Kinder lernen am besten in Jahrgangsklassen mit gutem Klassenunterricht

Kinder lernen am besten in Jahrgangsklassen mit gutem Klassenunterricht

von Heidi Sonderegger

Zwei erfahrene Lehrerinnen tauschen sich über Mittag im Lehrerzimmer aus.

A: Machst du noch Klassenunterricht?

B: Hmm, dir kann ich es ja sagen. Ich finde, die Kinder lernen dabei einfach am meisten.

Stimmt! Kann ich aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung bestätigen.

Aber fast in allen unseren Weiterbildungen wird der Klassenunterricht kaum mehr oder nur verschämt hinter vorgehaltener Hand als «Frontalunterricht» erwähnt.
Hingegen werden Differenzierung und Selbststeuerung angepriesen. Dann sollen die Kinder im ganzen Schulhaus verstreut allein oder in Gruppen die meiste Zeit ohne Lehrer an Aufträgen arbeiten, die sie oft nicht verstehen. Die neuen Lernformen sollen «individualisiert» sein, was suggeriert, dass sie auf jedes einzelne Kind zugeschnitten sind. Als ob unsere Schüler nicht schon genug beziehungslos und vereinzelt wären!

Ja, das Lernen im Klassenverband unter pädagogischer Anleitung verschwindet unter einer Methodenschwemme, bei der wir Lehrer vor allem Material produzieren und Lernumgebungen gestalten. Landauf, landab tönt es bald gleich:
Ein Kollege im Kanton St. Gallen berichtet genau dasselbe wie meine Freundin aus dem Kanton Aargau: Jahrgangsklassen werden durch «Alterdurchmischtes Lernen» ersetzt, Klassenunterricht durch «selbstorganisiertes», «individualisiertes» Lernen und Klassenzimmer durch sogenannte «Lernlandschaften».

Du hast das Web-basierte Lernen vergessen!

Wie wenn unsere Kinder nicht schon genug am Bildschirm hängen würden! Übrigens: Hast du mitbekommen, wieviel die Schulgemeinde für die Vernetzung sämtlicher Schulhäuser budgetiert hat?

Keine Ahnung. Eine halbe Million?

Die IT-Firma bietet auch an, die elektronische Vernetzung in Scheibchen über mehrere Jahre zu verteilen, das schlucken die Stimmbürger an der Schulversammlung eher.

Wird nicht extrem viel Zeit und Geld für den Einsatz von Computern in der Schule aufgewendet? Ich frage mich, wieviel effektiv dabei herausschaut. Der Computer wird meiner Meinung nach viel zu früh und viel zu oft eingesetzt. Da wird der Lehrer zum reinen Lernbegleiter.

Laut Hattie-Studie hat das Netz-basierte Lernen tatsächlich so gut wie keinen positiven Lerneffekt. Und auch das computergestützte Unterrichten funktioniert nicht ohne die Anleitung und Führung eines guten Lehrers. Die umfassende Schul- und Unterrichtsforschung des Australiers John Hattie bringt an den Tag, was viele schon lange wissen: Lernen basiert auf einer guten Beziehung des Lehrers zu den Schülern auf gut vorbereitetem, engagiertem Unterricht. Hatties Analyse, die über 60 000 Untersuchungen berücksichtigt, bestätigt auch, wie wichtig erfolgreiche Schulleistungen für die persönliche Entwicklung der Schüler sind. Und was die Aufgabe des Lehrers betrifft: Die Befunde zeigen klar, dass der Lehrer superwichtig ist und die Schüler dann am besten lernen können, wenn er beim Unterrichten eine aktive Rolle einnimmt.

Scheint ja endlich mal eine ehrliche Studie zu sein, die muss ich unbedingt lesen! Magst du ein Stück Kuchen, selber gebacken!

Gerne, ich mach’ uns noch einen Kaffee.

Das mit der Lehrerrolle ist interessant. Das passt gut zu dem, was ich gerade in einem Büchlein von Michael Tomasello, «Warum wir kooperieren», gelesen habe. Er beschreibt Studien, die belegen, dass die Vermittlung von Wissen, dass die Menschen anderen aktiv Dinge beibringen, grundsätzlich zum Wesen der menschlichen Art gehört. Nur so findet kulturelle Entwicklung überhaupt statt. Die enorme natürliche Fähigkeit des Menschen zur Kooperation wirkt nach Tomasello wie ein kultureller Wagenheber.

Das heisst, wir würden unsere Kinder kulturell zurücklassen, wenn wir als Lehrer von ihnen verlangen, sie sollten alles aus sich selber heraus entwickeln. Viele Schüler können aus Überforderung gar nichts lernen, wenn sie sich etwas selber erarbeiten sollen. Dann weichen sie aus und machen Blödsinn, und wir müssen wiederum mit disziplinarischen Massnahmen reagieren. Damit verlieren wir viel wertvolle Lernzeit! Übrigens laut Hattie ein ganz wichtiger Faktor für den Lernerfolg. Schreibt Tomasello auch etwas darüber, dass es Sinn macht, die Kinder in Gruppen zu unterrichten? Ich finde nämlich, wir sollten das Prinzip der Jahrgangsklassen beibehalten.

