Genossenschaften – die Alternative zum Konstrukt des Homo oeconomicus

Genossenschaften – die Alternative zum Konstrukt des Homo oeconomicus

von Dr. Eva-Maria Föllmer-Müller

Die grosse Krise zeigt es: Der neoliberale marktradikale Ökonomismus insbesondere der Chicago School of Economics (Milton Friedman) ist allgemein gescheitert, weil er falsch war. Seiner Ideologie liegt das Menschenbild des Homo oeconomicus zugrunde. Insbesondere Ökonomen der Chicagoer Schule haben zur Ausbreitung der verengten ökonomistischen Sicht auf alle menschlichen Lebensbereiche und die gesamte Wirklichkeit beigetragen (hegemonialer Erkenntnisanspruch). Diese Sicht reduziert menschliches Verhalten auf ein rein rationales Abwägen von Vorteilen (Utilitarismus). Das Menschenbild des Homo oeconomicus reduziert den Menschen auf ein Wesen, das nur danach strebt, seinen (Eigen-)Nutzen bzw. Vorteil zu maximieren (Beispiel: «strategische Freundschaften»). Der Mensch ist demnach lediglich Objekt seines Vorteilsstrebens, egoistisch, ohne Verantwortung und völlig losgelöst vom Moralprinzip, der Achtung unserer Mitmenschen in ihrer Würde. «Es geht um das praktische Ziel, die Individuen möglichst restlos von moralischen Ansprüchen zu entlasten, damit sie ihr unterstelltes Bedürfnis nach strikter Eigennutzmaximierung […] ausleben dürfen.» (Peter Ulrich, 2008, S. 202, zit. nach Jochen Krautz, 2013).1 «Die Marktlogik wird zur Logik des Lebens.» (a.a.O.) Diesen Ökonomismus finden wir heute in nahezu allen Lebensbereichen: Wirtschaft, Gesundheitswesen, Familie, Religion, Bildung, Wissenschaft, Psychologie, Psychiatrie …

