Offener Brief
Sehr geehrter Herr Mißfelder,
die Zitierfähigkeit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» ist sicherlich über jeden Zweifel erhaben. Insofern beziehe ich mich auf die Printausgabe vom 20. November, in der Ihre Äusserungen zu dem offensichtlich bevorstehenden Einsatz deutscher Patriot-Flugabwehrraketen in der Türkei wie folgt wiedergegeben werden:
«Der aussenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mißfelder, warf SPD und Grünen wegen der Äusserungen Verantwortungslosigkeit vor. Er sagte, wenn die Voraussetzungen vorlägen, dann ‹können wir gar nicht anders als unsere Nato-Bündnispflicht zu erfüllen›.»
Noch bevor Sie zaghaft begannen, sich politisch zu engagieren, hatte dieses einstige Verteidigungsbündnis seinen Zweck erfüllt. Seit der Selbstauflösung der Warschauer Vertragsorganisation und dem damit verbundenen Wegfall des einzig möglichen Gegners zwischen 1945 und 1991 suchten die Führungsmacht der Nato und die Fraktion der nibelungentreuen Politiker in Europa hektisch nach einer neuen Legitimation für das Bündnis. Diese Suche mündete in das Strategische Konzept von 1999. Die durchsichtigen Klagen Volker Rühes, Deutschland sei von Freunden umzingelt, und die des ehemaligen Nato-Generalsekretärs Manfred Wörner, «out of area or out of business», waren erhört worden. Seitdem ist diese Allianz zum militärischen Werkzeugkasten für die geopolitischen Ziele der USA verkommen und «zieht eine Blutspur hinter sich her», wie ein ehemaliger Staatssekretär und langjähriger Aussenpolitiker Ihrer Partei urteilt. Diesem schliesse ich mich an und ergänze: leider unter Beteiligung eines Vasallen namens Bundesrepublik Deutschland. Das Copyright für diese Bewertung, nicht nur Deutschlands, hält der ebenfalls unzweifelhaft zitierfähige Zbigniew Brzezinski, vergleiche «The Grand Chessboard». Wäre dies nicht der Fall, würde ich es allerdings für mich reklamieren. So weit zum Stand der Dinge bei einer Organisation, der gegenüber Sie Bündnispflichten einfordern. Dass sich die Nato im Zusammenwirken mit den besonnenen Kräften der einstigen Sowjetunion im Kalten Krieg, bei aller Kritik, siehe z.B. «Able Archer» 1983 (http://en.wikipedia.org/wiki/Able_Archer_83), insgesamt ein historisches Verdienst durch Kriegsverhinderung erworben hatte, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Bevor ich mich der aktuellen Situation zuwende, will ich aber noch mit einer unerträglichen Variante der Noopolitik (http://www.questia.com/read/103995568/the-emergence-of-noopolitik-toward-an-american-information) in diesem Land aufräumen: besonders Vertreter Ihrer Partei begründen eine heute geltende solidarische Pflicht gegenüber den Nato-Partnern immer wieder mit deren angeblich geübter Solidarität gegenüber der Bundesrepublik im Kalten Krieg. Dies ist ein Mythos und zeugt, wo er ernsthaft geglaubt wird (wie heute noch mit besonderer Inbrunst in Teilen der einstigen Frontstadt Berlin), von den, wahlweise, sprichwörtlichen Brettern, nicht nur vor dem Kopf, sondern auch links und rechts von ihm, oder von Politkitsch. Diese «Solidarität» galt nicht der Bundesrepublik, sondern ihrer geographischen Lage an der Nahtstelle der Systeme. Dies erschliesst sich schon allein aus der Kommandostruktur der Nato im damals sogenannten «Allied Command Europe», in der «Central Region», der Dislozierung der präsenten militärischen Kräfte und dem als wahrscheinlich angenommenen Ort eines Angriffs: dem sogenannten «Fulda Gap».
Nachdem beim 50jährigen Jubiläumsgipfel bewusst darauf verzichtet worden war, die Rechtsgrundlagen dem neuen Strategischen Konzept anzupassen, ergeben sich «Bündnispflichten» ausschliesslich aus dem seit 1949 in der Substanz unverändert gebliebenen Nordatlantikvertrag (http://www.nato.diplo.de/Vertretung/nato/de/04/Rechtliche__Grundlagen/Nordatlantikvertrag.html), der einzig verbindlichen Rechtsgrundlage für das Handeln des Bündnisses.
Artikel 3 ist für die aktuelle, situative Einzelentscheidung irrelevant, weil er auf das permanente, langfristige Ziel für alle Vertragspartner gerichtet ist, «die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe [zu] erhalten und fort[zu]-entwickeln». Somit verbleiben als mögliche Rechtsgrundlagen die Artikel 4 und 5, jedenfalls solange kein Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vorliegt.
