«Im Kleinräumigen muss beginnen, was leuchten soll in der weiten Welt»*

«Im Kleinräumigen muss beginnen, was leuchten soll in der weiten Welt»*

Zur eidgenössischen Volksinitiative «Für eine Wirtschaft zum Nutzen aller!»

von Verena Tobler Linder, Ethnologin und Soziologin

Diese Initiative hat einen treffenden Titel: Denn die Ziele, die sie anstrebt, und die Mittel, mit denen sie diese erreichen will, gelten global: Sie sind zum Nutzen aller!
Ich will das im folgenden als eine begründen, die sich lebenslang mit Armutsproblemen und mit Menschen beschäftigt hat, die an den weltwirtschaftlichen Rändern leben –in den 80er Jahren erstmals vor Ort: in Bangladesh, Pakistan, Kamerun, Liberia und im Sudan, später wieder hier: in der reichen und schönen Schweiz. Nur noch für kurze Aufträge kehrte ich nach Kamerun und Mo­çambique zurück. Meine Aufenthalte in der dritten Welt gewährten mir hauptsächlich Einblicke in die Flüchtlingslager und in die Slums sowie in die Situation von Bäuerinnen, Bauern und Nomaden im Hinterland. In der Schweiz arbeitete ich u.a. mit Asylsuchenden, Flüchtlingen und Immigrierten und bin bis heute aktiv, wenn es um Integrationsprobleme geht.

