von Karl Müller
Am Tag der US-Präsidentenwahl veröffentlichte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» ein Interview mit dem prominenten Neokonservativen Robert Kagan, der zugleich aussenpolitischer Berater des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney war. Kern des Interviews war die Aussage, die USA würden auch im 21. Jahrhundert ihre Position in einer von ihnen dominierten unipolaren Welt behalten. Eine multipolare Welt, gar eine Welt gleichberechtigter Staaten, wäre «weder stabil noch friedlich»; denn es gäbe dann keinen «Weltpolizisten» mehr. Das wichtigste, was die USA tun müssten, wäre, ihren Militärhaushalt zumindest auf dem gegenwärtigen Stand zu halten.
Robert Kagan gehört zu den US-Amerikanern, die seit vielen Jahren recht unverblümt sagen, was sie vom Rest der Welt halten und dass der Welt nichts Besseres passieren könnte, als sich der US-Politik unterzuordnen. Man muss hinzufügen: Auch wenn die Formulierungen und der Stil je nach Färbung schwanken, ist das im Grunde genommen die feste Überzeugung des Grossteils der US-amerikanischen Eliten.
Spätestens seit Kishore Mahbubani wissen wir aber auch, dass fast 90 Prozent der Welt nicht so denken. Aber wo steht Europa? Und was fordern wir Bürger europäischer Staaten?
Wir könnten Barack Obama zu seiner Wiederwahl gratulieren, aber auch deutlich machen, was wir fordern.
Wir könnten fordern, dass die europäische Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg – der Wahrheit verpflichtet – aufgearbeitet wird. Jüngst hat ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion der Linken im Europäischen Parlament, Andreas Wehr («Die Europäische Union», 2012, ISBN 978-3-89438-498-2), einen solchen Versuch gemacht und ist zum Ergebnis gekommen, dass das, was später in die Europäische Union mündete, niemals ein europäisches Projekt war, sondern ein US-amerikanisches. Und zwar nicht, um den Frieden in Europa zu sichern, sondern vor allem, um US-Wirtschafts- und US-Finanzinteressen besser durchsetzen zu können.
Wir könnten fordern, dass sich die USA auf die Charta der Vereinten Nationen verpflichten und damit auf den Verzicht von Angriffskriegen sowie auf die verbindliche Achtung der Gleichberechtigung und der Souveränität aller Staaten dieser Welt.
Wir Bürger europäischer Staaten könnten fordern, dass die USA alle US-Stützpunkte ausserhalb ihres Landes schliessen und sich auf das beschränken, was das Recht und auch die Pflicht eines jeden Landes ist: Truppen nur im eigenen Land zu stationieren und nur so viel für das Militär auszugeben, wie zur Verteidigung des eigenen Landes notwendig ist.
Wir könnten auch fordern, dass die USA in ihrer Aussenpolitik künftig weder hard power noch soft power noch smart power anwenden, sondern beginnen, ihre Beziehungen zu anderen Ländern in offenen und gleichberechtigten Verhandlungen zu regeln. Das gilt auch dann, wenn jemand aus den USA Rohstoffe anderer Länder erwerben möchte.
Wir Bürger europäischer Staaten könnten fordern, dass die USA damit aufhören, immer furchtbarere Vernichtungswaffen zu entwickeln und zu produzieren, und statt dessen ehrliche und ernsthafte Abrüstungsinitiativen ergreifen.
Wir könnten fordern, dass die USA damit aufhören, andere Staaten zu destabilisieren. Die Versuche, andere Staaten zu zersetzen, und die Verteufelung anderer Staaten und Regierungen kennen wir in Europa aus der Vorgeschichte aller Kriege. Solche Feindbilder passen nicht mehr in eine Welt, die friedlich und wirklich gleichberechtigt zusammenwachsen soll.
Wir könnten fordern, auch die US-Politik müsse akzeptieren, dass jedes Land seine Wirtschaftsordnung nach dem Willen seines Volkes regelt. Nur das entspricht dem auch von den USA ratifizierten Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Dort heisst es nämlich in Artikel 1, Absatz 1: «Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.»
Es gibt kein überzeugendes Argument dafür, warum die jetzige Weltwirtschaftsunordnung so fortgesetzt werden soll. Und warum jedes Land eine Art von Kapitalismus aufrechterhalten soll, der nur einer Minderheit nutzt, der sozial nicht gerecht ist und der keinen Frieden in der Welt möglich werden lässt.
Selbstverständlich könnten wir Bürger europäischer Staaten noch einiges mehr fordern, damit auch die US-Politik in den kommenden Jahren nicht mehr den Weisungen eines Robert Kagan, sondern der Arbeit an einer friedlicheren und sozial gerechteren Welt dient.
Und mit allen Forderungen würden wir selbstverständlich den Wunsch verbinden, dass die USA auch ihrem eigenen Volk Frieden und Gerechtigkeit bringen.
Schliesslich müssten wir in Europa all das, was wir von den USA fordern, auch von unseren eigenen Regierungen fordern. Solchen Forderungen müssten wir besonderen Nachdruck verleihen – damit bald einmal die Regierungen europäischer Staaten auf der Seite ihrer Bürger stehen. Dies wäre auch für die Zukunft der US-Politik sehr wichtig. •
Artikel 1, Absatz 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte
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