In der Schweiz soll Ende Juni 2013 der neue «Lehrplan 21» der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Mit ihm soll der «kompetenzorientierte Unterricht» eingeführt werden, dessen Ziele nicht in erster Linie dann erreicht seien, wenn der im Lehrplan aufgeführte Stoff im Unterricht behandelt wurde, sondern «dann, wenn die Kinder und Jugendlichen in einem umfassenden Sinne kompetent sind. Kompetenz heisst, kurz gesagt, über das nötige Wissen verfügen und dieses auch anwenden können.» (NZZ 10.4.2013) Gegen diese Formulierung hat sicherlich niemand etwas einzuwenden – in dieser allgemeinen Form sagt sie aber nichts Inhaltliches zum neuen Lehrplan. Wer über Wissen verfügt, kann es immer anwenden. Etwas wissen ist immer eine menschliche Fähigkeit, die wie alle menschlichen Fähigkeiten vom einzelnen für sein Leben genützt werden können – so er sie wirklich hat. Genau das war selbstverständlich schon immer Sinn und Aufgabe der Schule. Nur: Mit der neuen Vorstellung von Kompetenz wird genau das nicht erreicht. Die «Handlungskompetenz» etwa, in Internet oder Atlanten nachzuschauen, um eine unbeschriftete Karte der Schweizer Kantone korrekt an- bzw. abzuschreiben, ist etwas anderes, als die Kenntnis der Kantone, über die man – unabhängig von Computer und sonstigen Hilfsmitteln – selber verfügt und die einem auch eine Urteilsfähigkeit bezüglich der nachgelesenen Informationen ermöglicht.
Was also ist neu am neuen Lehrplan? Die bisherigen Hinweise erschliessen sich zum einen aus den – bisher wenigen – Publikationen zum Thema (vgl. «Neue Zürcher Zeitung» vom 5.12.2012 und vom 10.4.2013). Mehr Einblick gewährt die Lehrerausbildung. So erklärte der Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich PHZH, Walter Bircher, laut NZZ, «die Ausbildung der Lehrer» habe «das Konzept bereits vorweggenommen. Zur Umsetzung für den Volksschulunterricht sei es insofern nur noch ein kleiner Schritt». (NZZ 10.4.2013) Weiteren Einblick gewinnt man entsprechend anhand der Schulführung von Junglehrern, aber auch durch die Lektüre neuer Lehrmittel – ein weiteres Agens der Umsetzung im voraus. Letztere Vorgänge – das Einführen einer veränderten Lehrerausbildung und neuer Lehrmittel mit Blick auf eine demokratisch noch nicht legitimierte Änderung – sind nebenbei bemerkt ein demokratisch absolut unhaltbarer Vorgang. Einen klaren Einblick gibt auch die Lektüre der geistigen Bezugsgrössen des neuen Lehrplans.
Aus all dem wird überdeutlich: Der «Lehrplan 21» ist nicht einfach ein neuer Lehrplan. Er soll zu einem Paradigmenwechsel in der Schule führen: Nicht mehr die Ausrichtung auf den Lehrer soll im Mittelpunkt stehen, sondern das sogenannte «selbstgesteuerte» Lernen; Wissen wird standardisiert und operationalisiert, man spricht von Input-Output-Orientierung; es geht angeblich um Qualitätssicherung. Ohne hier weiter ins Detail gehen zu können, sei schon vorweggenommen: Was im geplanten «Lehrplan 21» zum Ausdruck kommt, ist eine Entwicklung, die sich in zahlreichen europäischen Ländern abzeichnet und, wie in Zeit-Fragen schon ausführlich dokumentiert, politische Hintergründe hat. Es handelt sich um eine Neuausrichtung der Schule am angelsächsischen Bildungsverständnis, um eine Abkehr von der stufengemässen Ausbildung der Lehrer, um eine Entpersonalisierung der Bildung, um eine Loslösung der Bildungsinhalte von ethischen Grundwerten der christlich-humanistischen Bildungstradition, wie sie seit langem und auch in den aktuellen kantonalen Volksschulgesetzen verankert sind. In europäischer Tradition geht es nicht darum, dem Schüler nur anwendbare Fertigkeiten zu vermitteln, sondern er soll in einem umfassenden Sinne als Persönlichkeit gebildet werden, die ihre Fähigkeiten im Bewusstsein ihrer Bedeutung und Verantwortung für das Gemeinwesen entwickelt, in und mit dem sie lebt. Demokratie, ein lebensfähiger Sozialstaat und eine Wirtschaft im Dienste des Menschen sind ohne diese Grundlagen nicht denkbar und nicht lebensfähig.
Die bisherigen Auswirkungen schon umgesetzter Reformen haben in vielen Ländern bereits zu einem breit abgestützten Umdenken geführt: Eltern, Betriebe und Lehrer, die Wert auf eine sorgfältige Bildung legen, verlangen eine Besinnung auf das, was echte Bildung ausmacht. Wie die nachfolgenden Artikel zeigen, stehen einer Neuausrichtung, wie im «Lehrplan 21» geplant, einerseits die Vorstellungen von Eltern, Kindern und Lehrern, aber auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen entgegen – der australische Bildungsforscher John Hattie hat Zehntausende von Studien aus dem angelsächsischen Raum ausgewertet. Dagegen sprechen auch zahlreiche anthropologische Erkenntnisse über das Wesen des menschlichen Lernens und schlicht unsere eigene Erfahrung mit der Schule. Jeder, der positive Erinnerungen an seine Schulzeit und das Lernen hat, weiss, dass damit immer eine emotionale Komponente verbunden war: eine Lehrerpersönlichkeit, die Freude vermittelte, eine Ausstrahlung hatte, hilfreich und manchmal fördernd durch Fordern und damit Zutrauen war; eine Klassengemeinschaft, in der man gemeinsame Lernerfahrungen machte; andere Menschen und Begegnungen, die einem die Freude am Entdecken und manchmal die völlige Faszination für einen Gegenstand als lebendiger Mensch vermittelten, als ganze Person, die das lebte in Form von Hinführung, Anleitung, Anregung und Ermutigung und wo nötig Korrektur.
Aber auch die bisherigen Erfahrungen mit bereits umgesetzten Formen des «neuen» Lernens sind aufschlussreich, wie die Erfahrungen an einer Schweizer Berufsschule stellvertretend illustrieren.
Lernen gehört zum menschlichen Wesen – unser Leben, unsere Kultur, die Entwicklung der Menschheit hängen daran. Und lernen ist Ausdruck der menschlichen Sozialnatur. Dem müssten Lehren und Lernen dringend wieder mehr Beachtung schenken.
Damit sind allerdings erst einige Aspekte des neuen Lehrplans aufgegriffen – viele weitere sind noch zu thematisieren und zu diskutieren.
Erika Vögeli
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