«In Baden-Württemberg wächst die Kritik an den von der grün-roten Regierung geplanten Bildungsreformen»

«In Baden-Württemberg wächst die Kritik an den von der grün-roten Regierung geplanten Bildungsreformen»

von Karl Müller

Der Artikel von Heike Schmoll, den die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» am 25. Oktober veröffentlicht hat (Artikel auf Seite 5), ist von grundlegender Bedeutung für ganz Deutschland und auch für andere europäische Staaten mit einem bislang guten staatlichen Schulsystem, zum Beispiel die Schweiz und Österreich.
Was derzeit an vielen Orten unter dem Vorwand, das Schulsystem kindgerechter und zugleich zukunftsfähiger zu gestalten, an Veränderungen durchgesetzt wird, ist eine riesige Mogelpackung. Tatsächlich sollen nach den Vorgaben falscher Theorien und unter dem Diktat der Finanzmärkte und milliardenschwerer Investoren die staatlichen Schulen massiv an Niveau verlieren und die Türen für eine weitere Privatisierung der Schulen geöffnet werden. Die zu erwartenden Schritte dabei: Man tut zuerst so, als wenn man nur das Beste für alle Kinder und Jugendlichen will und deshalb das bisherige Schulsystem radikal umkrempeln müsse – wird sich dann aber überrascht von den katastrophalen Folgen der durchgesetzten Veränderungen zeigen und die Schuld daran auf andere schieben – um schliesslich den Staat aus der Verantwortung für ein gutes Schulsystem entlassen zu wollen – obwohl auch die deutsche Verfassung diese staatliche Verantwortung festschreibt (Artikel 7 Grundgesetz).

Man wollte im D-Zug-Verfahren und in konzertierter Aktion Fakten schaffen

Dass dabei ein deutsches Bundesland wie Baden-Württemberg heute an der «Spitze der Bewegung» steht, ist besonders grotesk, war doch gerade dieses Bundesland bislang eines mit einem in vielerlei Hinsicht erfolgreichen staatlichen Schulsystem. Aber die neue grün-rote Landesregierung unter ihrem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann nutzte ganz offensichtlich die Schockstarre nach den von CDU und FDP verlorenen Landtagswahlen vom März 2011 aus, um in einer konzertierten Aktion und im D-Zug-Verfahren Fakten zu schaffen.
Konzertierte Aktion heisst: Die Politik der grün-roten Landesregierung ist nur ein Glied in einer Kette weitergehender Pläne und Interessen, die europäische und internationale Dimensionen haben – politisch und materiell. Vieles von dem, was jetzt in Baden-Württemberg und anderswo umgesetzt werden soll, kommt aus den USA und wurde für Europa von der OECD vorgespurt.
Im politischen Tagesgeschäft wird dabei mit Tricks und Finessen gearbeitet. So der grüne Ministerpräsident, der nach einigem Widerstand gegen die vorpreschende Politik seiner Kultusministerin plötzlich von einem künftigen zweigliedrigen Schulsystem mit Gemeinschaftsschulen und Gymnasien im Lande sprach und so die noch einflussreichen Gymnasien im Land zu beschwichtigen versuchte.

Es droht eine Auflösung jeder Art von vernünftiger Schule und Schulführung

Tatsache ist jedoch, dass es nicht in erster Linie um die Frage einer Ein-, Zwei- oder Dreigliedrigkeit des allgemeinbildenden Schulsystems geht, also nicht um eine wiederaufgewärmte Gesamtschuldebatte, sondern es droht eine Auflösung jeder Art von vernünftiger Schule und Schulführung. Dem dient die radikale Heterogenisierung der Schülerschaft innerhalb von Schulen und Schulstufen (der neuste Marketingschrei der Landesregierung für ihre Schulen lautet – platter kann es nicht sein – «Vielfalt macht schlauer»), dem dient das neue «pädagogische Konzept» mit Stichworten wie «Individualisierung», «selbstgesteuertes Lernen», Abschaffung von Klassenverbänden, Abschaffung des Lehrers mit seinen bisherigen Aufgaben und seiner bisherigen pädagogischen Verantwortung.
Dabei wird übergangen, dass mittlerweile ausreichend wissenschaftliche Studien über den Zusammenhang zwischen Unterrichtsgestaltung und Schulerfolg vorliegen. Die wohl bislang umfangreichste dieser Studien ist die 2009 veröffentlichte Metastudie von John Hattie: «Visible Learning». In einem Forschungsbericht zu dieser Studie heisst es über erfolgreichen Unterricht: «Ein solcher Unterricht wird mit ‹Direkter Instruktion› umschrieben und ist offenen Lernmethoden wie einem entdeckenden, problemorientierten, forschenden, experimentierenden und konstruktivistischen Lernen überlegen». Weiter heisst es dort: «Die Ergebnisse zeigen, dass aktiver und von Lehrpersonen gelenkter Unterricht effektiver ist als ein Unterricht, bei dem die Lehrenden als Lernbegleiter und Lernunterstützer nur indirekt in das Geschehen eingreifen». Und dann heisst es vor allem: «Gerade schwächere Schülerinnen und Schüler kommen mit offenen Lernkontexten weniger klar, weil ihnen dazu die kognitiven ‹Landkarten› zur Selbstorganisation der Lernprozesse fehlen, weil sie zu sehr auf sich allein gestellt sind und zu wenig orientierende Hilfestellungen erhalten und deshalb eine engere ‹Führung› mit kürzeren Anleitungsintervallen benötigen.»*