Die Forschergruppe um Tomasello belegt, dass der Mensch von Natur aus die Aufmerksamkeit für eine Sache mit anderen teilen will. Er beschreibt, wie Kleinkinder von sich aus in vielen Situationen kooperativ und hilfsbereit sind. Sie erfassen, was eine andere Person will, und helfen ihr ohne Aufforderung, dass es gelingt. Sie zeigen beispielsweise auf einen gesuchten Gegenstand, nachdem sie beobachten, dass die andere Person suchend umherschaut. Oder öffnen eine Schranktür, wenn der Erwachsene keine Hand frei hat. Zudem können Kinder im Laufe ihres Heranwachsens zunehmend an einem kooperativen Gruppendenken teilhaben. Tomasello bestätigt aus anthropologischer Sicht, was die personale Psychologie als Gemeinschaftsgefühl bezeichnet. Jeder Mensch ist Person und will mit den anderen Menschen in Gemeinschaft kooperieren.

Super, das bestätigt meinen Klassenunterricht! Wie aufmerksam können doch die lebendigsten Kinder sein, wenn wir gemeinsam etwas Faszinierendes betrachten und miteinander darüber reden. Sie geniessen es, wenn ich vorlese oder wir miteinander lesen. Sie wollen mich für sich haben, und zwar als Gemeinschaft, weil sie sehen, dass jeder bereichernd beitragen kann. Sie machen gerne im Unterricht mit, den ich für sie vorbereite. Sie wollen von mir und miteinander lernen.

Ja, das sind die schönsten Momente in unserem Beruf. Im Klassenunterricht lernen die Kinder tatsächlich viel schneller, weil sie ganz natürlich davon ausgehen, dass das, was ich allen zeige, tatsächlich auch alle lernen können. Weil im Klassenunterricht jeder angesprochen ist, hören die schwächeren Schüler anfangs nur zu, können bei allen gemeinsamen Übungen mitmachen und unauffällig im Chor mitsprechen oder einfach beobachten und mitdenken. Weil sie wissen, dass das Lernziel für alle gilt, strengen sie sich an mitzukommen und fragen, wenn sie noch nicht drauskommen.

Da hast du recht. Auch wenn es nicht jeden Tag und in jeder Klasse gleich gut vorangeht. Manche Kinder sind vom ständigen Medienkonsum und «Gamen» derart beeinträchtigt, dass sie kaum etwas vom Unterricht mitbekommen.

Da sprichst du ein Thema an, das mich auch schon lange beschäftigt. Hab’ gerade gestern mit einer Kollegin aus dem Kanton Bern telefoniert. Die hat mir erzählt, dass ein Viertel ihrer Drittklässler eine eigene Facebook-Seite hat und die Mittelstufenschüler sich gegenseitig mit peinlichen Filmchen auf YouTube stellen und pornographische Bilder herumzeigen.
Jetzt machen sie in ihrem Schulhaus eine Elternveranstaltung mit einem Fachmann der Polizei, damit man die Kinder vor solchen Persönlichkeitsverletzungen und vor Mobbing schützen kann.

Jawohl, dafür sollten die Schulgemeinden Geld bereitstellen! Dass man endlich wieder gemeinsam und auf dem Boden der Realität an einem Strick ziehen kann, wenn es um die Erziehung und Bildung unserer Kinder geht.
Schliesslich haben wir ja einen klaren Auftrag. Pass mal auf, hier im Schulgesetz steht es: «Die Schulen unterstützen die Inhaber der elterlichen Sorge in der Erziehung des Kindes zu einem selbständigen, lebensbejahenden und gemeinschaftsfähigen Menschen. Sie werden nach christlichen Grundsätzen geführt. Sie fördern die harmonischen Entwicklungen der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte des Schülers. Sie vermitteln die grundlegenden Kenntnisse und Fertigkeiten, öffnen den Zugang zu den verschiedenen Bereichen der Kultur und leiten zu selbständigem Denken und Handeln an. Sie erziehen zu einem verantwortungsbewussten und toleranten Menschen und Bürger. Schulbehörden, Lehrkräfte und Inhaber der elterlichen Sorge arbeiten im Interesse des Kindes zusammen, um die Aufgaben der Schule zu erfüllen.» (Schulgesetz Appenzell Innerrhoden, Art. 2.1)

Toll! Wir sollten einfach mehr reden miteinander. Als Lehrer müssen wir unser Wissen wirklich weitergeben und als Bürger zusammen mit den Eltern und allen anderen Mitbürgern mithelfen, dass die Schule ihre Aufgabe vollumfänglich wahrnehmen kann.

Angesichts dieser fundierten Grundlagen sollte die nächste «Schilf»-Veranstaltung (Schulinterne Lehrerfortbildung) zum Thema «Kooperative Lernformen» eigentlich den Klassenunterricht wieder in den Vordergrund rücken.

Gute Idee, bringst du das in der nächsten Teamsitzung ein?
Jetzt muss ich aber schauen, dass im Schulzimmer alles parat ist, bald beginnt der Nachmittagsunterricht. Hat mir richtig gut getan, mich mit dir auszutauschen.

Danke gleichfalls, Fortsetzung folgt …    •

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