Genossenschaften als Weg aus der Wirtschaftskrise

Wirtschaftswissenschaftler, Führungskräfte von Banken und internationalen Finanzinstituten geben inzwischen das Scheitern der neoliberalistischen Wirtschaftsauffassung mit ihrem falschen Menschenbild offen zu.2
Viele Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsethiker rücken ab von der Vorstellung des Homo oeconomicus und stellen das Wohl des Menschen und das Gemeinwohl wieder in den Mittelpunkt. Sie sehen den Menschen nicht als ökonomische Maschine, sondern als entscheidungs- und handlungsfähige Person. Es sind Menschen, und nicht die Kräfte des Marktes, welche die Form unserer Wirtschaft bestimmen.
Fasst man verschiedene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen ins Auge, so zeigt sich, dass gerade das Genossenschaftswesen von genau dieser Auffassung vom Menschen zutiefst durchdrungen ist. So durchziehen die Grundlagen der personalen Auffassung das Genossenschaftswesen von Anfang an. Helmut Faust hat einen sehr lesenswerten Band, «Die Geschichte der Genossenschaftsbewegung» (3. Aufl. 1977), geschrieben. Darin legt er den Beginn genossenschaftlicher Zusammenschlüsse als Vorläufer der modernen Genossenschaften mit dem Beginn von Zivilisation und Kultur der Menschheit überhaupt fest: «Solange Menschen die Erde bevölkern, haben sie sich, wenn es galt, wirtschaftliche oder andere Bedürfnisse zu befriedigen, und dies die Kräfte des einzelnen überstieg, in Gruppen oder Gemeinschaften zusammengeschlossen. Der Aufstieg des Menschengeschlechtes aus dem Dunkel des Naturzustandes in das Licht von Zivilisation und Kultur ist überhaupt erst durch die Vereinigung von Mensch zu Mensch und in fortschreitender Entwicklung durch die Vergesellschaftung mit ihrer arbeitsteiligen Gliederung möglich geworden.» (S. 17) Was allen Genossenschaften von der Frühzeit bis heute gemeinsam ist, ist, dass sich ihre Bedeutung «nicht in der wirtschaftlichen Förderung der Mitglieder erschöpft, sondern dass sie darüber hinaus auch in der Erfüllung kultureller Aufgaben zu erblicken sei.» (S. 9). Grundlegend ist das genossenschaftliche Prinzip der Kooperation: «Sich zu gegenseitiger Hilfe in einer Gemeinschaft zu verbinden, ist auch der einfache Sinn des Genossenschaftsgedankens. Obgleich er so sehr menschlichem Wesen entspricht, liegt in seiner Verwirklichung doch das höchste Ethos, zu dem Menschen hinfinden können.» Das genossenschaftliche Prinzip bezieht sich also nicht nur auf ökonomisch-materielle Belange, sondern umfasst das Gesamtmenschliche, ist also eine anthropologische Grundkonstante.
Die Genossenschaft ist die eigentliche Urform des gemeinsamen Tätigseins in Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung. Sie wird getragen von einem gemeinsamen Ziel, an dem sich die beteiligten Menschen orientieren und das sie im steten Austausch miteinander weiterentwickeln. Der Zweck einer Genossenschaft besteht immer in der optimalen Nutzung einer gemeinsamen Sache. Die Nutzungsformen können verschieden sein, der Zweck muss aber immer dem Gemeinwohl dienen. Genossenschaften müssen im inneren Ablauf sorgfältig geführt werden – gleichwertig, ehrlich, würdig und menschlich. Dies stellt hohe ethische Ansprüche an alle Mitglieder. Wer eine leitende Funktion ausüben will, muss sich im demokratischen Leben bewährt haben.
Zur inneren Haltung gehören gerechtes und solidarisches Handeln, eine Bereitschaft, soziale Verantwortung zu übernehmen und für andere zu sorgen. Dafür braucht es Offenheit, Zusammengehörigkeitsgefühl, Einsicht und Treue.
Dass die Genossenschaften sozusagen einem «anthropologischen Prinzip» entsprechen, lässt sich auch daran erkennen, dass sich diese Form des Wirtschaftens überall auf der Welt entwickelt hat und bis heute ausgesprochen erfolgreich ist.3
In der schweizerischen Eidgenossenschaft hat sich diese Lebens- und Wirtschaftsform auch im Bereich des Politischen durchgesetzt: Es waren die Erfahrungen der alemannischen Markgenossenschaften, die sich im Bund der Eidgenossen von 1291 niederschlugen. So war das Genossenschaftsprinzip in der Schweiz schon im ersten Bündnis der Eidgenossen von 1291 präsent. Als Grundlage für Sicherheit und Wohlstand besteht es im Schweizerischen Bundesstaat seit 1848 weiter. Wenn man den Bundesbrief von 1291 liest, so stellt man fest, dass dessen Gehalt «Alle für einen – einer für alle», oder anders ausgedrückt «Miteinander – Füreinander», wie es der Schweizer Bundespräsident Ueli Maurer in seiner Neujahrsrede ausgedrückt hat, durch und durch den Geist des Genossenschaftswesens atmet. Es wäre eine dankbare Aufgabe für Historiker, genauer herauszuarbeiten, wie sich im Laufe einer über 700jährigen Geschichte aus vielen unterschiedlichen Typen von Genossenschaften in den Gemeinden, den Kantonen und dem Bund die direkte Demokratie entwickelt hat.

