von Hildegard Stausberg
Am 1. August begehen die Eidgenossen ihren Nationalfeiertag. Man belächelt sie immer noch gern – dabei täten die kriselnden Staaten Europas gut daran, das Schweizer Erfolgsmodell zu studieren.
Eine Landkarte Europas Anfang der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts: Im Herzen liegt die neutrale Schweiz, eingekesselt von ihr nicht wohlgesonnenen Staaten. Im Norden das nationalsozialistische Deutschland, im Süden das faschistische Italien, im Westen das den Nazis ergebene Vichy-Frankreich, Österreich, der alte geschichtsträchtige Nachbar, nun als «Ostmark» Berlin unterstellt.
Der einzige treue Verbündete Berns blieb das angrenzende und durch eine Zollunion assoziierte Herzogtum Liechtenstein, eine konstitutionelle Erbmonarchie von gerade einmal 160 Quadratkilometern – ohne Armee.
Jeder, der heute in Deutschland abfällig über die Schweiz redet, sollte sich vergegenwärtigen, was sie damals geleistet hat. In jenen Jahren entwickelte die Schweiz einen absoluten Verteidigungswillen. Im Falle eines deutschen Überfalls war die Preisgabe des Mittellandes geplant mit einem Rückzug in die Alpen, die bis auf den letzten Mann verteidigt werden sollten.
Wer die Schweiz für ihre – partiell notwendige – Kooperation mit den Nazis schilt, tut dies oft und gerne mit der besserwisserischen Arroganz der Nachgeborenen. Kaum einem anderen Land in Europa verdankt das geschundene Nachkriegsdeutschland so viel wie der Schweiz: Auf allen Ebenen versuchte Bern, die junge Bundesrepublik wieder in den Alten Kontinent zu integrieren.
Wirtschaftlich brachten die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg der Schweiz einen dauerhaften Aufschwung, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Die Schweiz selbst ist ja eigentlich nicht reich, sie lebt vom Fleiss und der Erfindungsgabe ihrer Bürger und von der strategisch einmaligen Lage im Herzen Europas.
Deshalb wurde ihr Gebiet immer wieder zum Zankapfel europäischer Grossmächte, deshalb wurde sie vor dem 20. Jahrhundert immer wieder überfallen und ausgeraubt.
Überleben konnte sie als Nation nur, weil es ihr gelang, eine «Idée Suisse» zu entwickeln, einen Grundkonsens über die schweizerische Identität mit ihrem speziellen schweizerischen Wertekanon. Dazu gehört die fein austarierte Balance zwischen den unterschiedlichen Gruppen der alemannischen (nicht deutschen!) Schweiz mit denjenigen in den Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sprechenden Kantonen: Die Schweiz ist die erste multikulturelle Nation der Welt.
Dazu gehören ein fest verankerter Minderheitenschutz, ein – ungeschriebener – Sprachenproporz in den wichtigsten Bundesinstanzen, eine dezentrale rechtsstaatliche Verwaltung und vor allem eine dezentrale Wirtschaft.
Der Publizist Christophe Büchi beschreibt in seinem Buch «Der Röstigraben» das Verhältnis zwischen den «deutschen» und den «lateinischen» Landesteilen. Dabei zeigen die letzten Jahre, dass vor allem das Stimmverhalten der ehedem als besonders «rebellisch» geltenden Minderheit der französischsprachigen, also «welschen» Schweiz sich demjenigen in den alemannischen Landesteilen annähert.
Allerdings zeigte die jüngste eidgenössische Volksabstimmung über die Frage, ob es zwei Wochen mehr Ferien geben solle, doch Unterschiede: Die Mehrheit der Schweizer Stimmbürger lehnte dies zwar ab, im französischsprachigen Teil wäre sie aber fast zugunsten des Urlaubs ausgegangen.
Dennoch werden die markanten Abstimmungsunterschiede früherer Zeiten weniger. Das liegt auch daran, dass nicht nur die «germanischen», sondern auch die «romanischen» Landesteile gute Jahre hinter sich haben.
Die Schweiz erfand schon 2001 die Schuldenbremse und führte sie per Volksentscheid ein. In den letzten Jahren erwirtschafteten die Eidgenossen jeweils Haushaltsüberschüsse von im Schnitt 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dergleichen hat es in Deutschland seit 1969 nicht mehr gegeben.
Häufig wird übersehen, dass die Schweiz eine veritable Industriemacht ist: Mit einem Wert von rund 100 Milliarden Schweizer Franken ist die Industrieproduktion in absoluten Zahlen doppelt so hoch wie diejenige Singapurs oder Norwegens. Der liberale Think tank avenir suisse weist darauf hin, dass sich zum hohen Wert der Industrieproduktion eine konsequente Markenpflege gesellt.