Die einstigen Kolonialstaaten längst unabhängig, häufig nur auf dem Papier

Das Wichtigste über ungleiche Entwicklung und über die Strukturprobleme der dritten Welt hat mir einst Ruedi Strahm beigebracht. Zusammen mit Senghaas und vielen anderen stand er damals für «autozentrierte Entwicklung» ein. Im Klartext: Ohne Zollschutz, der die Güterproduktion fürs Inland sicherstellt, kann sich ein armer Staat weder wirtschaftlich entwickeln noch sozial und national­territorial integrieren. Diese Einsicht wurde nie umgesetzt, obwohl sie noch heute gilt. Meine Arbeit hat mir nämlich erlaubt, die Licht- und Schattenseiten der grenzenlosen Wachstumswirtschaft in Nord und Süd zusammenzusehen und am konkreten Detail zu studieren. Zwar sind die einstigen Kolonialstaaten längst unabhängig, jedoch häufig nur auf dem Papier. Denn was heute von aussen als «Failed States» wahrgenommen wird, war im Innern der armen Staaten durchgehend strukturelle Realität. Für die erste nachkoloniale Entwicklungsphase galt:
1.    Im Goldenen Zeitalter des primär noch nationalterritorial verwurzelten Kapitals konnte der Westen alles dem Markt überlassen: Wer über überdurchschnittliche Produktivität und besser ausgebildete Arbeitskräfte verfügte, schlug alle andern aus dem Feld. Auch die Schweiz vermochte gewaltige Mengen an Mehrwert bzw. Kapital zu akkumulieren, und es konnten deshalb rasch wachsende Löhne bezahlt und der Wohlfahrtsstaat ausgebaut werden.
2.    Die armen Länder waren zwar nun formell entkolonialisiert. Doch wurden die Volkswirtschaften der meisten weiter ausgepowert, weil sie punkto Technologie, Infrastruktur und Ausbildung weniger versiert waren als der Westen. Kurz – unter der Flagge des weltweit freien Wettbewerbs wurden die angestammten Gemeinschaftswirtschaften «vor Ort» schleichend weiter zerstört. Trotzdem bildete sich eine schmale urbane Ober- und Mittelschicht heraus, und zwar häufig in Form von Staatsangestellten und Politikeliten. Auf dieser Grundlage kam es zu keiner ­nationalterritorialen Integration mit flächendeckenden Schutz- und Sicherheitseinrichtungen.
3.    Auf Grund der globalisierten Märkte wurde die Bevölkerungsmehrheit in den armen Ländern nie in die formelle Erwerbsarbeit integriert – der wichtigste Grund dafür, dass vor Ort bis heute moderne – und das heisst letztlich: monetärisierte! – Solidareinrichtungen für alle fehlen.
So verarbeitete zum Beispiel Mali, der grösste Baumwollproduzent Afrikas, 2012 nur 3% seiner Ernte. Es gibt kaum Erwerbsarbeitsplätze in der Industrieproduktion und im verarbeitenden Sektor. Deshalb ist in Mali wie überall in den weltwirtschaftlichen Randzonen hohe Arbeitslosigkeit die Regel! Das ist denn auch der Hauptgrund dafür, dass die Migration aus dem Süden seit den 80er Jahren massiv zugenommen hat.
Bei meiner Rückkehr aus der armen Welt erlebte ich zuerst einen kleinen Kulturschock: Die reiche Schweiz inmitten des reichen Europas! Überall auf dem Kontinent hatten sich Wohlfahrtsstaaten etabliert, Überfluss war verbreitet, Überkonsum die Regel. Mir aber war klar: Diese Party ist bald einmal vorbei, und der Club wird sich auflösen – alles nur eine Frage der Zeit!
Heute geht es um Erdöl und andere ­Rohstoffe, um Staatsmacht und
westliche Konsumprivilegien
Der Club der Wohlfahrtsstaaten löst sich auf, sobald das Kapital völlig ungehemmt global zirkulieren kann: IWF, WTO, Weltbank und Währungsreformen haben inzwischen dafür gesorgt. Gleichzeitig geben im globalen Grossraum immer weniger die Findigeren und Tüchtigeren den Ton an, hingegen haben nun die grösseren und kapitalkräftigeren Konzerne enorme Vorteile. So kommen in der zweiten Phase des globalen Gerangels um grenzenlosen Wettbewerb und Markt die kleineren Staaten und Volkswirtschaften als erste unter Druck – zunächst nicht zwangsläufig unter wirtschaftlichen, sondern primär unter politischen. Grossmächtigkeit übernimmt einmal mehr ungeschminkt das Regime bis hin zu den neuen Kriegen: Deutschland wird heute bekanntlich neu in Afghanistan, Frankreich erneut in Mali verteidigt – alles wie gehabt. Aber heute geht es um Erdöl und andere Rohstoffe, um Staatsmacht und westliche Konsumprivilegien. Als weitere Schwierigkeit kommt neu hinzu: Produktivität, Konsum und Profite steigen in Europa weniger rasch als zum Beispiel in den aufstrebenden BRICS-Staaten: Gross­konzerne verlagern ihre Produktionsstätten oder verschieben ihre Investitionsaktivitäten nach Brasilien, Indien, China. Das ist die Logik des globalisierten Kapitals: Während die Zahl der Arbeitsplätze im Grossraum Europa abnimmt, werden zum Beispiel in Brasilien von Global Players Dutzende Automarken produziert; riesige Landflächen verkommen zur Spielwiese von Monsanto und Cargill und werden für eine extrem intensivierte und monopolisierte Landwirtschaft missbraucht – denn in Brasilien liegen schlummernde Märkte, Boden und Arbeitskräfte sind en masse und billiger zu haben.

USA und EU treten mit Stiefeln auf und diktieren allen andern die Regeln

Die Party ist vermutlich auch für die westliche Bevölkerungsmehrheit vorbei!
Zum einen, weil unsere Wohlfahrtsstaaten auf der Basis überdurchschnittlicher Kapital­akkumulation, ungleicher Entwicklung und unökologischen Konsums errichtet wurden. Auch der schweizerische Lebensstil ist nicht globalisierbar, obwohl die zunehmende Immigration zeigt, dass der Anhänger ständig mehr werden.
Zum andern, weil schliesslich für alle westlichen Wohlfahrtsstaaten ähnlich negative Effekte eintreten. Für diese zweite Phase der Kapitalentwicklung gilt: Das volatil gewordene Finanzkapital sowie die Standorts- und die Produktionsverlagerungen von Grosskonzernen senken das Steuersubstrat in Europa und stellen hier das Wirtschaftswachstum und den Sozialstaat in Frage. Sorgen bereitet uns zunehmend zweierlei: das wirtschaftlich geschwächte Umfeld und der Druck, den die etablierten Mega-Grossmächte so plötzlich auf die findigeren und behenderen Kleinstaaten ausüben. Vorab die USA und die EU treten inzwischen mit Stiefeln auf und diktieren allen andern die Regeln. In die Bredouille bringen die Schweiz aber auch die Schatten ihres eigenen Erfolgs: die massive Immigration und die alternde Bevölkerung. Zugegeben, diese Entwicklungen sind widersprüchlich. Doch kommt sichtlich auch bei uns die nationalterritoriale Integration unter Druck und zwar auf Grund von zahlreichen Faktoren:
•    Die unproduktiven und die nur indirekt produktiven Teile der Bevölkerung wachsen ständig.
•    Durch die Einwanderung sind die Probleme nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben.
•    Zum einen steigt der Druck auf Boden und Landschaft mit der Immigration rapid an;
•    zum andern diktiert der Weltmarkt unserer Landwirtschaft maximal intensivierte Produktion.
•    Das lokale Klein- und Mittelgewerbe bricht ein, oft unter dem Druck der steigenden Mieten!
•    Die Solidarwerke geraten immer mehr und von allen Seiten unter Druck.
•    Die Unterschiede zwischen arm und reich nehmen auch hierzulande zu;
•    vorab sind aber soziale Polarisierung, Hierarchisierung, Fragmentierung gewachsen.

