Zyklische Abläufe des politischen Geschehens

Zyklische Abläufe des politischen Geschehens

Ein wenig bekannter und fast nie diskutierter Text

von Jean-Rodolphe von Salis aus dem Jahre 1971 – Teil 2

Die Entstehung, der Aufstieg, die Wachstumskrisen, die Konsolidierung, der Beginn des Niedergangs und die Zerfallskrisen von Grossstaaten unterliegen offenkundig auch einem zyklischen Ablauf. Die orientalischen Grossreiche des Altertums sind aus den kleinen Anfängen der Klans entstanden, mächtig geworden, zerfallen – und verschwunden. Warum? Darauf gibt es keine Antwort, es sei denn, dass nach einer konstanten Regel nichts unverändert bleibt und keine Macht, sie mag noch so gross sein, Dauer hat. Eindrückliche Analogien bestehen zwischen fast allen Sternbahnen des Aufstiegs und Niedergangs von Grossstaaten. Der «wesenhaft kämpferische Charakter politischer Macht» (Gerhard Ritter) führt zu den Zusammenballungen von Völkerschaften und Territorien in Grossstaaten und zu der Konsolidierung der Macht im Staate, dann meistens auch zu einer Ausdehnung dieser Macht über die Staatsgrenzen hinaus. Also zur Beherrschung des Staatsvolkes und Staatsgebietes und zur Beherrschung ursprünglich fremder Gebiete und Völker.
Die Mittel, die dabei angewendet werden, sind ebenfalls vergleichbar. Der Aufbau einer Staatsverwaltung, also von Institutionen, die Stärkung der Zentralgewalt, die durch einen hierarchisch gegliederten Beamtenapparat über das Land oder das Reich herrscht, die Entwicklung von Rechtsinstituten, die Erhebung von Steuern zur Finanzierung des Regierungs- und Verwaltungsapparates, der Aufbau einer Polizei und einer Armee, die unmittelbar im Dienste des oder der Machthaber stehen, die Verwendung der militärischen Macht zur Unterdrückung von Aufständen und zur Eroberung und Beherrschung neuer Territorien, der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung, endlich die allmählich zu schwer werdende Last der Kriege und anderer Staatsaufgaben, die zu einer ­finanziellen Notlage und zu wirtschaftlichen Krisenerscheinungen führen und das Gefüge auszuhöhlen beginnen: das ist in grossen Zügen das zyklisch verlaufende Schicksal jedes Gross- und Machtstaates, ehe er fällt.
Natürlich kann auch ein solches Schema eines zyklischen Ablaufs nur von zahlreichen Einzelfällen abstrahiert werden, von denen jeder sich vom andern durch historisch bedingte Besonderheiten unterscheidet. Einen beispielhaften Wert hat indessen die Geschichte Roms und des Römischen Reiches, das vorbildlich auf alle seither im Umkreis der weissen Menschheit entstandenen Reiche und Grossmächte nachgewirkt hat. Hier tritt uns deutlich die Entstehung eines Grossreiches aus kleinen Anfängen, aus einer Stadtrepublik entgegen. Diese erwirbt zunächst den umliegenden Landstrich, der ihr als Ernährungsgrundlage und als Schutzwall gegen äussere Feinde dient; der städtisch und agrarisch gemischte Charakter dieses Staatswesens hat auf Jahrhunderte hinaus – bis zum industriellen Zeitalter – das Vorbild für die europäische Staatenwelt geliefert: jeder Staat ist ein geschlossenes Wirtschaftsgebiet, das sich selbst genügen muss; die städtische Oberschicht liefert die Verwalter, die Regierenden und die Gebildeten, manche von ihnen sind auch selber Grundbesitzer. Der Ackerbau ist eine Quelle von Reichtum und Autorität. Andere Bürger widmen sich dem Handel und der Schiffahrt, noch andere sind Handwerker, Bauunternehmer, kulturell Schaffende. Der Bauernstand bildet das Rekrutierungsreservoir der Armee.
Die Ausdehnung, die Kriege, der Machtaufstieg haben in Rom zu schweren inneren Krisen geführt, indem die ursprünglich für eine Kleinstadt gedachten republikanischen Institutionen den Anforderungen einer Machtpolitik nicht mehr gewachsen waren. Eine solche erfordert eine starke Zentralgewalt. Die Erschütterungen des politisch-institutionellen Gefüges, die Bürgerkriege, in denen sich die Verteidiger der alten Senats­oligarchie und die Wortführer der Demokratie gegenüberstanden; die Spannung, die aus dem Ungenügen und der Unstabilität der inneren Ordnung einerseits und den militärischen Eroberungen – der Ausdehnung über die Grenzen Italiens – andererseits entstanden ist, führten zum Aufstieg eines Einzelnen, Gaius Julius Cäsar; mit ihm erscheint der Politiker und Heerführer, der Demagog und Eroberer, der im kritischen Augenblick nicht vor dem Staatsstreich zurückschreckt und entschlossen ist, seine persönliche Macht in Rom aufzurichten: hier tritt in klaren Umrissen und in dramatischem Szenenwechsel ein zyklischer Ablauf vor unsere Augen, der für die Erkenntnis typischer politischer Abläufe eminent beispielhaft ist.
Der Cäsarismus ist für den grossen Machtstaat das gleiche (oder ein Entsprechendes), was wir im alten Griechenland und im spätmittelalterlichen Italien als die Tyrannis oder Fürstenherrschaft, die auf die demokratischen Wirren im Stadtstaat zu folgen pflegte, kennengelernt haben. In Rom hat die endgültige Aufrichtung des Prinzipats, das heisst der persönlichen Macht der Nachfolger Cäsars, unter der langen Regierung des Augustus die Phase der Konsolidierung und gleichzeitig den Höhepunkt von Macht, Ordnung, Frieden, Reichtum und Kultur dieses Grossreiches dargestellt – ehe in allmählichem Abstieg, im Wechsel von Aufschwüngen und Abstürzen, mit immer drückenderem Zwang für die Provinzen und ihre Bevölkerungen, Rom seinem Zerfall und Untergang entgegenging. Es ist auch durchaus typisch für analoge Abläufe, dass eine unerträglich werdende Fiskalität, die ein Grossreich zur Aufrechterhaltung seiner Machtstellung seinen Untertanen auferlegen muss, teilweise bedingt durch nie abreissende Verteidigungsvorkehren, Rückzugskämpfe, Siege und Niederlagen, zu wirtschaftlichen Krisen führt und die materielle und seelische Widerstandskraft der Bevölkerung überfordert, ehe ein äusserer Feind die Endkatastrophe herbeiführt.
