Scheinheilige Empörung aus Brüssel

Scheinheilige Empörung aus Brüssel

Warum die Schweiz Europas liebster Prügelknabe ist

Ein Kommentar von Wolfgang Koydl, Zürich

Die Schweiz will die Zuwanderung von EU-Bürgern beschränken – und Europa ist empört. Doch die Aufregung der Nachbarländer ist scheinheilig und lenkt von eigenen Fehlern und Versäumnissen ab. Den Eidgenossen geht es besser, weil sie manches einfach besser machen.
Mal angenommen, jedes Jahr würden 800 000 Wirtschaftsflüchtlinge aus allen Teilen der Europäischen Union in Deutschland Lohn und Brot suchen – zusätzlich zu den rund 4 Millionen Polen, die in den vergangenen Jahren immer mehr Berufe erobert haben, von der Aldi-Kassiererin bis zum Akademiker. Wie gelassen würde die Politik reagieren? Wie verhalten wären die Schlagzeilen der «Bild-Zeitung»?
Doch dies sind, hochgerechnet auf die Bundesrepublik, die Grössenverhältnisse, mit denen sich die Schweiz seit Jahren herumschlagen muss: Etwa 350 000 Deutsche arbeiten dauerhaft in der Eidgenossenschaft, und der gesamte Zustrom aus der EU summiert sich auf fast 1 Prozent der schweizerischen Gesamtbevölkerung – jährlich. Welche Folgen das auf Wohnungsmarkt, Schulen und Infrastruktur hat, kann man sich leicht ausmalen.
Oder eben nicht, wie die scheinheilige Empörung in Brüssel über die Beschränkung des Zuzugs von EU-Bürgern durch die Regierung in Bern zeigt. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die Schweizer Massnahme in erster Linie innenpolitischen Symbolcharakter hat: Sie betrifft etwa 3000 Menschen, gilt nur für Einwanderer, die länger als 5 Jahre bleiben wollen, und wird in einem Jahr sang- und klanglos und für immer auslaufen.
Aber es geht inzwischen um mehr, wenn sich die Europäer die angeblich ebenso dickköpfigen wie verschlagenen Eidgenossen vorknöpfen. In der Schweiz scheint man einen famosen Prügelknaben gefunden zu haben, dem man eigene Fehler und Versäumnisse ankreiden kann. Dazu gehören die ob ihrer Undurchdringlichkeit ungerechten Steuersysteme ebenso wie eine verfehlte oder fehlende Industriepolitik. Frei nach dem Motto: «Wer ist’s gewesen?»
Die Ursachen für die kleinen und grossen Fluchten in die Schweiz – sei es von unversteuertem Geld oder von unbeschäftigten Arbeitnehmern – liegen ja nicht in der Eidgenossenschaft, sondern im europäischen Umland.
Ja, Schweizer Bankberater haben für deutsche Kunden Steuersparmodelle ausgearbeitet. Aber sie haben deren Geld nicht gestohlen und nach Zürich geschafft. All die Zahnärzte, Anwälte und Mittelständler sind freiwillig gekommen. Und zwar nicht immer nur, um Steuern zu hinterziehen, sondern häufig, weil sie dem Franken und einer Schweizer Bank mehr vertrauen als dem Euro und der Deutschen Bank.
Auch all jene europäischen Arbeitnehmer in Luzern und Lausanne wurden nicht von eidgenössischen Söldnertrupps gefangen und als Zwangsarbeiter über die Grenze verschleppt. Sie kamen ebenfalls aus freien Stücken, weil sie in der Schweiz gut bezahlte Stellen und gute Arbeitsbedingungen vorfanden.
Denn der Schweiz geht es noch immer ziemlich gut, «merci viilmal». Schliesslich muss sie gerade deshalb Arbeitskräfte importieren, weil sie kaum nachkommt mit der Fertigung von Produkten, die sie in alle Welt exportiert.    •

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 26.4.2013

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