Souveränität, Recht und Demokratie versus Machtpolitik

Souveränität, Recht und Demokratie versus Machtpolitik

von Prof. Dr. iur. und Dr. phil. Alfred de Zayas*

Die Souveränität ist in der Charta der Vereinten Nationen verankert. Wir haben seit 1945 eine neue Weltordnung. Und die Uno-Charta ist die Weltverfassung – allerdings nicht die Verfassung einer Weltregierung. Das will keiner. Aber es ist eine Verfassung, die alle Staaten vertraglich akzeptiert haben. Eine Verfassung, die die Souveränität aller Staaten garantiert, nämlich in Artikel 1 und Artikel 2 (s. Kasten). Artikel 2 ist besonders wichtig, nicht nur, weil hier die Gleichheit aller Staaten unterstrichen wird, sondern auch, weil nicht nur die Gewaltanwendung, sondern auch die Androhung von Gewalt ganz deutlich verboten wird. Das heisst nicht, dass die Staaten sich daran halten, aber juristisch gesehen, völkerrechtlich gesehen sind die Normen klar. Souveränität bedeutet auch Selbstbestimmung der Völker. Selbstbestimmung der Völker ist, was man in juristischer Sprache «ius cogens» nennt bzw. bindendes Völkerrecht. Die afrikanischen Staaten haben dank dieses Prinzips der Selbstbestimmung in den späten 50er und Anfang der 60er Jahre ihre Unabhängigkeit gewonnen. Indien hatte sich schon im Jahr 1947 von Grossbritannien freigemacht.
Es gibt auch sehr viele Völker, die keine Selbstbestimmung haben. Eines der Themen, die ich in meinem neuen Bericht für die Vereinten Nationen behandle, sind die Autochthonen, das heisst Menschen, die seit Generationen und Generationen in einem Gebiet leben, z.B. die Ur-Amerikaner, fälschlicherweise «Indianer» genannt, die Aborigines aus Australien, die Tamilen in Sri Lanka, die Ibos in Biafra, die Kurden in der Türkei, Syrien, Irak und Iran, Kashmiri in Indien, die Molukken in Indonesien, die deutschen Südtiroler in Italien usw. Ob wir über die Autochthonen in Alaska sprechen oder in Hawai oder in West-Papua – sie alle haben ein Recht auf Selbstbestimmung. Das bedeutet nicht immer Unabhängigkeit. Selbstbestimmung kann auch im Rahmen einer Autonomie-Regelung erreicht werden, solange das der Wille des Volkes ist. Das muss natürlich festgestellt werden.
 Völkerrechtlich gesehen sind die Normen klar. Artikel 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte sowie Artikel 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte garantieren dieses Recht (s. Kasten nächste Seite).
Was verstehen wir unter Recht? Wenn wir Recht sagen, sprechen wir von Rechtsstaatlichkeit. Wir sprechen von Rechtssicherheit. Wir sprechen von checks and balances, wie wir in Amerika sagen. Das heisst, dass es eine exekutive, eine legislative und eine juristische Staatsgewalt gibt. Es sind getrennte Gewalten, die sich gegenseitig ausbalancieren. Allerdings muss angemerkt werden, dass die höchste Gewalt in allen Rechtsstaaten die Richter sind. Also nicht die Exekutive, nicht die Legislative, sondern die Richter, die über das Handeln von Präsidenten und über das Handeln von Parlamenten bestimmen können. Das ist ein Merkmal eines Rechtsstaates. [Im Fall der direkten Demokratie der Schweiz liegt die höchste Gewalt beim Volk – die Red.]
Allerdings ist die Rechtsstaatlichkeit in den meisten modernen Staaten sehr angeschlagen. Und aus meiner Erfahrung als Uno-Beamter und als Experte verschiedener Gremien kann ich Ihnen sagen, dass die sogenannten unabhängigen Richter häufig nicht unabhängig sind. Hieraus ergibt sich eine Unterminierung der Rechtsstaatlichkeit. Allerdings ist es besser, wenn man etwas hat, was noch korrigierbar ist, als wenn man eine Situation ohne Normen hat, ohne Gesetze, ohne Richter. So haben wir eine Struktur, die korrigierbar ist, aber auch nur, wenn eine Bürgerschaft da ist, die das verlangt; wenn die Bürger wach sind und wenn sie nicht eingeschüchtert werden.
