Asyl für 87 000

Bourbaki? – Man erinnert sich schwach an den Geschichtsunterricht: Wie war das doch mit jenem glücklosen General Bourbaki und seiner von preussischen Heeren eingekesselten Armee? War nicht die Sicherheit der Schweizer Grenze bedroht, stand nicht die eidgenössische Neutralität in der Zerreiss­probe? Welche organisatorische Aufgabe auch, als sich diese unabsehbaren, jammervollen Heerscharen in die Täler des Schweizer Jura ergossen! War da nicht in einem Lesebuch von einquartierten Fremden in den Gemeinden die Rede, von Franzosen und Afrikanern, welche die deutsche Sprache nicht verstanden? Und schliesslich: Hatte nicht damals die Schweiz ein grossartiges Werk der Nächstenliebe vollbracht, das ihren Ruhm, die Wiege des Roten Kreuzes und eine Nation humanitär Gesinnter zu sein, aufs Schönste krönte?
Doch was soll die Beschäftigung mit einem gut hundert Jahre zurückliegenden Ereignis? Was gehen uns heute die Bourbaki-Soldaten an?
Wir möchten mit diesem Buch ein Stück Vergangenheit zu anschaulichem Leben erwecken und damit, natürlich, auch unterhalten. Die Bourbaki-Internierung erweist sich in der Tat als grossartiges Spektakel, als Ereignis der Nächstenliebe ebenso wie als gigantisches Organisationsproblem. Die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte kann aber mehr sein als eine sich selbst genügende Unterhaltung. Geschichte, das sind die Erfahrungen unserer Grosseltern und Urgrosseltern in einer Zeit, die für jene Gegenwart war. Das fordert zum Nachdenken über die eigene Gegenwart heraus, denn sie wird die Geschichte unserer Kinder sein. Dem historischen Vergleich kommt eine nicht gering zu achtende ethische Aufgabe zu; Geschichtsbetrachtung kann zum kontrollierenden Gewissen der aktuellen Politik werden.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten beherrscht die Xenophobie, die Angst vor Fremden, immer wieder die öffentliche Diskussion, sei es wegen knapper Arbeitsplätze, sei es wegen Furcht vor Missbräuchen im Asylwesen. Man kann die Situation der Bourbaki-Internierung nicht leichthin mit der gegenwärtigen gleichsetzen. Das neue, weltumspannende Flüchtlingselend basiert auf gänzlich gewandelten Voraussetzungen. Aber ein Vergleich ist allemal lohnend.
Es gab 1871 Umstände, die von den heutigen völlig verschieden sind: Das Asyl für die Bourbaki-Armee war ein Asyl auf absehbare Zeit. Nach dem Friedensschluss kehrten die Internierten in einen Staat zurück, der eben die Monarchie abgeschüttelt und den Aufbau einer Republik in Angriff genommen hatte. Die Internierung war an die Bedingung geknüpft, dass Frankreich die Kosten begleiche. Zudem handelte General Herzog, als er die Übertrittskonvention diktierte, in einer Notlage. Es galt nicht nur, der in fürchterlichem Elend steckenden Armee das Überleben zu sichern, sondern auch die Integrität des Schweizer Territoriums zu wahren. Die schwache Grenzbesetzung hätte einem Ansturm der Franzosen nie trotzen können. Auf einen französischen Einmarsch hätten die deutschen Truppen mit Verfolgung reagiert, und die Schweiz wäre zum Kriegsschauplatz geworden.
Doch ein Unterschied bestand auch in der Opferbereitschaft der schweizerischen Zivilbevölkerung. Ohne sie wäre die gewaltige Aufgabe, 87'000 am Ende ihrer Kräfte stehende Soldaten zu versorgen, nicht möglich gewesen. Man begegnete den Fremden grösstenteils mit Einsicht in ihre Lage, mit verständigem Mitleid und mit einer wohlwollenden Neugierde, welche die Voraussetzungen für bleibende Freundschaften schuf. An den zahlreichen Todesfällen unter den von Verwundungen und Krankheit Gezeichneten nahm die Bevölkerung regen Anteil. Als dann der Abschied kam und die Internierten wieder in ihre Heimat zurückkehrten, gaben Gedichte in Zeitungen, Konzerte und Volksfeste der inzwischen geschlossenen Verbrüderung Ausdruck. Das tönt für unsere Ohren wahrlich wie Zeugnisse aus einer anderen Welt.
In diesem Sinne soll unser Buch über das Asyl für die 87'000 Bourbaki-Soldaten als Anregung gemeint sein. Wir bieten keine abgeschlossene Untersuchung, sondern eine Sammlung von Bildern und Texten, die mit kurzen Einführungen und dem Nötigsten an Quellenverweisen erschlossen sind. Es würde uns freuen, wenn diese Zeugnisse nicht nur Vergangenes beleuchten, sondern auch zur Diskussion herausfordern. Von hier an möchten wir es aber dem Leser überlassen, Gedankenfäden zu spannen zwischen den Ereignissen von 1871 und der Mentalität über hundert Jahre später.

Peter R. Jezler, Elke Jezler, Peter Bosshard Vorwort Seite 8, ISBN 3 7172 0343 6

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