2012: Das Internationale Jahr der Genossenschaften

Wie aktuell der Genossenschaftsgedanke gerade heute ist, zeigt auch die Resolution A/RES/64/136 der Vereinten Nationen. Mit dieser Resolution hat die Generalversammlung der Uno beschlossen, das Jahr 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften (International Year of Cooperatives, IYC) auszurufen. Damit wurde die Bedeutung des genossenschaftlichen Modells auf Weltebene gehoben und auf dessen wirtschaftliche sowie soziale und gesellschaftliche Bedeutung hingewiesen: Genossenschaften senken die Armut, schaffen Arbeitsplätze und fördern die soziale Integration. Die Uno will damit auch erreichen, dass Regierungen ein Umfeld schaffen, welches das Wachstum und die Bildung von neuen Genossenschaften mehr fördert. So sollen Staaten eine Gesetzeslage schaffen, die Genossenschaften die gleichen Ausgangsbedingungen wie anderen Wirtschafts- und Sozialunternehmen garantiert. Auf Uno-Ebene ist neu die dritte überarbeitete Auflage der Richtlinien für genossenschaftliche Gesetzgebung («Guidelines for Cooperative Legislation») erschienen. Herausgeber ist die International Labour Organization ILO. Das Regelwerk gibt Anleitung und Rat bei der Schaffung eines förderlichen Umfelds für die genossenschaftliche Entwicklung auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene.
Nach Angaben der Uno gibt es weltweit 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in mehr als 100 Ländern; über 100 Millionen Arbeitsplätze werden von Genossenschaften bereitgestellt. Die Hälfte der Weltbevölkerung – so schätzt die Uno – findet ihre Ernährungsgrundlage in Genossenschaften. So tragen Kreditgenossenschaften, ländliche und gewerbliche Genossenschaften dazu bei, regionale Wirtschaftskreisläufe zu stabilisieren und lokale Beschäftigung zu fördern.
Zu den Kernaussagen der Uno über Genossenschaften gehören:
–    Genossenschaftliche Unternehmen gehören den Mitgliedern, dienen den Mitgliedern und werden von Mitgliedern geführt
–    Genossenschaften stärken die Menschen
–    Genossenschaften verbessern die Lebensbedingungen und stärken die Wirtschaft
–    Genossenschaften ermöglichen nachhaltige Entwicklung
–    Genossenschaften bringen die ländliche Entwicklung voran
–    Genossenschaften gleichen sowohl die soziale als auch die wirtschaftliche Nachfrage aus
–    Genossenschaften fördern demokratische Grundsätze
–    Genossenschaften sind ein nachhaltiges Unternehmensmodell für die Jugend   

(Quelle: www.social.un.org, Übersetzung Zeit-Fragen)

Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon sagte anlässlich des Internationalen Jahres der Genossenschaften 2012: «Genossenschaften erinnern die internationale Gemeinschaft daran, dass es möglich ist, sowohl unternehmerisch zu handeln als auch soziale Verantwortung zu tragen.» «Im aktuellen Internationalen Jahr der Genossenschaften ermutige ich deswegen alle Beteiligten und Interessierten, das Bewusstsein für diese Arbeit zu stärken und Genossenschaften überall zu unterstützen. Durch ihren Dienst an der Würde des Menschen und die globale Solidarität sind Genossenschaften für eine bessere Welt unersetzlich.»
José Graziano da Silva, der Generaldirektor der FAO, gab in seiner Stellungnahme zum Welternährungstag 2012 öffentlich bekannt: Genossenschaften sind der Schlüssel zur Welternährung.

Genossenschaften zur weltweiten Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit

