kann aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts allein aus der Handlungsfreiheit des selbstbestimmten Volkes heraus geschehen. Solche Integrationsschritte müssen von Verfassungs wegen durch den Übertragungsakt sachlich begrenzt und prinzipiell widerruflich sein.»
Da ESM und Fiskalpakt weder widerruflich sind noch in ihrer Wirkung und Veränderbarkeit sachlich begrenzt, dürften gemäss dem Lissabon-Urteil diese Dinge gar nicht beschlossen oder umgesetzt werden, solange das Grundgesetz gilt. Und deswegen meinen immer mehr Politiker eigentlich, das Grundgesetz muss weg! Nur sagt es keiner wörtlich.
Und in Randnummer 228 heisst es: «Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.»
Erstaunlich ist, was der Verein «Mehr Demokratie» in seiner Verfassungsbeschwerde schreibt. Nachdem sie auf über 100 Seiten in ihrer Klage dargelegt haben, warum der ESM und Fiskalpakt abzulehnen sind, steht da dieser Satz: «V. Zum Verfahren: Nur auf diesem Weg kann demokratische Legitimation für die mit ESM, Fiskalvertrag und des Art. 136 Abs. 3 AEUV einhergehenden Integrationsschritte, für den Systemwechsel in der Wirtschafts- und Währungsunion und die Aufgabe staatlicher Souveränität in einem, wenn nicht dem zentralen Politikfeld der Union vermittelt werden.» Während es in den Werbetexten für die Beteiligung an dieser Klage immer hiess, es ginge gegen den ESM und Fiskalpakt, wird hier erklärt, wie man diesen beiden Verträgen «demokratische Legitimation» verschafft. Wie das geht, steht dann genau vor diesen Zeilen, indem man über Artikel 146 eine neue Verfassung zur Abstimmung stellt! Hat man damit nicht die über 37 000 Mitkläger betrogen? Man behauptet, hier kann man bei einer Klage gegen ESM und Fiskalpakt mitmachen, während ziemlich am Ende erklärt wird, wie man beides legal durchsetzen kann!
Woran scheitert denn im Grundgesetz, dass die Politiker in Bundestag und Bundesrat den ESM und Fiskalpakt einfach durchwinken können? Das Haupthindernis heisst Artikel 79, Absatz 3, Grundgesetz: «Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche […] die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundrechte berührt werden, ist unzulässig». Das ist die Ewigkeitsklausel im Grundgesetz, die die Artikel zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen, zum Bezug des Grundgesetzes zu den Uno-Menschenrechten «als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit» und zur Bindung der Gesetzgebung an die nachfolgenden Grundrechte nennt. Artikel 20 enthält wichtige Aussagen, wie der Staat verfasst ist: Alle Staatsgewalt im demokratischen und sozialen Bundesstaat geht vom Volke aus durch Wahlen und Abstimmungen, und wir haben ein Widerstandsrecht, wenn diese Ordnung beseitigt werden soll. Dass künftig Staatsgewalt von ESM und Fiskalpakt-Akteuren ausgehen soll, ist mit diesem Artikel nicht vereinbar.
Unser Grundgesetz wurde nach der schweren Katastrophe des Zweiten Weltkrieges beschlossen. Unter dem Eindruck des Erlebten wollten die Väter des Grundgesetzes alles tun, dass nie mehr jemand am Parlament und Volk vorbei ermächtigt werden kann, Politik durchzusetzen. Ein Gesetz hatte 1933 den Nazis die Staatsgewalt übertragen und damit die Regierung Hitler ermächtigt, ohne Parlament und Volkswillen zu regieren.
Dr. Thomas Dehler (FDP) wird in der Sitzung vom 11. Januar 1949 des allgemeinen Redaktionsausschusses (ARA) des Parlamentarischen Rats zitiert, einem Revolutionär solle nicht die Möglichkeit gegeben werden zu behaupten, die Verfassung sei auf legalem Wege ausser Kraft gesetzt worden. In der Hauptausschuss-Sitzung vom 12. Januar 1949 hat er gesagt: «Auf jeden Fall halte ich es für notwendig, dass wir eine Barriere errichten, nicht in dem Glauben, dass wir dadurch einer Revolution begegnen können, aber doch in dem Willen, einer Revolution die Maske der Legalität zu nehmen.»
Schockierenderweise hatte ausgerechnet der Richter am Bundesverfassungsgericht und ESM-Prozessbeteiligte Prof. Dr. Peter Michael Huber in dem am 19. September 2011 in der «Süddeutschen Zeitung» veröffentlichten Interview, «Keine europäische Wirtschaftsregierung ohne Änderung des Grundgesetzes», über die Öffnung des Grundgesetzes für eine «supranationale Wirtschaftsregierung» nachgedacht. Er stellte sich dies vor in der Form einer durch eine Volksabstimmung im Sinne von Art. 146 Grundgesetz zu legitimierenden neuen Verfassung für Deutschland, welche im Vergleich zum Grundgesetz nur wenige Änderungen von Artikel 23 Grundgesetz und von der Ewigkeitsgarantie (Artikel 79, Absatz 3, Grundgesetz) bräuchte in der Form, dass man diese unter den Vorbehalt einer europäischen Wirtschaftsregierung stellen würde. Gleichzeitig stellte er fest, dass das «in der Sache» eine «Revolution» wäre.
