Abschied von Gülsary

Abschied von Gülsary

von Tschingis Aitmatow

Der alte Mann fuhr auf einem alten Wagen. Auch der falbe Passgänger Gülsary war alt, sehr alt.
Der Weg zum Plateau war lang und mühsam. Im Winter wirbelte zwischen den kahlen grauen Hügeln der Schnee zuhauf, und im Sommer lag über ihnen eine Höllenhitze.
Für Tanabai war dieser Aufstieg immer eine Plage. Er mochte das langsame Fahren nicht, konnte es nicht ertragen. In seiner Jugend hatte er oft zum Kreiszentrum kutschieren müssen, und auf dem Rückweg nahm er dann den Berg jedes Mal im Galopp. Mitleidlos liess er das Pferd unter der Peitsche gehen. Fuhr er mit dem Ochsengespann und hatte er Begleiter, sprang er vom Wagen und lief zu Fuss. Wütend stürmte er bergan, wie zu einem Angriff, und machte erst auf dem Plateau halt. Dort sog er die Luft tief in die Lungen und wartete auf das heraufkriechende Gespann. Sein Herz hämmerte und stach in der Brust. Aber so war es besser, als wenn er sich von den Ochsen hätte ziehen lassen.
Der verstorbene Tschoro hatte sich oft über diese Absonderlichkeit seines Freundes lustig gemacht. «Weisst du, Tanabai, warum du kein Glück hast? Wegen deiner Ungeduld. Glaub mir. Nichts kann dir rasch genug gehen. Auf zur Weltrevolution! Ach, was heisst zur Revolution, ein gewöhnlicher Weg, der Aufstieg von Alexandrowka, selbst der geht dir auf die Nerven. Alle fahren ruhig, wie es sich gehört, du aber springst ab und rennst den Berg hinauf, als wären Wölfe hinter dir her. Und was hast du davon? Nichts. Hockst dort oben und wartest auf die andern. Auch in die Weltrevolution wirst du allein nicht springen; du musst warten, bis alle so weit sind.»
Doch das war lange her, sehr lange.
Heute hatte Tanabai überhaupt nicht gemerkt, wie er die Anhöhe hinter sich gebracht hatte. Er war alt geworden und fuhr jetzt weder schnell noch langsam. Er fuhr halt, so gut es ging. Jetzt war er stets allein unterwegs. Von der fröhlichen Schar, die in den Dreissigerjahren mit ihm diesen Weg zog, war kaum einer übriggeblieben. Viele waren gefallen, viele gestorben, die anderen lebten zu Haus ihre Tage zu Ende. Die Jugend fuhr mit Autos. Sie mochte nicht mehr in solch armseligen Karren dahinkriechen.
Die Räder ratterten über den alten Weg. Tanabai hatte noch weit zu fahren. Vor ihm lag die Steppe, und dort, hinter dem Kanal, dehnte sich das Vorgebirge.
Seit langem schon wusste er, dass das Pferd schwächer wurde. Aber er machte sich keine Sorgen darum und hing seinen Gedanken nach. War es denn so ein grosses Unglück, wenn ein Pferd unterwegs ermüdete? Das kam alle Tage vor. Es würde es schon schaffen.
Tanabai konnte nicht wissen, dass der alte Passgänger Gülsary, der diesen Namen seiner hellgelben Mähne verdankte, zum letzten Mal die Anhöhe von Alexandrowka überwand und seine letzten Werst zurücklegte. Das Pferd lief wie betäubt. Vor seinen trüben Augen tanzten bunte Kreise, und die Erde wankte.