Unter dem Thema «Die Förderung von Genossenschaften nach 2012» fand im November 2012 die Abschlussveranstaltung des Internationalen Jahres der Genossenschaften 2012 an der Uno in New York statt. Durch das Internationale Jahr soll eine «Dekade der Genossenschaften» eingeläutet werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Jugend. Hier stand die Frage im Vordergrund, wie die Jugend besser in Genossenschaften eingebunden werden kann. In der Gründung von Genossenschaften wird ausser der weltweiten Ernährungssicherheit auch die Bedeutung der Genossenschaften für die Senkung der Jugendarbeitslosigkeit und überhaupt der sozialen Entwicklung gesehen: Von 2002 bis 2007 hatte die Jugendarbeitslosigkeit weltweit beständig abgenommen. Das änderte sich mit der weltweiten Finanzkrise schlagartig: Seit 2007 begann die Jugendarbeitslosigkeit wieder anzusteigen. Der rasante Anstieg, vor allem in den Jahren 2008/09, hat vieles von dem, was zuvor erreicht worden war, wieder zunichte gemacht. Heute sind weltweit etwa 75 Millionen Jugendliche arbeitslos, das ist ein Anstieg von mehr als »4 Millionen seit 2007. Die weit grössere Herausforderung sind jedoch die «working poor» (Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit arm sind). Die International Labour Organization (ILO) schätzt, dass heute über 152 Millionen Jugendliche mit weniger als 2 Dollar am Tag leben müssen (ILO Global Employment Trends for Youth 2012).
Wenn Jugendliche sich in genossenschaftlichen Unternehmen oder Organisationen engagieren, wird darin ein wichtiges Mittel zur Überwindung dieser Herausforderungen gesehen.
Da Genossenschaften den Mitgliedern gehören und gemeindenahe Unternehmen sind, können sie junge Menschen befähigen, selbst Unternehmen zu gründen. Indem sie ihre eigenen Unternehmen schaffen, die den örtlichen Bedürfnissen angepasst sind, regen junge Unternehmer die wirtschaftliche Entwicklung in ihren Gemeinden an und erweitern damit gleichzeitig ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Damit tragen Genossenschaften wesentlich zur Prävention und zur Beendigung der Armut bei, sie schaffen soziale Sicherheitsnetze und stärken die Jugend.
Es wurde betont, dass sich die jüngere und die ältere Generation gegenseitig brauchen. Die junge Generation möchte ernstgenommen und angehört werden. Die ältere Generation ist mit ihren Erfahrungen für die Jüngeren sehr wichtig. So ist der Dialog zwischen den Generationen unabdingbar. Wichtig ist der Respekt, den man anderen Menschen entgegen bringt, danach kommt das Vertrauen. Wichtig ist, dass man sich gegenseitig zuhören kann und die Bereitschaft hat, zu lernen. Betont wurde auch, dass es Mut braucht. Und keine Angst, Fehler zu machen. Kooperation ist besser als Konkurrenz.     •

1    Jochen Krautz «Bildungsreform und Propaganda» in: Sonderheft «Demokratie setzt aus» der Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 2012, S. 86–128.
2    vgl. Joseph E. Stiglitz «Im freien Fall», Siedler Verlag, München 2010; Gipfeltreffen an der Generalversammlung der Uno des damaligen Präsidenten Miguel D’Escoto Brockmann, u.a. mit J. Stiglitz, Zeit-Fragen, Nrn. 28, 2009 und 30, 2011; «Offener Brief an die Bürger», von 270 Ökonomen unterschrieben;  Basler Manifest zur ökonomischen Aufklärung, November 2011; «Neue Zürcher Zeitung» vom 16. Januar «Der Homo oeconomicus hat ausgedient. Weg mit ihm».
3    vgl. dazu auch Elinor Ostrom «Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt», Mohr, ­Tübingen 1999.