Die Türkei hat inzwischen die Nato-Partner erfolgreich nach Artikel 4 konsultiert, die ihr offensichtlich nur zu gerne die Behauptung abgenommen haben, dass die Unversehrtheit des türkischen Staatsgebiets bedroht sei. Was von dieser Behauptung zu halten ist, zeigt schon ein einfacher Kräftevergleich der türkischen und der syrischen Streitkräfte, wobei in den Vergleich zusätzlich einfliessen muss, dass sich letztere im syrischen Bürgerkrieg seit fast zwei Jahren im Dauereinsatz befinden. Besser als tausend Worte führt jedoch diese Karikatur das türkische Begehren ad absurdum (http://www.stuttmann-karikaturen.de/karikaturarchiv_4677.html). Die Türkei gebärdet sich als unschuldiges Opfer. Sie ist jedoch in mindestens zweierlei Hinsicht Partei in diesem Konflikt: im Zusammenhang mit der Kurdenfrage und durch die aktive Unterstützung, Bewaffnung und Ausbildung sogenannter Freiheitskämpfer von ihrem Territorium aus, um einen Regimewechsel herbeizuführen. De facto ist sie somit Kombattant. Sie verfolgt im aktuellen Konflikt eine eigene Agenda und weiss sich grossteils im Einklang mit den geopolitischen Interessen der USA (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/syrien-und-ihr-denkt-es-geht-um-einen-diktator-11830492.html).
Artikel 1 des Nordatlantikvertrages lautet: «Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.» Ein Vertragspartner, der gegen diese Verpflichtung verstösst, hat jedes Recht auf Beistand, oder in Ihrer Diktion «Solidarität», verwirkt.
Im Gegensatz zu den anfänglichen Versuchen des Verteidigungsministers, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen, gilt: Bei dem Begehren der Türkei, Flugabwehrraketen auf ihr Hoheitsgebiet an der Grenze zu Syrien zu verlegen, handelt es sich unter Berücksichtigung der durchweg bekannten Umstände vor Ort und der Lageentwicklung innerhalb der letzten beiden Jahre offensichtlich nicht um eine Verlegung von Truppenteilen in das Land eines Vertragspartners, wie dies in Friedenszeiten seit Jahrzehnten in der Nato üblich ist, um – beispielsweise im Rahmen des Staffelaustauschs fliegender Verbände – die Interoperabilität zu verbessern. Andernfalls hätte es ja auch der Inanspruchnahme der Konsultationsklausel nach Artikel 4 nicht bedurft. Der Wunsch der türkischen Regierung zielt ergo auf eine Situation, die sie nutzen möchte, um den Bündnisfall nach Artikel 5 feststellen zu lassen. Diese Situation könnte jedoch nur dann eintreten, wenn die syrische Regierung türkisches Territorium angreifen würde. Dass sie dies tut, im Wissen um die Nato-Vertragsgrundlagen, die militärischen Kräfteverhältnisse und angesichts der inzwischen erfolgten Abnutzung und mangelnden Durchhaltefähigkeit ihrer Streitkräfte, dürfte so wahrscheinlich sein wie das Zusammenfallen von Ostern und Weihnachten auf einen Tag. Allerdings: in der hehren Kunst der Provokation (http://www.studien-von-zeitfragen.de/Mnemeion/Hehre_Kunst_der_Provokation/hehre_kunst_der_provokation.htm) haben sich die türkischen Politiker ja bereits geübt(http://www.n-tv.de/politik/Tuerkei-entdeckt-Jet-Piloten-article6651756.html).
Das türkische Parlament hat seine Regierung mit einem Vorratsbeschluss zum militärischen Eingreifen im Ausland ausgestattet (http://www.tagesschau.de/ausland/syrien2310.html).
Die türkische Regierung hat bereits mehrfach versucht, Zwischenfälle für eine Nato-Unterstützung zu instrumentalisieren, deren Verursacher bis heute nicht identifiziert worden sind. Die Spatzen in aller Welt pfeifen von den Dächern, dass an der syrisch-türkischen Grenze eine Flugverbotszone geplant ist, um den «Freiheitskämpfern» eine sichere Basis auf syrischem Boden für ihren weiteren Kampf gegen die Zentralregierung zu verschaffen. Zugleich eine gute Gelegenheit, dem inzwischen von mehreren unserer Verbündeten als «einzig legitimen Repräsentanten des syrischen Volkes» anerkannten (http://www.tagesschau.de/ausland/grossbritannien-syrien100.html) Oppositionsbündnis ein Quasi-Staatsgebiet zur Verfügung zu stellen, das durch deutsche Patriot-Flugabwehrraketen gegen die syrische Luftwaffe geschützt wird? Wenn es nach türkischen Wünschen geht, unter dem Einsatzkommando der türkischen Armee (http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-11/nato-russland-patriot)?
In so ein Pulverfass wollen Sie ernsthaft deutsche Soldaten schicken?
Sehr geehrter Herr Missfelder, all dies ist Ihnen natürlich bekannt. Aber Sie verschliessen die Augen, weil Ihre Freunde auf der Atlantikbrücke von diesseits und jenseits des Wassers andernfalls grummeln könnten.
Politiker, die sich Atlantis mehr verpflichtet fühlen als ihrem Souverän, seinen Interessen, seiner Verfassung und dem mehrheitlichen Willen der Deutschen zur militärischen Zurückhaltung, müssen von den Schalthebeln der Politik entfernt werden, und seien diese noch so unbedeutend. •
Mit freundlichen Grüssen
Jochen Scholz*, Verfassungsschützer a.D. (nach Paragraph 7 Soldatengesetz)
* Jochen Scholz war Oberstleutnand der Bundeswehr und bis zu seiner Pensionierung im deutschen Verteidigungsministerium tätig.
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