Die Einschüchterung durch die sogenannte politische Korrektheit ist eine der grössten Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit; sie ist eine der grössten Gefahren für die Demokratie. Denn viele Menschen denken etwas Bestimmtes, sagen aber etwas anderes. Viele Menschen wagen es nicht, sich zu äussern. Sie schweigen lieber, als sich öffentlich zu äussern, weil sie vor den Konsequenzen Angst haben, wenn sie offen sprechen.
Ich zum Beispiel habe als Professor für Völkerrecht, als Uno-Beamter, gelitten wegen meiner Publikationen. Meine Publikationen haben mir in meiner Karriere nicht geholfen. Ganz im Gegenteil. Ich habe mindestens drei Beförderungen in den Vereinten Nationen verpasst wegen meines Buches über die Vertreibung der Deutschen am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg, «Die Nemesis von Potsdam» (Herbig, 14. Auflage 2005). Ausdrücklich wegen dieses Buches, weil ich die Argumente kenne, die in den ausschlaggebenden Gremien diskutiert wurden. Und dieses politisch unerwünschte Buch ist mir vorgeworfen worden. Natürlich will man niemanden haben, der heisse Eisen anpackt. Lieber jemand, der keine Wellen macht, als jemand, der offen spricht.
Rechtstaatlichkeit ist nicht nur Rechts­positivismus. Es geht nicht nur um das, was im Gesetz steht, sondern auch um das, was über dem Gesetz steht. Es gibt das berühmte Buch von Montesquieu, «De l’esprit des lois» (Über den Geist des Gesetzes). Der Geist des Gesetzes ist der Ursprung des Rechts. Und das ist wichtiger als das, was aufs Papier kommt. Denn auf dem Papier gibt es manchmal sehr ungerechte Gesetze. Man muss immer bedenken, dass das Gesetz da ist, um Gerechtigkeit zu schaffen, und nicht, um Ungerechtigkeiten festzulegen und zu zementieren. Das ist eine Diskussion, die die Rechtsphilosophen führen, und es gibt im Grunde genommen keine Lösung, und es bleibt eine gewisse Spannung zwischen dem Begriff Recht und dem Begriff Gerechtigkeit. Ich selbst bin römisch-katholisch und ein Anhänger der Philosophie des Naturrechts und dafür, dass wir mehr Raum für das Naturrecht schaffen.
Mein Problem als Professor für Völkerrecht ist: Ich muss meinen Schülern bzw. meinen Studenten erklären, wie es dazu kommt, dass das Völkerrecht so oft nach Belieben eingesetzt wird. Hier wird es anerkannt, dort aber nicht. Gesetzt den Fall, dass das Volk vom Kosovo die Unabhängigkeit haben sollte: Wenn der Begriff Selbstbestimmung allgemeine Gültigkeit besitzt, warum nicht auch in Biafra? Sie werden sich erinnern: 1967/70 der Völkermord in Biafra. Und Nigeria hat die sehr legitime Bestrebung des Volkes von Biafra, sich von Nigeria zu trennen, mit grausamer Gewalt unterdrückt. Dasselbe gilt für Sri Lanka, sie kennen alle die Problematik um die Tamilen. Sie haben keine Selbstbestimmung und keine Unabhängigkeit bekommen. Sie sind massakriert worden, und die Welt hat zugeschaut.
Ich bin Amerikaner, und ich würde gerne denken, wir sind «die Guten». Ich würde so gerne daran glauben. Als ich Schüler war in Chicago, musste ich jeden Morgen sagen: «I pledge allegiance to the flag of the United States of America, and to the republic for which it stands, one nation under God, indivisible, with liberty and justice for all.» (Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden.) Jeden Morgen, wenn die Flagge gehisst wurde, musste ich das sagen, und natürlich haben gleichzeitig die Trompeten geblasen. Man will an etwas glauben, man hat es nötig, an sich selbst zu glauben. Es ist gut und wichtig, Werte zu haben, aber es ist für mich eine grosse Enttäuschung zu merken, dass sich auch meine Regierung nicht an das Völkerrecht hält. Man braucht nur an Guantánamo, an Abu Graib, an die NSA-Enthüllungen zu denken. Dann fragt man sich: Wo stehen wir? Was bleibt überhaupt von der Ethik? Und ehrlich gesagt, es bleibt nicht viel übrig. Nun, ich sagte Völkerrecht nach Belieben, ich nenne es auch «Völkerrecht à la carte». Das wird heute so angewandt und morgen ganz anders.