Das personale Menschenbild

ef. Die personale Auffassung vom Menschen sieht ihn als ein von Grund auf soziales Wesen, das sich in und durch die Gemeinschaft zur vollen Blüte seiner Persönlichkeit entwickelt; er ist nicht einfach Produkt von Anlage und Umwelt, sondern verfügt über eine schöpferisch-gestaltende Eigenaktivität und ist fähig zu Vernunft und Ethik. Der Mensch ist fähig, Kultur zu schaffen und moralische Werte zu setzen.
Die personale Auffassung orientiert sich an den naturrechtlich geltenden Werten des Christentums und an dem Naturrechtsgedanken der Aufklärung, der dem Einzelnen individuelle Rechte zusprach. Im frühen 16. Jahrhundert haben Vertreter der Schule von Salamanca vor dem Hintergrund der Eroberung Süd- und Mittel­amerikas durch die Spanier und Portugiesen ein «internationales Naturrecht» entwickelt. Sie läuten das Ende des mittelalterlichen Rechtskonzepts ein. So wird in der Schule von Salamanca zum ersten Mal der Begriff der Volkssouveränität eingeführt.
Die naturrechtlich geltenden Werte werden auch von der Personalen Psychologie bestätigt. Annemarie Buchholz-Kaiser schreibt hierzu in ihrem Beitrag «Personale Psychologie – Der Beitrag von Psychologie und Pädagogik zur Menschenwürde» (V. Kongress «Mut zur Ethik» – Die Würde des Menschen, Feldkirch 1997), welcher sich mit der Frage beschäftigt, wie soziales Verantwortungsgefühl und Verbundenheit mit dem Mitmenschen entwickelt werden kann: «Moralität muss dem Menschen nicht aufgezwungen werden: Sie hat ihre Wurzeln in der Empathie, welche sich in einer positiven Bindung des Kindes an seine erste Bezugsperson entwickelt. Gewissensbildung, ethisches Verhalten und sittliches Empfinden, die hier ihren Anfang nehmen, liegen […] in der menschlichen Natur begründet. Empathie und Mitgefühl sind es, die den Menschen in die Lage versetzen, die Folgen seines Handelns für seine Mitmenschen abzuwägen und ihn veranlassen, sich sozial verantwortlich zu verhalten.»
Der Individualpsychologe Alfred Adler hat die Sozialität des Menschen mit dem Begriff des «Gemeinschaftsgefühls» bezeichnet; dies ist Kernstück seiner Lehre gewesen. Für Adler ist die Mitmenschlichkeit die Grundstruktur der menschlichen Existenz. Der Mensch ist ein soziales Wesen, weil er nur in der Gemeinschaft lebensfähig ist und nur im kooperativen Miteinander Selbstverwirklichung, Lebenserfüllung, Genugtuung und Zufriedenheit erlangen kann. Der Mensch kann nur in der Gemeinschaft kooperierender Mitmenschen zum Mensch werden. Dies zunächst auf Grund seiner biologischen Unvollkommenheit und der sich aus ihr ergebenden Hilflosigkeit und Uneigenständigkeit. Dem Menschen ist es nur durch den Zusammenschluss mit anderen Menschen, durch Arbeitsteilung und Kooperation möglich, die Aufgaben zu bewältigen, die den Erhalt des Lebens gewährleisten. Das Gemeinschaftsgefühl ist also eine biologische Tatsache. Alle Kulturleistungen, wie z.B. die Sprachentwicklung, sind auf dem Boden des Gemeinschaftsgefühls entstanden. Kooperation, Solidarität und das Prinzip der gegenseitigen Hilfe sind für die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls und für den sozialen Fortschritt der Menschheit konstitutiv. Damit wird Mitmenschlichkeit zum eigentlichen Sinn des Lebens. Jegliche Form des Machtstrebens, der Herrschsucht ist dem Gemeinschaftsgefühl diametral entgegengesetzt und wird zum Verhängnis des Menschen.

ef. Auch im Bildungsbereich wird die ökonomistische Sichtweise inzwischen wohltuend offen kritisiert, und es beginnt eine Neubesinnung auf einen Bildungsbegriff, der sich wieder an der personalen Auffassung, an der Demokratie und an den Menschenrechten orientiert. So schreibt Jochen Krautz in seinem Beitrag «Bildungsreform und Propaganda» (2013): «Bildung muss in einer Republik alle Bürger ohne Massgabe des Besitzes zu Selbständigkeit und Verantwortlichkeit im Denken und Handeln befähigen, damit sich der Mensch in Gemeinschaft selbst bestimmen kann.» Und weiter: «Bildung an öffentlichen Schulen dient […] der Personwerdung des Einzelnen im Horizont des Gemeinwohls, also in der Orientierung auf Friede, Freiheit und Gerechtigkeit.»
Jochen Krautz zeigt in seiner Analyse auf, wie uns dieses Menschenbild mittels Propaganda sowie verschiedener internationaler Organisationen wie der privaten Organisation OECD in den vergangenen Jahrzehnten übergestülpt wurde bzw. wir uns dieses haben überstülpen lassen.