Das Phänomen des Cäsarismus als Höhepunkt des Machtaufstieges eines Grossstaates oder Reiches darf ebenfalls als typisch im zyklischen Ablauf – in der Mitte zwischen Aufstieg und Zerfall – von solchen politischen Machtgebilden gewertet werden. Natürlich finden wir nun auch hier recht verschiedenartige Varianten dieses konstant wiederkehrenden Phänomens, je nach den historischen, nationalen, geographischen, wirtschaftlichen oder anderen Voraussetzungen. Der Name «Cäsar» ist die etymologische Wurzel des deutschen «Kaiser» und des russischen «Czar», und die Amtsbezeichnung «Imperator» diejenige des englischen «Emperor» und des französischen «Empereur». Karl der Grosse hat bewusst an die römische Reichs­tradition angeknüpft und seine Würde und seinen Titel von der inzwischen in Rom entstandenen, universelle Geltung in Anspruch nehmenden kirchlichen Autorität bestätigen lassen. Aber daneben fristete das «zweite Rom» – Byzanz – ein ebenfalls kaiserliches Dasein als oströmisch-hellenistisch-orientalisches Grossreich. Es ist für den Aufstieg und Verfall dieser Reiche im Westen und im Osten Europas durchaus typisch, dass sie mit einer Kombination von militärischer Stärke, politischen Massnahmen, bürokratischer Zentralgewalt und Steuererhebungen sich zu mehren und zu behaupten trachteten, dabei manch inneren Widerstand und äussere Feinde überwinden mussten und in der Endphase infolge der Aushöhlung von innen und dem Angriff von aussen nach langer Abwehr untergingen.
Nicht weniger typisch ist die Tatsache, dass ihre Nachfolger und Nachbarn, die sich ihrerseits zu den gefährlichen Höhen der Macht erhoben, sich das Machtmodell des Cäsarentums – der zentralisierten Reichsgewalt, in einer religiös geheiligten Person verkörpert – zu eigen machten. Im Osten geschah dies durch den türkischen Eroberer, der den byzantinischen Kaiser in Konstantinopel ersetzte und mit der Autorität des Sultans diejenige des geistlichen Oberhauptes der Moslims vereinigte. Aber auch der Grossfürst in Moskau erhob den Anspruch, Nachfolger der byzantinischen Kaiser zu sein; das Zarentum ist aus einer Verbindung moskowitischer, die tatarische Fremdherrschaft bekämpfender und den Widerstand partikularistischer Autoritäten brechender Staatsmacht mit dem griechisch-orthodoxen Staatskirchentum, das nach dem Fall von Byzanz seinen Mittelpunkt verloren hatte, hervorgegangen. Daher der Anspruch Moskaus, als «drittes Rom» anerkannt zu werden.
Aber auch im Westen gab es eine Kandidatin für die Würde und Stellung eines «dritten Roms», als Paris, das heisst das französische Königtum, den römischen Kaisern deutscher Nation einen unermüdlichen Kampf lieferte. Auch die französischen Könige, die lange und schwere innere Kämpfe mit Feudalherren, Parlamenten (Gerichtshöfen) und Calvinisten ausfechten mussten, waren «Gesalbte des Herrn». Ludwig XIV., der den von seinen Vorgängern ererbten und eroberten Territorien neue Landerwerbungen hinzufügte, hat mit seinem absoluten «Sonnenkönigtum» und dem Widerstand der gallikanischen Kirche gegen den Autoritätsanspruch des römischen Papsttums beinahe cäsaristische Macht im Innern und nach aussen erlangt. Merkwürdig genug, dass dann erst nach dem Sturz des Königtums eine neue Dynastie, in Wirklichkeit ein dank den revolutionären Wirren und seinen Erfolgen auf dem Schlachtfeld emporgekommener General, Napoléon Bonaparte, auch formell und indem er sich von dem aus Rom herbeigerufenen Papst in der Notre-Dame-Kathedrale zum Kaiser krönen liess, Paris zum Mittelpunkt eines modernen Cäsarismus und erobernden Imperiums gemacht hat. Ihm war es endlich beschieden, nach harten und wiederholten Schlägen das längst ausgehöhlte Heilige Römische Reich endgültig zu Tode zu bringen.
In einer späteren Episode ist der wiederhergestellte bonapartistische Cäsarismus, verkörpert in der Person Napoleons III., von der preussischen Militärmacht besiegt und zu Fall gebracht worden, was den Griff des Preussen-Königs nach der deutschen Kaiserkrone unmittelbar zur Folge hatte: immer wieder wurde das Urbild von «Reich» und «Cäsar» in neuen Formen, mit neuen Völkern und neuen Herrschern, gestützt auf die in generationenlanger Aufbauarbeit zustande gekommene Staatsgewalt und Wirtschaftskraft, gesichert durch ihre zentralistische Bürokratie, ihre Polizei und die Schlagkraft ihrer erobernden Armee, zu einer das politische Feld beherrschenden Wirklichkeit. Selbst das auf so andern Grundlagen ruhende englische Königtum hat – kurze Jahre nach der deutschen Kaiserproklamation von 1871 – dank seiner Seeherrschaft und Disraelis Initiative den Weg zum «Imperium» beschritten und den Besitz Indiens zum Anlass genommen, der Königin Viktoria und ihren Nachfolgern den Kaisertitel zu verleihen. Der britische «Cäsarismus» hatte solide konstitutionelle Grundlagen und bereitete der Freiheit der Engländer mitnichten ein Ende; aber vielleicht hat diese Freiheitsliebe dazu beigetragen, dass das britische Empire ein loses Gefüge war. Der neue Ausdruck «Imperialismus» ist in den 1870er Jahren in England entstanden, keineswegs in einem abschätzigen oder tadelnden Sinne, sondern um die Expansion und Grösse der meerbeherrschenden Macht Grossbritanniens als eines Weltreiches zu bezeichnen. Selbst das demokratisch-parlamentarische Frankreich hat nach 1871 wieder von einem «Empire» gesprochen, um das zum grössten Teil von der Dritten Republik erworbene Kolonialreich in Afrika und Südostasien zu bezeichnen.    •