Interessant ist, was bisher in Karlsruhe am 10. Juli 2012 passierte. Bei der Behandlung der von den Klägern eingereichten Eilanträge wurden die umfassenden Eilanträge und die Anwesenheit der Klägerin Sarah Luzia Hassel Reusing gar nicht erwähnt. Schon in der «Süddeutschen Zeitung» vom Freitag, dem 29. Juni 2012, wird die Klage von Frau Reusing, die eine ordentliche Aktennummer erhalten hat und nicht abgewiesen wurde, nicht erwähnt. Es heisst nämlich in dem Artikel: «Sämtliche Schriftsätze liegen der Süddeutschen Zeitung vor.» «Alle Klagen sind von Koryphäen ihres Faches ausgearbeitet worden.» «Sämtliche Verfassungsklagen gegen den ESM und Fiskalpakt kulminieren daher in der Feststellung: Nun sei die verfassungsgebende Gewalt des Souveräns, also das Staatsvolk, gefordert.» Ob die «Süddeutsche Zeitung» hier Opfer vorenthaltener Infos ist oder ob hier gezielt die Unwahrheit gesagt wird, weiss ich nicht. Fakt ist, dass die Menschenrechtlerin Sarah Luzia Hassel Reusing durch ihre Klage prüfen lassen will, ob ESM und Fiskalpakt mit den Grundwerten unseres Grundgesetzes vereinbar sind. Frau Hassel Reusing tritt auch für Volksentscheide ein, fordert diese aber nicht für Gesetze, deren Verträglichkeit mit der Verfassung geprüft werden müsste.
Ich habe grosse Zweifel, ob eine Gesellschaft nach den Ideen der christlichen Soziallehre noch möglich ist, wenn Menschenrechte und Solidarität, Personalität, Subsidiarität und Gemeinwohl sich den Interessen des Grosskapitals unterordnen müssen? Der Ehemann von Frau Reusing ist auf You-Tube in einigen Videos zu hören. Die Klage der Reusings wird vom Netzwerk Volksentscheid unterstützt, und jeder kann sich dort mit dieser Klage solidarisieren: <link http: netzwerkvolksentscheid.de esm-klage>netzwerkvolksentscheid.de/esm-klage/ . Auf meinem Viertürmeblog begründe ich ausführlich, warum ich aus der Klage des Vereins «Mehr Demokratie» ausgestiegen bin, und berichte auch über Neuigkeiten bzgl. der Reusing-Klage. Es wäre ein schönes Zeichen, wenn sich jetzt viele Demokraten und Christen mit der Reusing-Klage solidarisieren würden, weil diese meines Erachtens die einzige Klage ist, die dazu führen kann, dass Europa künftig noch den Namen «christliches Abendland» verdient. Es wäre schön, wenn sich viele Leser an Mitglieder der Freien Wähler, der ÖDP und der Piratenpartei wenden, mit der Bitte, dass diese Gruppen aus der Mehr Demokratie-Klage aussteigen und unser Grundgesetz verteidigen. Auch über www.abgeordnetenwatch.de kann man sich an seine örtlichen Bundestagabgeordneten wenden, mit der Frage, wie diese zur Ewigkeitsklausel in unserem Grundgesetz stehen. •
Literatur:
Eilanträge von Sarah Luzía Hassel Reusing: <link http: oedpbergischland.blogspot.com eilantrage-zur-verfassungsklage-von.html>oedpbergischland.blogspot.com/2012/08/eilantrage-zur-verfassungsklage-von.html
Steinbrück pro Volksentscheid: <link http: nachrichten.rp-online.de politik grundgesetz-fuer-europa-1.2894086>nachrichten.rp-online.de/politik/grundgesetz-fuer-europa-1.2894086
Grundgesetz und Europa. <link http: nachrichten.rp-online.de politik grundgesetz-gegen-eu-staat-1.2740054>nachrichten.rp-online.de/politik/grundgesetz-gegen-eu-staat-1.2740054
Auszug vom Huber-Interview der «Süddeutschen Zeitung»: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verfassungsrichter-huber-im-sz-gespraech-eine-europaeische-wirtschaftsregierung-ist-heikel-1.1145416
Eröffnung der Verhandlung in Karlsruhe: <link http: www.youtube.com>www.youtube.com/watch
Videokanal von Sarah und Volker Reusing:
<link http: www.youtube.com user>www.youtube.com/user/UNSERPOLITIKBLOG
Verfassungsbeschwerde von «Mehr Demokratie»
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