Die Genossenschaft als Grundlage des Schweizer Friedensmodells

«Auch in unserer ältesten und den noch lebenden Demokratien darf der Ursinn des Wortes nicht vergessen werden. Eidgenossenschaft bedeutet ursprünglich und verpflichtend eine Gemeinschaft von Menschen, die sich gelobten, für einander einzustehen, den Willen, das politische Leben gemeinsam zu gestalten. Das war der Grund zum ersten, zum Ewigen Bund und blieb seine beste Grundlage. Die staatliche Ordnung war nie Selbstzweck oder gar Gegenstand eines Kults, sondern stets der Menschen wegen da.»
Georg Thürer. Persönlichkeit und Volksgemeinschaft im eidgenössischen Bundesleben, 1949. In: Gemeinschaft im Staatsleben der Schweiz. Haupt-Verlag 1998, S. 146
«Die Genossenschaft verbindet ihre Glieder auf Grund dreier ‹Selbst›: Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Wer ihr angehört, ist nicht Untertan, sondern gleichberechtigter Mitbesitzer und Mitgestalter. Er hat auf den Tagungen das gleiche Stimm- und Wahlrecht, im Gegensatz zu alten Ordnungen, welche Reiche und Adlige mit grösserer Stimmkraft ausrüsteten als politisch Minderbemittelte, ähnlich wie die Aktiengesellschaften der modernen kapitalistischen Wirtschaft den Inhabern grosser Aktienpakete entsprechend mehr Einwirkung auf die Entscheidungen gewähren als den Besitzern nur weniger Wertpapiere. Die Persönlichkeit, ja die Menschenwürde wurde in der Genossenschaft gewahrt. Der einzelne Genosse war von jeher ‹jemand›.»
Georg Thürer. Die Genossenschaftsidee im schweizerischen Staat, 1977. a.a.O., S. 193
«Die Eidgenossenschaft ist, wie der Name schon sagt, geprägt vom Geist der Genossenschaft. Freiheit war in der Zeit der Gründung etwas anderes als heute. Sie war eingebunden in die Genossenschaft. Die Eidgenossen verteidigten nicht das Menschenrecht Freiheit, sondern die Selbständigkeit ihrer kleinen Gemeinschaften, in denen allerdings die einzelne Persönlichkeit so, wie es angedeutet wurde, zur Geltung kommen konnte. Die Gründungssage sowie die ganze historische Tradition enthält beides: den Geist des genossenschaftlichen Zusammenhalts wie die entscheidende Bedeutung der individuellen Tat oder der persönlichen Idee. Es liegt in dieser genossenschaftlichen Tradition beschlossen, dass sich in der Schweiz weniger als sonstwo privilegierte Stände gebildet haben, welchen die Besorgung der öffentlichen Aufgaben überlassen worden wäre, wie der Klasse der ­«Politiker», der der Militärkaste oder dem Stand der «Gebildeten». In der Genossenschaft tragen alle Verantwortung für alles. Kein Gebiet soll aus der Verantwortung der Gemeinschaft entlassen werden. Die ursprüngliche genossenschaftliche Gesinnung setzt sich in den bekannten Formen der modernen Schweiz fort: in der direkten Demokratie, in dem Konkordanzsystem, der Kollegialität der Behörden, in dem fortbestehenden Föderalismus. Wenn man nach dem Wesen eines schweizerischen Nationalgeistes gefragt wird, kann man es am ehesten in dieser Tatsache finden, dass das ganze Leben von dem kleinen Kreis getragen wird, von Familie, Gemeinde, Region.»