Erst dadurch wird es möglich (zusammen mit der intensiv betriebenen Automatisierung), trotz extrem hoher Arbeitskosten noch in der Schweiz zu produzieren.
Bemerkenswert ist auch, dass die Schweiz wertmässig pro Kopf rund 80 Prozent mehr exportiert als Deutschland, der angebliche «Exportweltmeister». Dagegen erwirtschaftete der Finanzplatz im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts nur etwa 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die bis zu 17 Milliarden Schweizer Franken, die der Finanzsektor jährlich an Steuern entrichtet, entsprechen nur zwischen 12 und 16 Prozent des gesamten Schweizer Steueraufkommens.
Dennoch macht sich die Kritik gerade in Deutschland immer stärker am Finanzplatz Schweiz fest: Dieser agiere undurchsichtig und biete sich an als «Schwarzgeldparadies». Dabei klammert die Debatte die Kernfrage aus: Warum wollen Ausländer denn ihr Vermögen in der Schweiz anlegen? Gibt es dort geheime Gnome, die damit tief in den Alpen einen Goldschatz anlegen?
Mitnichten: Ausländer sind sogar in die Schweiz gekommen, als man vor einigen Jahrzehnten gar kein Geld für sein Depot bekam, sondern mit Negativzinsen rechnen musste.
Treibende Kraft für ein Engagement war immer die politische und wirtschaftliche Unsicherheit in vielen Ländern dieser Welt – gepaart mit Inflation, Verstaatlichung und Enteignung. In der Schweiz wiederum blieben die Verhältnisse stabil. Kann man ihr das vorwerfen?
Längst profitiert der deutsche Fiskus von den Vermögen, die deutsche Staatsbürger in der Schweiz angelegt haben – über die sogenannte Abgeltungssteuer auch von «Schwarzgeldkonten». Gerade deshalb könnte die jetzt betriebene Hatz langfristig auch kontraproduktiv sein: Wird die berechtigte Angst vor einem Staat, der sich durch Rechtsbruch Daten verschafft, nicht viele Anleger nach neuen Ufern Ausschau halten lassen? Vertrauen in die Bundesrepublik schafft man so jedenfalls nicht. •
Quelle: weltonline vom 14.8.2012
Föderalistische Gesinnung – ein Friedensmodell und ein Modell des Ausgleichs
«Diese föderalistische Gesinnung […] überwand das Misstrauen zwischen Stadt und Land, sie stellte die kleinen Orte den grossen gleich, sie ermöglichte es, die religiöse Spannung auszuhalten und innere Zwistigkeiten zu überwinden. Sie legte dem Sieger in den sechs Bürgerkriegen, welche die Schweiz erlebt hat, die Mässigung auf, welche ihn hinderte, seine Macht zu missbrauchen. Nie wurde der Unterlegene in seiner Existenz oder in seiner Eigenart angetastet. Die Friedensbedingungen wurden nicht nach der Grösse des Waffenerfolges abgemessen, sondern nach Rechtsgrundsätzen, die mit dem Sinn der Bundesverträge vereinbar waren. Der Sieg in den Bürgerkriegen wurde gewissermassen als Gottesurteil hingenommen, das zwischen zwei verschiedenen Rechtsauffassungen zu entscheiden hatte.»
Quelle: Wolfgang von Wartburg: Geschichte der Schweiz. München 1951
«Nur in einer übersichtlichen, lebensnahen Gemeinschaft vermag sich der Normalbürger das zu erwerben, was man als politisches Augenmass, als Sinn für die menschlichen Proportionen zu bezeichnen pflegt. Nur hier lernt er im täglichen Gespräch die berechtigten Anliegen seiner anders gesinnten und anders interessierten Nachbarn einigermassen begreifen und ihnen Rechnung zu tragen; nur hier entwickelt sich auf dem Boden der Freiheit jenes Minimum an Gemeinschaft, das den Hang zum Autoritarismus wie zur Anarchie wirksam einzudämmen vermag. In diesem Sinne sind und bleiben autonome Kleinräume unersetzliche Bürgerschulen, ohne die gerade der freiheitlich-demokratische Staat in seinen Wurzeln verdorren müsste.»