Gleichzeitig organisieren und integrieren sich auch in der Schweiz jene im sozialen und globalen Oben zunehmend international, während sich unsere Gesellschaft desintegriert: Einige Gemeinden verarmen; die Sozialhilfeempfänger nehmen zu; andere Gemeinden, in denen die globalen Akteure geruhen zu bleiben oder sich niederzulassen, bleiben reich oder werden reicher.

Demokratien werden ausgehebelt, wo ­Regierungen und Parlamente zu Hampelmännern der Kapitalinteressen werden

Last but not least wird unser wichtigstes Kulturerbe ausgehebelt – die direkte Demokratie. Demokratien werden überall auf der Welt von oben ausgehebelt: Dort, wo Nationalstaaten mausarm geblieben sind oder wo Erdölreichtum grassierte, konnten moderne Demokratien aus strukturellen Gründen gar nie entstehen. In den alten Staaten Europas setzen vergleichbare Prozesse ein: Demokratien werden überall dort ausgehebelt, wo Regierungen und Parlamente zu Hampelmännern der Kapitalinteressen werden. Oder wo sie, wie in der Schweiz, zu blossen Abnickern von bürokratischen EU-Entscheiden zu werden drohen oder fraglos die undemokratische Gesetzgebung übernehmen, die abgeschottete EU-Kommissare diktieren. Kurz – die westlichen Demokratien werden in dieser zweiten Phase der Kapitalentwicklung ebenfalls strukturell ausgehebelt: Die nationalen Bevölkerungen können die zentralen volkswirtschaftlichen Faktoren immer weniger kontrollieren und steuern. Die Sozialdemokratie will diese Probleme über einen europaweit zentralisierten und hierarchisierten Staat auffangen – die falsche Strategie, bringt sie doch mehrheitlich Technokraten, Bürokraten, «Status(ein)gebildete» an die Macht!
Doch wer genauer hinsieht, kann erkennen, worauf eine funktionierende Demokratie der modernen Art u. a. angewiesen ist: Zum einen darauf, dass die grosse Bevölkerungsmehrheit einen formellen Erwerb hat; zum andern darauf, dass diese Bevölkerungsmehrheit aus der eigenen Tasche und aktiv zu dem beitragen kann, was entweder sie selbst oder aber ihre gewählten Vertretungen beschliessen. Sonst werden die Ansprüche einer jeden Bevölkerung grenzenlos! Drittens setzt die direkte Demokratie voraus, dass die Stimmbürgerschaft einigermassen adäquate Vorstellungen von den sozioökonomischen Verhältnissen hat.
Doch wenn das Volk die mit der Weltwirtschaft verbundene Komplexität nicht mehr versteht, so ist es damit nicht allein. Spätestens die laufende Krise hat offenbart, dass auch die erlauchten Wirtschaftswissenschafter längst im Land «Kann nit verstan» angekommen sind.