Der vor ihm liegende Weg verschwamm in rötlichen Nebelschwaden. Lange schon ging von dem überanstrengten Herzen ein dumpfer, ziehender Schmerz aus, das Atmen im Kummet wurde immer schwerer. Das verrutschte Geschirr schnitt ins Kreuz, und auf der linken Seite stach dauernd etwas Spitzes in die Schulter. Vermutlich war eine Niete durch den Filzbelag des Kummets gebrochen. Auf der alten verhornten Quetschung an der Schulter hatte sich eine kleine Wunde geöffnet, die unerträglich pochte und brannte. Die Hufe wurden immer schwerer, als stapften sie über nassen Ackerboden.
Aber das alte Pferd zottelte trotzdem weiter. Ab und zu zerrte Tanabai am Zügel, trieb das Tier an. Dabei hing er seinen Gedanken nach. Da war so viel, über das er nachzudenken hatte.
Die Räder ratterten über den alten Weg. Immer noch, seit er zum ersten Mal ängstlich zitternd auf eigenen Beinen gestanden hatte, ging Gülsary den gewöhnten Passgang, seit damals, als er auf der Wiese hinter der Mutter, der grossen, langmähnigen Stute, hergelaufen war.
Gülsary war Passgänger von Geblüt, und sein herrlicher Passgang hatte ihm viele gute und bittere Tage eingebracht. Früher wäre es niemandem eingefallen, ihn anzuspannen. Das wäre einer Schändung gleichgekommen. Aber in der Not trinkt ein Pferd auch mit Zaumzeug, wie man so sagt, und in der Not durchwatet ein Mann auch in Stiefeln die Furt.
All das lag weit zurück. Jetzt lief der Passgänger mit letzter Kraft zum letzten Mal dem Ziel entgegen. Noch nie war er ihm so langsam entgegengelaufen. Und doch hatte er sich ihm noch nie so rasch genähert.
Bis zum Ziel war es nur noch ein Schritt.
Die Räder ratterten über den alten Weg.
Das Gefühl, weichen Boden unter den Hufen zu haben, liess in dem erlöschenden Gedächtnis des Pferdes dunkel längst vergangene Sommertage erstehen, nasse Bergwiesen, die wunderbare Märchenwelt, wo die Sonne wiehernd über die Gipfel galoppierte und er, ein dummes Fohlen noch, ihr nachgejagt war über die Wiese, durch den Bach und durch die Büsche, bis der Hengst der Herde ihn mit zornig angelegten Ohren eingeholt und zurückgebracht hatte. Damals, in jenen längst vergangenen Tagen, war ihm die Mutter, die grosse, langmähnige Stute, eine warme Milchwolke gewesen. Er liebte die Augenblicke, wenn die Mutter sich plötzlich in eine zärtlich schnaubende Wolke verwandelte: Ihre Zitzen wurden straff, die Milch schäumte auf den Lippen, und sie floss so reichlich und war so süss, dass er sich vor Gier verschluckte. Er liebte es, den Kopf unter den Bauch seiner grossen, langmähnigen Mutter zu stecken. Was war das doch für eine berauschende Milch gewesen! Die ganze Welt, die Sonne, die Erde, die Mutter lebten in so einem Schluck Milch. Und man konnte immer noch ein bisschen trinken, selbst wenn man schon satt war. […]