aus: J.R. von Salis. Geschichte und Politik. Betrachtungen zur Geschichte und Politik. Beiträge zur Zeitgeschichte. Zürich 1971. Orell Füssli Verlag. Teil II, Seite 133–138. Die Teile III und IV werden in loser Folge in unserer Zeitung zur Diskussion gestellt.

Genossenschaftlicher statt herrschaftlicher Staatsgedanke

«Die ideelle Kraft, aus der die schweizerische Staatsbildung seit 1291 erwachsen ist, ist der Genossenschaftsgeist. Mit ihren genossenschaftlichen Daseinsgrundlagen stellt sich unsere Schweiz seit dem Beginn ihrer Existenz in schroffsten Gegensatz zu ihren grossen Nachbarstaaten, die sämtliche aus dem Feudalsystem herauswuchsen und in herrschaftlichem Geiste durch militärisch-bürokratische Machtmittel zusammengezimmert wurden.»

Gasser, Adolf. Für Freiheit und Recht. ­1940–1945. Ausgewählte Artikel aus der Basler «Nationalzeitung». Bern, 1948, S. 7f.

«Die Gründungsurkunde unseres Staates spricht aber auch von Menschenfeinden, die ausserhalb eines Rechtsverbandes lauern. Das galt den fremden Herren, den Habsburgern, deren Machtarm oft mit dem Schwert des deutschen Kaisertums ausgestattet war. Dieses habgierige Geschlecht wollte die Markgenossenschaften und Gerichtsgemeinden der werdenden Eidgenossenschaft ihrem Besitztum einverleiben, rechtlich gleichschalten, wie wir heute mit einem Modewort sehr treffend sagen können. Da wurde aber aus wirtschaftlichen Gruppen und Rechtsverbänden der Waldstätte ein Abwehrstaat, der den jahrhundertelangen Kampf mit der Rechtsherrschaft aufnahm und siegreich beendigte.
Es ging dabei machtpolitisch um die Vorherrschaft in Mitteleuropa, ideengeschichtlich aber um die geistige Auseinandersetzung des genossenschaftlichen und des herrschaftlichen Staatsgedankens. Habsburg wollte Herrschaft – die Eidgenossenschaft war Gemeinschaft.»

Georg Thürer. Gemeinschaft im Staats­leben der Schweiz. Grundrisse, Betrachtungen, Mahnworte aus sieben Jahrzehnten. Gesammelt zum 90. Geburtsstag des Autors. Bern 1998, S. 13f. (Hervorhebungen G. Th.)

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