«Für eine Wirtschaft zum Nutzen aller!» sucht brauchbare Antworten

Die Initiative «Für eine Wirtschaft zum Nutzen aller!» sucht auf diese Probleme brauchbare Antworten. Es geht den Initianten nicht darum, den Markt und das Geld abzuschaffen! Es geht darum, die beiden sozial- und umweltverträglich einzuhegen. Es geht auch nicht darum, den Wohlfahrtsstaat abzuschaffen: Es geht darum, ihn ökologisch und sozial verträglich umzubauen! Denn weiterfahren wie bisher führt in die Klimakatastrophe und in die Staatsverschuldung. Beide bringen langfristig den wirtschaftlichen Bankrott und den Kollaps der Nationalstaaten. Die selektive Abkoppelung ist demgegenüber ein gangbarer Ausweg für die allermeisten Volkswirtschaften. Selektive Abkoppelung heisst: Alle Produkte und Leistungen, die sich lokal produzieren lassen, werden in die Souveränität der Arbeitenden und Konsumenten zurückgenommen. In der Entwicklungshilfe heisst das: ownership.
Aber auch bei uns wird an diesen Auswegen längst emsig gearbeitet: von der Genossenschaftsbewegung sowie von jenen, welche die Gemeinschaftsökonomie lancieren. Die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat mit ihren Forschungen ebenfalls einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Und so erlaube ich mir mit Blick auf die bedrohten Solidarinstitutionen einen Exkurs: Die Mehrzahl der Solidarwerke in der Schweiz ist bislang über direkte Erwerbsabgaben ­finanziert; in die AHV fliessen auch Konsumsteuern; die Sozialhilfe wird über klassische Steuern finanziert – kein Wunder, sind unsere Solidarinstitutionen unter Druck. Sie wurden über die globale Wachstumswirtschaft finanziert, sind an der Idee des grenzenlosen Wachstums und an der Illusion einer ewigen Privilegierung orientiert. Elinor Ostrom hat die Bedingungen erforscht, unter denen Gemeinschaftsgüter wie Wald, Boden, Gewässer bereitgestellt und nachhaltig genutzt werden.
Als Gemeinschaftsgüter können aber auch Solidareinrichtungen wie Krankenkassen, Invalidenrenten etc. gelten. Sie sind erst im Wahn grenzenlosen Wachsens aus dem Ruder gelaufen. Wir haben sie deshalb umzubauen. Dafür sind die folgenden Prinzipien dienlich: Zum einen ist es nötig, dass die Grenzen der Gemeinschaftsgüter klar definiert und deren Speisungs- und Nutzungsregeln allen bekannt sind. Zum andern ist die Einhaltung der Regeln zu kontrollieren, Regelverstösse müssen sanktioniert, Fehlbare und Nichtberechtigte ausgeschlossen werden – das tut weh, ist aber unumgänglich!

Direkte Demokratie funktioniert unter Bedingungen der Kleinräumigkeit optimal und vermittelt Würde

Vergessen wir nicht: Zum einen hat das Kapital einst, als es noch primär national­territorial verankert war, den Nationalismus für seine kolonialen und kriegerischen Interessen instrumentalisiert. Inzwischen ist die konkrete Bindung an die lokale Heimat in Verruf gekommen: Jene, die im globalen Oben das Kapital- und Politikgeschäft betreiben oder sich als Hors-sol-Kulturelite sehen, predigen uns heute absolute Grenzenlosigkeit. Zum andern beten viele – viel zu viele! – diese Dummheit nach. Dummheit nämlich, weil sie in kindlichen Allmachtswünschen wurzelt: in Trugbildern von grenzenlosem Wachstum, grenzenlosem Konsum, ewigem Leben. Drittens bietet unsere direkte Demokratie da enorme Vorteile: Sie funktioniert unter Bedingungen der Kleinräumigkeit optimal und vermittelt ihren Bürgerinnen und Bürgern Würde; sie macht die meisten von uns glücklich, auch wenn wir oft unterliegen; sie fordert uns zum Nachdenken, zum Diskutieren und Debattieren heraus. Zu guter Letzt binden wir mit der direkten Demokratie die Politik und Politiker an sachliche Argumente an, die von uns überprüft werden können.
Die Initiative «Für eine Wirtschaft zum Nutzen aller!» will die Welt neu aufbauen – zusammen und konkret, aber von unten! Sie ist kein nationalistisch verengtes Projekt. Es ist die erste weltgemeinschaftliche und gemeinwohlwirtschaftliche Initiative: Sie schlägt vor, was in Zukunft allerorts zu gelten hat, wenn das Leben von uns Menschen sozial und ökologisch nachhaltig werden und unser gesellschaftliches Zusammenleben demokratisch bleiben soll.    •

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