[…] Schliesslich war der Passgänger wieder in Tanabais Hände gekommen. Er hatte ihn herausgefüttert und wieder auf die Beine gebracht, noch eine Fahrt nach Alexandrowka gemacht, und nun starb Gülsary auf dem Rückweg.
Er war gefahren, den Sohn und die Schwiegertochter zu besuchen und deren zweites Kind, seinen neuen Enkel, anzusehen. Der Alte hatte den Kindern einen ausgeweideten Hammel, einen Sack Kartoffeln, Brot und allerlei Kuchen mitgebracht, die Dshaidar gebacken hatte. Dshaidar hatte gesagt, sie sei unpässlich und könne nicht mitfahren. In Wirklichkeit mochte sie die Schwiegertochter nicht. Der Sohn war unselbständig und willenlos. Die hartherzige, machtgierige Frau sass zu Hause und kommandierte ihn nach Herzenslust. Sie fand nichts dabei, andere zu kränken und zu schmähen, nur um ihr Machtgelüst auskosten zu können.
Der Sohn hatte befördert werden sollen, aber ein anderer war an seiner Stelle aufgerückt. Da kam Tanabai wie gerufen. Die Schwiegertochter stürzte sich auf den schuldlosen Alten: «Wozu bist du überhaupt in die Partei eingetreten? Dein Leben lang bist du Schäfer und Pferdehirt geblieben! Und am Ende haben sie dich noch rausgeschmissen, und deinem Sohn ist der Aufstieg versperrt. Hundert Jahre wird er auf derselben Stelle sitzen. Ihr lebt in den Bergen, seid alt und braucht nichts mehr. Wir aber müssen hier durch eure Schuld leiden!»
So ging es den ganzen Tag, immer dieselbe Litanei.
Tanabai bereute, gekommen zu sein. Um die Schwiegertochter zu beruhigen, sagte er unsicher: «Wenn es so ist, bitte ich um Wiederaufnahme in die Partei.»
«Ausgerechnet auf dich wartet man! Ohne so einen alten Knacker gehts wohl nicht?», zischte sie.
Wäre es nicht die Schwiegertochter gewesen, Tanabai hätte eine solche Rede nicht geduldet. So aber schwieg er und sagte ihr nicht, dass ihr Mann keineswegs seinetwegen nicht befördert worden war, sondern weil er ein Trottel war und eine Frau hatte, der jeder gute Mensch davonlaufen würde.
Bald fuhr er ab. Er hielt es nicht länger aus.
«Eine Hexe ist sie!», schimpfte er jetzt am Lagerfeuer. «Weder Ehrerbietung noch Achtung, noch Güte hat dieses Weib. Denkt nur an sich. Misst alles nur mit ihrem Mass. Ich bin noch zu was nütze, man wird mich noch brauchen.»
Der Morgen brach an. Die Berge erhoben sich aus dem Dunst. Ringsum erhellte und dehnte sich die Steppe. In den Pelz gehüllt, stand der grauhaarige Alte neben dem glimmenden Lagerfeuer am Rande der Schlucht. Der Passgänger brauchte den Pelz nicht mehr. Er war in die ewigen Weidegründe getrabt. Tanabai blickte auf das tote Pferd, das auf der Seite lag, den Kopf krampfhaft zurückgeworfen, Zaumspuren auf dem Fell. Die lang gestreckten Beine mit den abgenutzten Eisen an den rissigen Hufen ragten starr in die Luft.
Es war Zeit. Tanabai beugte sich über das Pferd, drückte ihm die kalten Lider über die Augen, nahm das Zaumzeug und ging, ohne sich umzusehen.
Durch die Steppe wanderte er in die Berge. Er war alt geworden, seine Tage waren gezählt. Sterben wie ein von seinem schnellflügeligen Schwarm abgekommener Vogel? Im Fluge wollte er sterben. Die Weggenossen sollten Abschied nehmend über ihm kreisen. Sie stammten aus einem Nest und waren eine Bahn gezogen.
Ich werde an Samansur schreiben, beschloss Tanabai. Ich werde ihm schreiben: Erinnerst du dich an den Passgänger Gülsary? Auf ihm trug ich das Parteibuch deines Vaters zum Kreiskomitee. Gestern Nacht auf dem Weg von Alexandrowka starb mein guter Passgänger. Eines Tages falle ich auf dem Wege, wie er. Du musst mir helfen, mein Sohn Samansur. Ich möchte in die Partei zurückkehren. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich möchte der sein, der ich immer war. Dein Vater Tschoro hat mich nicht ohne Grund mit dem Parteibuch zum Kreiskomitee geschickt. Du bist sein Sohn, du kennst mich, den alten Tanabai Bakassow.
Er ging durch die Steppe, den Zaum über der Schulter. Die Tränen rannen ihm die Wangen hinunter in den Bart. Er wischte sie nicht ab. Er weinte um den Passgänger Gülsary. Eine einsame Graugans überquerte in schnellem Flug die Vorberge. Sie suchte ihren Schwarm.
«Flieg nur, flieg!», flüsterte Tanabai. «Hol sie ein, bevor deine Flügel erlahmen.» Dann seufzte er tief. «Leb wohl, Gülsary!»
Er ging, und ihm war, als höre er das alte Lied:
Viele Tage irrt die Kamelstute umher, sucht sie und ruft ihr Füllen. Wo bist du, dunkeläugiges Füllen? Antworte! Die Milch läuft mir aus dem Euter, dem übervollen Euter, und rinnt mir die Beine hinab. Wo bist du? Antworte! Die Milch läuft mir aus dem Euter, dem übervollen Euter. Die weisse Milch.    •

Quelle: Tschingis Aitmatow, Abschied von Gülsary, in: Erzählungen und Novellen II, Zürich 2008, ISBN 978-3-293-00396-5, Seiten 7–9 und Seite 164–167

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