von Walter Suter*
Bern/Caracas. Nun hat er uns verlassen – und ist doch bei uns geblieben: unser Bruder und Genosse, Presidente Comandante Hugo Chávez Frías. Am 5. März 2013, nach langem und heroisch erduldetem Krebsleiden hat er das Irdische gesegnet und sich gleichzeitig in die Unsterblichkeit verabschiedet: «Wer für das Leben gestorben ist, darf nicht für tot erklärt werden.» (Alí Primera).
Mir persönlich unvergesslich bleibt das intensive und ungewöhnlich lange Gespräch, das ich anlässlich der Übergabe meines Beglaubigungsschreibens als Schweizer Botschafter in Venezuela Ende 2003 mit dem Präsidenten zu seinen revolutionären Plänen führen durfte. An dessen Ende nahm er meinen Arm, sah mir mit festem, entschlossenem Blick in die Augen und erklärte in eindringlichem Ton: «Herr Botschafter, ich sage Ihnen, in diesem Lande herrscht die Kultur des Betrügens; und ich werde diese Kultur ändern!»
In der Tat, Hugo Chávez hinterlässt ein aussergewöhnliches Erbe, geprägt von restloser Aufopferung und Hingabe für die Rechtlosen und Ausgeschlossenen in seinem Lande und die Verbesserung von deren Los. Er bleibt ihnen allen lebendig in der Erinnerung erhalten. Hugo Chávez hat sein Volk geliebt; er hat ihm Würde, Respekt und Selbstachtung verliehen. Ein ganz Grosser unter den Grossen.
Von Gottlieb Duttweiler, dem Gründer der Handelskette Migros in der Schweiz, der beileibe kein Linker war, stammt die Bemerkung: «Wer für den Schwachen kämpft, hat den Starken zum Feind.» Das könnte auch über den vierzehn Jahren der Präsidentschaft des venezolanischen Revolutionärs Hugo Chávez stehen. Zur Erklärung all der Probleme und Schwierigkeiten, die er in seinem Land hatte, aber auch der gewaltigen Verbesserungen für die jahrhundertelang benachteiligte Mehrheit, die seine Regierung durchsetzte.
Nach der vierten Krebsoperation in Kuba ist er kürzlich in sein Land zurückgekehrt, jedoch zu geschwächt, um die Präsidentschaft noch einmal zu übernehmen, aber für seine Anhängerschaft präsent genug, um die Fortsetzung seiner Politik zu garantieren. Denn in Neuwahlen werden sie wieder ihn wählen, wenn auch in der Person des neuen Kandidaten seiner Vereinigten Sozialistischen Partei (PSUV).
Der Neue, wahrscheinlich der bisherige Vizepräsident Nicolás Maduro, verantwortet bereits eine «Korrektur»: Die Abwertung der Landeswährung um ein Drittel. Der Schritt war nötig, weil nach wie vor zu wenig im Land selbst produziert wird. Die Importabhängigkeit zu senken war immer auch ein Thema von Chávez. Doch alle bisherigen Versuche, sowohl die industrielle wie auch die landwirtschaftliche Produktion zu stärken, blieben weitgehend erfolglos. Was offen von der Regierung eingestanden wird. Im neuen Entwicklungsplan (2013 bis 2019) liegt deshalb auch das Schwergewicht erneut auf einer Verbesserung der ökonomischen Bedingungen, speziell der industriellen Entwicklung.
Der Rückstand auf diesem Gebiet ist nicht zuletzt der Preis für die absolute Priorität, die Chávez von Anfang an verfolgte und für die er den Grossteil der Erdöleinnahmen des Landes einsetzte: die radikale Bekämpfung der Armut.
Endlich den bisher Ausgeschlossenen Zugang zur Gesundheitsversorgung, zu Ausbildung, zu erträglichem Wohnen zu verschaffen, das war das Ziel. Der Präsident hat dazu die Impulse gesetzt und viel erreicht. Venezuela wurde bereits 2005 von der Unesco für frei von Analphabetismus erklärt. Der Anteil der Armen sank von fast 50 Prozent (2002) auf knapp 30 Prozent (2011). Es gibt Ärzte für alle, die Grundnahrungsmittel werden subventioniert. Die Kosten für all dies haben sich gelohnt. Denn Chávez hat damit der benachteiligten Mehrheit eine Hoffnung gegeben. Die Menschen haben gemerkt, dass sich etwas zu ihren Gunsten verändert hat.
