PR-Kampagne für Gemeinschaftsschulen steht auf schwachen Beinen

PR-Kampagne für Gemeinschaftsschulen steht auf schwachen Beinen

von Karl Müller

Im Rahmen der konzertierten PR-Kampagne für die neuen Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg sind «Argumente» aufgetaucht, die genauer beleuchtet werden müssen.
Im November haben die Kultusministerin des Bundeslandes und der Vorsitzende der oppositionellen CDU-Fraktion gemeinsam 2 der 42 neuen Gemeinschaftsschulen besucht. Breit haben die Medien des Landes darüber berichtet, sogar bundesweite Berichte waren zu lesen. Der Tenor fast aller Berichte war ausgesprochen positiv.
Sucht man in den Artikeln allerdings nach überzeugenden pädagogischen oder gesellschaftspolitischen Argumenten, so wird man nicht fündig. An deren Stelle treten «Stimmungsbilder», die auf bekannte Denkmuster schliessen lassen.
So berichtete die «Stuttgarter Zeitung», ein Lehrer an einer der besuchten Gemeinschaftsschulen habe nach 45 Jahren das erste Mal wieder «richtig Freude» an seinem Beruf. Die Schüler würden «in eigenem Tempo an ihren Wochenplänen» arbeiten und er als Lehrer habe nun endlich Zeit, ihnen «passgenaue Hilfestellungen zu geben», das finde er «fantastisch».
Es ist sehr wichtig, dass ein Lehrer Freude an seinem Beruf hat. Eigentlich sollte jeder Lehrer Freude an seinem Beruf haben. Allerdings erfährt man von dem erwähnten Gemeinschaftsschullehrer nichts darüber, was genau seine Schüler nach ihrem Wochenplan lernen. Und was sie überhaupt lernen können, wenn sie kaum noch, anders als im Klassenunterricht, im Austausch mit ihrem Lehrer stehen. Der Klassenunterricht ermöglicht es, dass die Schüler, insbesondere im gemeinsamen Gespräch mit ihrem Lehrer, mehr lernen, als Arbeitsblätter für den Wochenplan auszufüllen oder Computerprogramme (der Bertelsmann AG?) zu bedienen. Der Dialog ist die Grundlage von Bildung, im Dialog mit dem an Erfahrung und Bildung fortgeschrittenen Lehrer kann der Schüler Zusammenhänge erkennen lernen, einen Überblick gewinnen, das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden, Einzelerscheinungen einem Gesamtbild zuordnen usw. usw. «Selbstgesteuert», also vor allem allein auf sich gestellt, braucht er dafür unendlich viel mehr Zeit – wenn es überhaupt so gelingen kann.Von weiterführenden Schulen wird schon heute berichtet, dass Schüler, die zuvor vor allem mit Arbeitsblättern zu hantieren gelernt haben, kaum noch mehr beherrschen als Ein-Wort-Antworten und sich zum Beispiel sehr schwer damit tun, zusammenhängende Texte zu formulieren. Wenn der Lehrer der von den Politikern besuchten Gemeinschaftsschule für rund 20 Schüler zuständig sein sollte, dann hat er pro Unterrichtsstunde im Durchschnitt rund 2 Minuten Zeit pro Schüler für «passgenaue Hilfestellungen». Das ist sehr wenig Zeit. Realistisch betrachtet: zu wenig Zeit.
Auch die Kultusministerin selbst kommt in dem erwähnten Artikel zu Wort. Ihr Hauptargument: «Dieses Glänzen in den Augen der Lehrer und Schüler.» Tatsächlich, die Ministerin wird so zitiert. Das habe sie dem Oppositionsführer immer beschrieben, wenn sie die Gemeinschaftsschule schilderte. Da blieb dem Oppositionsführer, glaubt man dem Zeitungsbericht, offenbar nichts anderes mehr übrig, als zu sagen, dass individuelles Lernen, also lernen für sich allein so wie in der Gemeinschaftsschule, ja «in allen Schularten möglich» sei.
Nun mag es ja sein, dass es Schüler gibt, die nicht mehr ruhig in einer Gruppe von Mitschülern auf ihrem Stuhl sitzen können, auch Schüler, die nur dann ruhig sein können, wenn sie im Mittelpunkt stehen, und die grosse Mühe haben, ihren Mitschülern oder ihren Lehrern zuzuhören, wenn diese nicht unmittelbar zu ihnen sprechen. Schüler, die merken, dass sie noch nicht so viel können wie ihre Mitschüler und Mühe haben, damit angemessen umzugehen. Schüler, die nicht mehr in der Lage sind, gemeinsam mit anderen ein gemeinsames Lernziel zu erreichen. Deren Augen mögen auch «glänzen», wenn sie sich der Klassengemeinschaft entziehen und nur noch das tun können, wozu sie gerade Lust haben. Und manch ein Lehrerauge mag ja auch «glänzen», wenn seine Schüler signalisieren: Wir sind jetzt «zufrieden» mit dir, weil es nach unseren momentanen Vorstellungen geht und wir nicht mehr gefordert werden, als es uns gerade passt.
Aber so etwas als Perspektive für das Leben? Was ist das für ein Gesellschaftsmodell, das nach diesen Prinzipien funktionieren soll? Wie sozial, wie gerecht, wie demokratisch kann eine solche Gesellschaft sein?
Neben den Lehrern und den Politikern kamen auch die Eltern in den Medienberichten zu Wort. Die «tageszeitung» zitierte eine Mutter, die Stimmen von Eltern wiedergab, die ältere Kinder an einem Gymnasium und jüngere Kinder an einer Gemeinschaftsschule haben: «Die Jüngeren kommen entspannt und fröhlich nach Hause, ganz ohne Druck.»
Auch hier ist eine Frage erlaubt: Was sind die Massstäbe für eine gute Schule? Entspannung, Fröhlichkeit, kein Druck? Ist dies das Entscheidende? Oder geht es in der Schule in erster Linie um etwas anderes? Darum, dass die Kinder und Jugendlichen lernen, später im Leben ihre Frau oder ihren Mann zu stehen! Dass sie gebildet, also mit einem soliden Realitätsbewusstsein, mit dem Verständnis für Zusammenhänge, mitmenschlich und mit Zuversicht die Welt, in der sie leben werden, zum Wohle aller mitgestalten! Ist es nicht eine gewaltige Realitätsverweigerung, wenn jemand behauptet, dieses «Lernen» gelinge entspannt, immer fröhlich und ohne jeden Druck?
Was für ein groteskes Weltbild zwingen Erwachsene jungen Menschen auf, wenn sie ihnen weismachen wollen, das beste für ihr Leben sei die Befriedigung momentaner Bedürfnisse, und zwar möglichst sofort. «Carpe diem», sagte das Barockzeitalter. Aber das war ein Motto ohne Perspektive, ein Denken und Leben ohne morgen, eine Animalisierung menschlichen Daseins.
Wo stehen wir heute, wenn die «Haupt-argumente» für die neusten Schulreformen genau in diese Richtung gehen? Gibt es denn wirklich noch Mitbürger, die auf so etwas hereinfallen? Und was ist der Zweck davon? Cui bono?    •

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