Das Denken erweitern

Das Denken erweitern

In Asien vollzieht sich eine Zeitenwende – im Gegensatz zu Nordamerika droht Europa diese zu verschlafen

von Urs Schoettli

zf. Vielen politisch aktiv Denkenden ist aufgefallen, dass sich in den vergangenen Wochen an manchen Orten das Gleichgewicht verschiebt und quasi Stellschrauben anders gestellt werden. Hinkt unser Denken hinter der Realität her? Wurden wir seit der Lehman-Brothers-Krise über ganze Teile der Welt nur mit Polemik bedient?
Also muss das Denken erweitert werden, damit es sich um die Realität kümmern kann. Die folgenden Beiträge sind diesem Anliegen gewidmet.

Während sich in Europa die Krisen jagen und Untergangsgesänge angestimmt werden, sind in Asien Grossentwicklungen im Gang, die zu Zuversicht Anlass geben. Leider wird die historische Zeitenwende in ­Europa nur sehr eingeschränkt wahrgenommen. Die USA als Pazifik-Anrainer sind da wesentlich alerter.
Es ist keine gefreute Sache, derzeit aus Asien kommend Europa zu besuchen. Das Abendland scheint wieder einmal einem seiner kollektiven Zivilisationskoller verfallen zu sein. Endzeitstimmung herrscht allenthalben beim Euro, beim Klima, bei Demokratie und Marktwirtschaft. Welch drastischer Unterschied zur Euphorie nach dem Fall der Berliner Mauer, als die Westler dachten, die Weltgeschichte sei nun geschrieben und auf alle Zeiten hinaus würden die edlen Werte des ­Liberalismus Weltgeltung haben.
Es fällt schwer, unter solchen Umständen Optimist zu sein, und dennoch wollen wir es wagen. Zunächst muss einmal mehr in Erinnerung gerufen werden, dass die 68er Europäer zu den vom Schicksal am meisten begünstigten Generationen der Weltgeschichte gehören. Sie haben nicht nur vom präzedenzlosen Wohlstand und Frieden der letzten sechs Jahrzehnte profitieren dürfen, sie haben auch gleich zwei positive Zäsuren in der Weltgeschichte miterleben können: das Verschwinden des Eisernen Vorhangs in Europa und den Wiederaufstieg Asiens – nicht nur seine Rückkehr in die Weltwirtschaft und in die Weltpolitik, sondern auch und vor allem seine kulturelle und intellektuelle Renaissance.

Grund zu Optimismus

Es ist einem hartnäckigen Euro-Zentrismus zuzuschreiben, dass die asiatische Renaissance vom intellektuellen Mainstream in Kontinentaleuropa bisher noch nicht als grosse Zeitenwende wahrgenommen worden ist. Was an Universitäten an Erkenntnissen über die Entwicklungen in Asien erarbeitet wird, bleibt weitgehend auf ein interessiertes Fachpublikum beschränkt. Es fehlt die Einordnung und Verarbeitung der historischen Veränderungen in Asien in einer allgemeinen Zeitkritik. Dabei geht es vor allem auch darum, die Dimensionen der asiatischen Renaissance adäquat zu erfassen. Was heute in Indien, in China und in Japan abläuft, wie sich Asien in der Welt des 21. Jahrhunderts positioniert, hat seine Ursprünge in einer ferneren Vergangenheit, die sich in der traditionellen Weltgeschichte, welche den Orient weitgehend als Exotik marginalisiert hat, nicht erfassen lässt. So sollte beispielsweise auch in Europa endlich die Auseinandersetzung mit dem konfuzianischen Staatsverständnis im neuen China oder mit der Relevanz der Meiji-Restauration für Japans anstehende Reformen aufgenommen werden.
Die historische und kulturelle Einordnung der in Gang gekommenen asiatischen Renaissance könnte sicher dazu beitragen, den in Europa überhandnehmenden Pessimismus zu lichten. Wo findet sich denn die fällige Anerkennung, dass wir ungeachtet aller Probleme, die uns von Iran bis Nordkorea, von Syrien bis Südafrika betroffen machen, in einer Zeit leben, in der auch Optimismus angebracht ist? Was kann es denn Grossartigeres zu erleben geben, als dass Länder von kontinentalen Dimensionen zwei Jahrhunderte selbst- und fremdverschuldeter Dekadenz überwinden, dass rund eine Milliarde Menschen aus der bittersten Armut befreit werden, mehrere hundert Millionen Haushalte in den Mittelstand aufrücken, neue Industrien, modernste Infrastruktur und glitzernde Städte hochgezogen werden, das allgemeine Bildungsniveau angehoben wird und Dutzende von Universitäten zu den besten der Welt aufschliessen können!
Die Wahrnehmung des neuen Asien in ­Europa ist ambivalent. Auf der einen Seite steht die Unternehmenswelt, die Asien seit langem entdeckt hat und dort lukrative Geschäfte macht. Längst sind es nicht mehr nur die multinationalen Gesellschaften und Grossfirmen, sondern auch KMU, die Asien als Markt und Produktionsstandort entdeckt haben. Gerade die Schweiz und Deutschland, die im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern nach wie vor auf eine wettbewerbsfähige und innovationsfreudige verarbeitende Industrie zählen können, wissen, wie stark inzwischen der Wohlstand des Alten Kontinents vom Wohlergehen Asiens abhängig ist. Anderseits gibt es natürlich auch Befürchtungen angesichts der «gelben Gefahr», dass die Asiaten Europa aufkaufen und seine Arbeitsplätze stehlen könnten.