Die Bertelsmann Stiftung mischt mit

Aber solche Erkenntnisse kümmern die politischen Strategen offenbar wenig. Und es zeigt sich auch hier, wie sehr die grün-roten Landespolitiker nur Glied einer Kette sind. Der Hinweis auf eine Ende Oktober vorgestellte neue Studie der Bertelsmann Stiftung über die vermeintlich zu wenigen Auf- und die zu vielen Absteiger im deutschen Schulsystem mag hier genügen. Das aufschlussreiche Fazit dieser Studie lautet nämlich, «dass Schulen ihren Unterricht am pädagogischen Prinzip der individuellen Förderung ausrichten und Lehrer in Aus- und Fortbildung die Kompetenz dafür erwerben» sollen. Anders als der Medien-Mainstream kommentierte der «Deutsche Lehrerverband», das ist der Dachverband verschiedener Lehrerverbände, die neue Studie aus dem Hause Bertelsmann am 31. Oktober übrigens als «höchst tendenziös und völlig wertlos». Die Studie sei von Leuten erstellt worden, «die mit der Gemeinschaftsschule dezidiert die Ideologie der Einheitsschule vertreten». Die Tatsache, dass insbesondere die beruflichen Schulen vielen Schülern beste Aufstiegschancen böten, werde von Bertelsmann verschwiegen.
Der Artikel von Heike Schmoll thematisiert die nun bekanntgewordenen Pläne der grün-roten Landesregierung für einen Einheitslehrer für die Sekundarstufe I (5.–10. Schuljahr in allen Schularten) sowie für nur noch einen einheitlichen Bildungsplan für alle allgemeinbildenden Schulen nach dem «pädagogischen» Muster der Gemeinschaftsschulen.

Kritische Direktorenvereinigung

Auch hier geht die Landesregierung in einer konzertierten Aktion vor. Dies zeigt die Medienreaktion in Baden-Württemberg auf eine sehr kritische Pressemitteilung der Direktorenvereinigung der Gymnasien im Lande vom 19. Oktober. Fast kein Medium des Bundeslandes hat über die scharfe Kritik dieser wichtigen Vereinigung berichtet. Sonst hätte die Öffentlichkeit nämlich mitbekommen, dass die «Schulleitungen der Gymnasien in Baden-Württemberg die jetzt vorgestellte Reform der Bildungspläne für verfehlt» halten und dass «die jetzt gestartete Reform im Verbund mit den anderen anstehenden Veränderungen des Schulwesens den Fortbestand und die Zukunftsfähigkeit unserer Gymnasien […] massiv gefährdet». Die Direktoren der Gymnasien fügten hinzu: «Es wird dabei [vom Kultusministerium] nicht einmal verschwiegen, dass eine teilweise Auflösung der Schularten durch die Erstellung des neuen Bildungsplanes durchaus beabsichtigt ist.»
Auch die politische Opposition im Landtag von Baden-Württemberg kritisierte die Pläne für nur einen Bildungsplan für alle allgemeinbildenden Schulen: «Es gibt keine Grundschulempfehlung mehr, es soll einen gemeinsamen Bildungsplan geben, und es ist ein Abschulungsverbot geplant, das heisst, aus den Gymnasien wird eine Gemeinschaftsschule, egal, welches Schild an der Tür klebt.» Geplant sei ein «Anschlag auf die Gymnasien». Man muss erweitern: ein Anschlag auf alle staatlichen Schulen.

Mit Manipulationstechniken werden die Eltern angegangen …

Mit Mitteln der Manipulation (missbräuchliche Verwendung positiv besetzter Begriffe) versucht die grün-rote Landesregierung, ihr Projekt Gemeinschaftsschule und die Anpassung des gesamten Schulsystems an dieses «Muster» den Eltern schmackhaft zu machen. So wird ständig wiederholt, die Gemeinschaftsschulen seien «sozial gerecht», «demokratisch» und «leistungsstark». Den Eltern wird versprochen, nur in den Gemeinschaftsschulen werde ihr Kind ganz individuell, auf seine Persönlichkeit und sein Leistungsvermögen zugeschnitten, gefördert. In Werbebroschüren und Werbefilmen des Kultusministeriums, aber auch den zahlreichen apologetischen Medienberichten, wird die Gemeinschaftsschule als pädagogisches Paradies auf Erden angepriesen: absolut kindgerecht und zugleich ganz im Interesse der Zukunft Baden-Württembergs. Die Eltern bisheriger Hauptschüler werden sehr bearbeitet (es gibt bislang fast keine Realschulen und Gymnasien, die Gemeinschaftsschule werden wollen). Ihnen wird eine triste Zukunft der Hauptschulen an die Wand gemalt und zugleich die Gemeinschaftsschule als die grosse Chance präsentiert. Mit der Aufhebung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung zu Beginn des vergangenen Schuljahres hat das Ministerium auch selbst dafür gesorgt, dass die Hauptschulen tatsächlich vor dem Ausbluten stehen.

… aber der Widerstand wächst

Die Manipulationsversuche der Landesregierung greifen allerdings nicht, wenn informiert und aufgeklärt wird. Auch in Baden-Württemberg sind jetzt Eltern- und Bürgerinitiativen aktiv geworden. Heike Schmoll hat auch hierauf hingewiesen. Zu Recht hatte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schon am 23. Oktober geschrieben: «In Baden-Württemberg wächst die Kritik an den von der grün-roten Regierung geplanten Bildungsreformen.»    •

*    Alle Zitate aus: Ulrich Steffen, Dieter Höfer: Was ist das Wichtigste beim Lernen? Die pädagogisch-konzeptionellen Grundlinien der hattieschen Forschungsbilanz aus über 50 000 Studien, 12.9.2011; in: SchulVerwaltung, Ausgabe Hessen/Rheinland Pfalz, 16 (2011), Heft 11, S. 294–298

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