Quelle: Adolf Gasser: Gemeindefreiheit als Rettung Europas. Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung. Verlag Bücherfreunde, Basel 1947
«Die Vorzüge, die ein fremder Beobachter an der Regierung der Schweiz entdeckt, wenn er einen Vergleich mit anderen ausgewachsenen Demokratien des Altertums und der Neuzeit macht, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine Stabilität, die im Bund auffallend ist und in den Kantonen, wenn auch nicht im gleichen Umfange, aber doch ziemlich allgemein herrscht. […] Eine Verwaltung, die unvergleichlich sparsam und im allgemeinen tüchtig ist. […] Für alle Zweige der Erziehung wird, ausser in einer sehr geringen Anzahl von Kantonen, ausgiebig Vorsorge getroffen. […] Die Strassen sind in Anbetracht der Schwierigkeiten eines gebirgigen Landes, in dem Erdrutsche und Überschwemmungen nach der Schneeschmelze vorkommen, ausgezeichnet. […] Die Freiheit des Einzelnen wird respektiert, der Ton des öffentlichen Lebens hält sich auf einem hohen Niveau, und die Politik ist von Korruption nicht befleckt. Das starke Gefühl für staatliche Pflichten zeigt sich in den im grossen Umfange geleisteten Diensten in Kantonen und Gemeinden.»
Quelle: James Bryce, schottischer Staatstheoretiker, über die Schweizerische Demokratie kurz vor dem Ersten Weltkrieg, in: Peter Dürrenmatt: Schweizer Geschichte.Verlag Hallwag AG, Bern 1957
Während der ganzen Dauer des Krieges musste Bern ein ununterbrochenes Feuer von Protesten aus Berlin über sich ergehen lassen. Alle Schweizer Zeitungen waren in Deutschland verboten. Was die deutsche Presse anbelangt, so machte diese keine Umschweife. Sie schämte sich nicht, die Schweizer als Parasiten Europas, als lächerliche Zwerge darzustellen. Oder wie folgt: «Selbst wenn ihr mit eurem schwachen Verstand, eurer Unverschämtheit, eurem vom Messdienst in den Synagogen verschmutzten Gehirn nicht in der Lage seid, unsere Sprache zu verstehen, so sagen wir euch offen und ehrlich: Ihr habt zu viel Geschirr zerschlagen. Euer Schuldenkonto ist unermesslich gross. Es nützt euch nichts, euch jetzt zu verstecken und die Unschuldigen zu spielen. Im neuen Europa, das aus den vom Krieg verursachten Ruinen und den Opfern unserer heldenhaften Soldaten geboren werden wird, wird es keine Müllhaufen für Emigranten und Diener der Juden geben.» Dieser Kommentar erschien am 4. Juli 1940, kurz nach der französischen Niederlage. Man muss wissen, dass Nazideutschland seine eigene Definition von Neutralität hatte, dergemäss nicht nur die Regierung und die Armee neutral sein müssten, sondern auch der Rest des Landes und vor allem die Zeitungen und das Radio. So gingen die Deutschen sogar so weit, den Rücktritt einiger Redaktoren zu fordern.
Quelle: Christian Favre, La Suisse avant et pendant la Seconde Guerre mondiale.
Editions Baudelaire, 2011, S. 71f.
(Übersetzung Zeit-Fragen)
Kommen wir aber nochmals auf die Absichten des Reichs gegenüber der Schweiz zurück. Diese waren weit davon entfernt, wohlwollend zu sein; im Klartext, die Schweiz machte Hitler rasend. Er wusste die Armee und Guisan eindeutig auf der Seite der Alliierten; dies prangerte er wiederholt an und ging sogar so weit, auf Schweizer Politiker Druck auszuüben, um sie und Guisan zu entzweien.
Hitler hatte erklärt, die Strategie der Nationalsozialisten bestehe darin, den Feind «von innen her» zu vernichten, ihn durch sich selbst schlagen zu lassen. Das gegnerische Volk müsse demoralisiert und bereit sein zu kapitulieren. Genau das beabsichtigte Hitler in der Tat für die Schweiz. Im übrigen sagte er: Wir haben mitten im Feindesland überall Freunde; wir werden uns ihrer zu bedienen wissen. Er sprach nicht unbedingt von den Fröntlern oder den Schweizer Nazis, sondern sehr wohl von Personen, die in verschiedenen Bereichen, wie beispielsweise in Banken oder der Industrie, wichtige Funktionen innehatten. Hitler hatte bereits vor dem Krieg zu diesen Personen in Zürich Kontakt aufgebaut und wusste deshalb, dass er in der Folge auf sie zählen konnte.
Quelle: Christian Favre, La Suisse avant et pendant la Seconde Guerre mondiale.
Editions Baudelaire, 2011, S. 70
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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