Asienkenntnis als Bildungsauftrag

Von den kurzatmigen Medien wiederum wird der Fokus auf Sensationen und Fehlentwicklungen in Asien gelegt. Da erscheint Indien mehrheitlich in Berichten über Korruption und Armut, China im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen und der Verfolgung von Dissidenten und Japan wegen der Kernkraftwerk-Katastrophe in Fukushima in den Schlagzeilen. Natürlich ist es Aufgabe einer freien Presse, Missstände anzuprangern, doch wenn Kommentatoren, die kaum je in Asien gelebt haben, und Auslandkorrespondenten, die schon nach kurzer Zeit alles besser wissen als die Einheimischen, den Informationsstand prägen, muss es zwangsläufig zu bedenklichen Verzerrungen kommen.
Es erweist sich als verhängnisvoll, dass Asien-Kenntnis nicht zum traditionellen westlichen Bildungshorizont gehört, was es den Europäern ermöglichen würde, die monumentalen Veränderungen, die in Asien im Verlaufe der letzten drei Jahrzehnte stattgefunden haben, richtig zu gewichten. Während in der angelsächsischen Welt wegen eines viel stärkeren Kosmopolitismus der Sprache und der Medien asiatische Stimmen direkt an die Öffentlichkeit gelangen können, herrscht in Kontinentaleuropa noch immer der paternalistische Mief einiger selbsternannter Experten, welche sich die Deutungshoheit darüber anmassen zu erklären, wie «der» Asiate, «der» Chinese, «der» Inder tickt oder vielmehr ticken sollte. Gerade im Falle des Reichs der Mitte gibt es seit Leibniz eine lange Tradition, dass Europäer ihre eigenen Vorstellungen auf die Chinesen projizieren.
In der Tat war «9/11» für die Welt ein Schock, eine blutige und bittere Zäsur, welche bis heute die Beziehungen zwischen einem stark säkularisierten Westen und der islamischen Welt prägt und belastet. Der teils bereits erfolgte, teils drohende Abstieg in blutige Glaubenskriege, die man seit der Aufklärung für überwunden ­betrachtet hatte, ängstigt und besorgt zu Recht viele Zeitgenossen. Um so wichtiger ist es, die Modernisierungsprozesse in Asien richtig einzuschätzen. Hier geschieht schon seit mehreren Jahrzehnten Erfreuliches, das uns optimistisch stimmen sollte. Wer China stets nur unter dem Aspekt eines totalitären Regimes betrachtet, verkennt die gewaltigen Fortschritte, die in der chinesischen Rechtsentwicklung gemacht worden sind. Wer im Falle Indiens nur auf Korruption fokussiert ist, übersieht die vielen reinigenden Kräfte, die unter den Bürgern, in den Medien und in der Politik zielstrebig am Werk sind. Auch wenn die Bilanz noch immer durchwachsen ist und Raum zu Verbesserungen besteht, so stimmt die Generalrichtung der Entwicklungen in Indien, in China, in Südostasien enorm zuversichtlich. Hier geschehen positive Dinge, von denen auch die Europäer häufig nur träumen können.
Solide Fundamente
Sicher ist auch Asien nicht gegen wirtschaftliche Abschwünge oder gar Krisen gefeit. Derzeit leiden auch die drei Grossen Japan, China und Indien unter den weltwirtschaftlichen Verwerfungen der Euro-Krise. Allerdings sind die wichtigsten Ursachen der Konjunkturschwäche hausgemacht und können deshalb auch in eigener Regie wieder behoben werden. Falsch liegt, wer die wirtschaftliche Renaissance Asiens für ein temporäres Phänomen hält. Nicht nur sorgt die riesige, ungedeckte Nachfrage auf den heimischen Märkten für günstige Wachstumsperspektiven, es sind auch in den vergangenen drei Jahrzehnten wichtige infrastrukturelle und institutionelle Fundamente gelegt worden, auf welchen in der Zukunft aufgebaut werden kann. Nicht zuletzt denken wir dabei an die gewaltigen Fortschritte in der höheren Bildung.
Die Zeiten, da Europäer väterlich-wohlwollende Urteile über die Erfolge der Asiaten abgeben konnten, sind vorbei. Ebenso sind auch die Verletzungen, welche von euro­päischen Kolonialreichen im 19. und 20. Jahrhundert Asien beigefügt worden sind, in den Hintergrund getreten. Nicht mehr jeder chinesische Gesprächspartner erinnert einen an die Verbrechen der Europäer in den Opiumkriegen. Der Generationenwechsel, der in Gang gekommen ist, sorgt dafür, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Noch immer herrscht auf asiatischer Seite grosse Lernbegier, doch gibt es auch das Selbstvertrauen, dass man mit dem Westen gleichziehen, ja ihn übertreffen kann. Verwundungen wie die «Kulturrevolution» sind in den Hintergrund getreten.
Beim Beginn des asiatischen Zeitalters erhält das Wort «ex oriente lux» eine neue Bedeutung. Nachdem über einen allzu langen Zeitraum hinweg der Transfer von Wissen, Techniken und Ideen einseitig vom Westen in den dekadenten Osten verlaufen ist, kann nun ein an sich selbst zweifelndes Europa neue Impulse aus Asien erhalten. Dabei sollte der Austausch weit über florierende Wirtschaftsbeziehungen hinausreichen und eine im umfassenden Sinne wechselseitige Befruchtung bringen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn zwei Jahrhunderte nach Hegel die Europäer in die Lage versetzt würden, weltgeschichtliche Entwicklungen nicht mehr nur aus ihrem liebgewordenen Krähwinkel zu betrachten.    •

Quelle: Neue Zürcher Zeitung vom 19.11.2012

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