Nach Jahrhunderten autoritärer Herrschaft können sich die bisher Ausgeschlossenen politisch beteiligen und in den mittlerweile zwischen 30 000 und 40 000 Gemeinderäten (Consejos Comunales) mitbestimmen. Das alles wollten sie sich nicht mehr nehmen lassen. Deshalb wurde Chávez immer wieder gewählt. Obwohl die Opposition weiterhin über den grössten Teil an Presse und Fernsehen verfügt und bissigste Kampagnen fuhr, unterstützten klare Mehrheiten in 14 von 15 Urnengängen seit 1999 seine Politik.
Dass diese Wahlen absolut korrekt verliefen, bestätigte bereits 2005 die EU, später auch noch die Stiftung des ehemaligen US-Präsidenten James Carter. Selbst die venezolanische Opposition räumt das inzwischen ein. Das Parlament ist also unbezweifelbar demokratisch legitimiert. Und dort haben die Chavistas noch mindestens drei Jahre eine absolute Mehrheit. Zudem sind 20 von 23 Gouverneuren ihre Parteigänger. Und auch die Streitkräfte stehen heute offenbar weitgehend geschlossen hinter dieser Regierung und dieser Politik. Angesichts dieser institutionellen Stärke spricht alles für eine Fortsetzung der sozialen Politik in den nächsten Jahren.
Der brasilianische Bischof und Befreiungstheologe Helder Camara hat einmal gesagt: «Wenn einer alleine träumt, bleibt es ein Traum. Träumen wir aber alle gemeinsam, beginnen wir, eine neue Wirklichkeit zu schaffen.» Chávez hatte Fanalwirkung auch in der lateinamerikanischen Nachbarschaft. Breite Teile der Bevölkerung erlebten, dass elende Lebensbedingungen nicht unumstösslich sind.
In den letzten zehn Jahren übernahmen demokratisch gewählte Linksregierungen in Brasilien, Uruguay, Argentinien, Paraguay, Bolivien und Ecuador die Macht. Für sie alle war und ist Chávez Orientierung. Und selbst ein Konservativer wie der chilenische Präsident Sebastián Piñera erkennt an, dass Chávez der eigentliche Impulsgeber für die mittlerweile erreichte lateinamerikanische Integration war. In Europa wird das häufig genug nicht in seiner wahren Bedeutung wahrgenommen. Und natürlich sind diese Integrationsschritte nicht im Interesse des Nordens.
Zusammengenommen: Das Venezuela von heute hat immer noch massive Probleme, die Chávez und seine Leute nicht unter den Tisch kehren: die wirtschaftliche Lage, die nach wie vor grassierende Korruption, eine nicht gut funktionierende Verwaltung, hohe Kriminalität. Unbeschadet all dessen hat Chávez sehr, sehr viel geleistet. Sein «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» wird heute von vielen gemeinsam geträumt. •
*Walter Suter ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und war zuletzt Botschafter der Schweiz in Venezuela.
gl. Die Anteilnahme der Bevölkerung in Venezuela und ganz Lateinamerikas am Tod von Präsident Hugo Chávez ist überwältigend. Mehr als zwei Millionen Menschen aus dem ganzen Land haben an den Trauerfeierlichkeiten teilgenommen und sind tagelang in einer Schlange angestanden, um sich persönlich von ihrem Präsidenten verabschieden zu können. Aber auch ganz Lateinamerika trauert um einen Staatsmann, der viel für die Einigung und die Entwicklung des Kontinents getan hat – und der sich mutig und unerschrocken für den Weltfrieden, die Souveränität und die Gleichberechtigung aller Staaten eingesetzt hat. In 15 Ländern der Welt wurde Staatstrauer angeordnet, darunter in Brasilien, Argentinien – und auch in China.
Dass uns in Europa über Chávez' Wirken bis heute ein erbärmliches Zerrbild vermittelt wird, wirft ein schlechtes Bild auf die Unabhängigkeit unserer Presse. Lateinamerika wird sich davon nicht beeindrucken lassen – dort gelten wir heute noch als treue Vasallen der USA.
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