Wolfgang von Wartburg (Hrsg.). Wagnis Schweiz. Die Idee der Schweiz im Wandel der Zeit», Novalis. Schaffhausen 1990, S. 24f

Das personale Menschenbild in Gesetz und Völkerrecht

ef. Die personale Auffassung findet sich im Deutschen Grundgesetz: «Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt» (Art. 1) und «Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmässige Ordnung oder das Sittengesetz verstösst» (Art. 2 (1)) sowie «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich» (Art. 3 (1)). Das deutsche Bundesverfassungsgericht formuliert dies wie folgt: «Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums, das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.» In der Uno-Menschenrechtserklärung, die den Kern der Ethik aus allen Kulturen weltweit beinhaltet, heisst es: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» (Art. 1) und «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz […]» (Art. 7). In der Uno-Charta (Präambel) heisst es: «Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen […] unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen […] und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben […]».

Genossenschaften weltweit

Ungefähr eine Milliarde Menschen weltweit sind Mitglieder von Genossenschaften. Im Jahr 2008 waren die 300 bedeutendsten Genossenschaften für einen Gesamtumsatz von 1,1 Billionen US-Dollar verantwortlich. Das entspricht der zehntgrössten Wirtschaft weltweit, Kanada, und fast der Grösse der Wirtschaftskraft von Spanien.
•    In Kenia haben Genossenschaften folgende Marktanteile: 70% Kaffee, 76% Milchprodukte, 90% Pyrethrum (Insektizid aus getrockneten Blüten von Tanacetum-Arten) und 95% Baumwolle.
•    In Brasilien sind Genossenschaften für 40% des landwirtschaftlichen Bruttosozialprodukts verantwortlich und für 6% der gesamten landwirtschaftlichen Exporte.
•    In Bolivien sind ein Drittel der Bevölkerung Mitglieder von Genossenschaften (Fairmining, Fairtrade).
•    In Kenia beziehen 924 000 Bauern Einkommen aus ihrer Mitgliedschaft in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, in Äthiopien sind es ungefähr 900 000 und in Ägypten ungefähr 4 Millionen.

Quelle: <link http: www.fao.org>www.fao.org 
(Übersetzung Zeit-Fragen)

Nicht alle Genossenschaften arbeiten auf genau die gleiche Art. Aber die meisten traditionellen Genossenschaften folgen den sieben Grundsätzen genossenschaftlicher Identität. Sie dienen ihnen als Richtlinien, mit deren Hilfe sie ihre Werte in die Praxis umsetzen:
•    Freiwillige und offene Mitgliedschaft
•    Demokratische Entscheidungsfindung durch die Mitglieder (ein Mitglied – eine Stimme)
•    Wirtschaftliche Mitwirkung der Mitglieder
•    Autonomie und Unabhängigkeit
•    Ausbildung, Fortbildung und Information
•    Kooperation mit anderen Genossenschaften
•    Vorsorge für die Gemeinschaft der Genossenschaft

Quelle: <link http: www.ilo.org>www.ilo.org
(Übersetzung Zeit-Fragen)

Benedikt XVI. forderte neuen Blick auf die Wirtschaft

In seiner Botschaft zum diesjährigen Weltfriedenstag forderte der damalige Papst Benedikt XVI. «einen erneuten und einhelligen Einsatz in dem Bemühen um das Gemeinwohl wie um die Entwicklung aller Menschen und des ganzen Menschen». Die Ursachen von zunehmenden Spannungen und Konfliktherden sieht er in der zunehmenden Ungleichheit zwischen Reich und Arm und ebenso im ungeregelten Finanzkapitalismus (radikalen Wirtschaftsliberalismus) mit seiner egoistischen und individualistischen Mentalität. Benedikt XVI. brachte zum Ausdruck, dass es heute einen neuen Blick auf die Wirtschaft braucht: Jenseits von egoistischer und individualistischer Profitsteigerung und Konsum stellt er die Verwirklichung des Gemeinwohls in allen Bereichen des menschlichen Lebens in den Mittelpunkt sowie eine Politik, «die den sozialen Fortschritt und die Ausbreitung des demokratischen Rechtsstaates im Auge hat».

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