Und was ist mit dem Ideal der Demokratie? Die einzige Demokratie, die ich kenne, ist die schweizerische. Sie ist nicht perfekt. Aber sie ist die einzige, in der eine gewisse Korrelation zwischen dem Willen des Volkes und der eigentlichen Politik besteht. Bei uns in Amerika gibt es einen totalen «disconnect» zwischen Senatoren, Kongressabgeordneten und dem Volk.
Eine Demokratie ist mehr als der Pro-Forma-Wahlgang, bei dem Sie für Kandidat A oder für Kandidat B stimmen. Ich muss auch eine Möglichkeit haben, die Entscheidungen dieses Kandidaten zu beeinflussen. Ich will nicht, dass es nur Kandidaten gibt, die dem militärisch-industriellen Komplex verpflichtet sind. Dann habe ich wirklich keine echte Wahl. Man wird vor ein Fait accompli gestellt. Wenn Sie «Through the Looking-Glass» von Lewis Carroll kennen, werden Sie an die sehr ähnlichen Gestalten Tweedledee und Tweedledum denken, und das ist mehr oder weniger, was wir in vielen Demokratien haben, eine Wahl zwischen Tweedledee und Tweedledum. Ist das eine Demokratie?
Ich habe voriges Jahr im November nicht gewählt. Natürlich ist Obama immerhin besser als Romney, aber weil ich so enttäuscht bin von diesem Mann und weil ich meine, dass es gar keine echte Wahl war, habe ich gesagt: «Wozu abstimmen?» Denn so oder so regiert der militärisch-industrielle Komplex oder die Ölindustrie oder Exxon und so weiter. Aber das Volk hat absolut keinen Einfluss.
Ob ich einen republikanischen Kongressmann oder Senator oder einen demokratischen Kongressmann oder Kongressfrau habe: Die sind alle für den militärisch-industriellen Komplex, für die Anwendung von Gewalt, für Big Brother. Eine echte Wahl besteht nicht. Es ist nur eine Scheinwahl, und alle Leute gehen und stimmen ab. Aber ich finde, das ist eher eine Sportveranstaltung. Man geht zur Olympiade, und man sieht sich die beiden Mannschaften an, die sich gegenseitig bekämpfen, und man kann sich überlegen, ob ich für diese Mannschaft sein will oder für die andere. Aber beeinflussen kann ich nichts. Ich kann mich nur virtuell erfreuen, dass meine Partei gewonnen hat. Aber ist es überhaupt meine Partei? Nein, es ist die Partei des militärisch-industriellen Komplexes. Und wie sieht es in Deutschland aus? Was für eine Wahl haben Sie zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück? Und in Frankreich zwischen Sarkozy und Hollande? Ich bitte Sie! Also, schon wieder Pest und Cholera.
Was wirklich wichtig ist, was entscheidend ist in der Demokratie, und das sage ich in allen meinen Berichten, sind die Instrumente der direkten Demokratie, nämlich die Initiative, das Referendum und die Möglichkeit der Amtsenthebung, in den USA sagen wir impeachment. Wenn ein Parlamentarier oder ein Präsident sich total gegen seine Versprechen verhält oder gegen ein bestimmtes Programm, für das er gewählt wurde, um es durchzuführen, und wenn er dieses Programm nicht durchführt, sondern eine ganz andere Agenda und ganz andere Interessen hat, dann sollte das Volk die Möglichkeit haben, diese Person des Amtes zu entheben. Das ist das Wesentliche einer echten Demokratie. Ansonsten haben sie nur eine Scheindemokratie oder, wie ich es in meinem Bericht schreibe, eine Lobby-Demokratie. Lobby-Demokratie, das heisst, die Parlamentarier sind einer bestimmten Lobby gegenüber verpflichtet, und sie werden sagen und tun, was diese Lobby ihnen befiehlt, denn diese Lobby hat für die Kampagne bezahlt. Wenn Sie bedenken, dass eine Präsidentschaftswahl Milliarden kostet. Ich überschätze es nicht: Milliarden! Das ist wirklich eine Sportveranstaltung, und wir sind die Zuschauer. Wir schauen uns das an, was da los ist, aber wir können es nicht beeinflussen. Und unser amerikanischer Wahlkampf 2012 kostete 3,5 Milliarden Dollar!
Ich verlange von einer parlamentarischen Demokratie, dass die Auswahl der Kandidaten vom Volke kommt und nicht von einer Parteimaschine, und dass jeder Kandidat, der tatsächlich gewählt wird, auch wirklich mein Repräsentant ist, dass er mich vertritt. Das ist die Idee der Demokratie, dass ich eine Vertretung habe. Aber heute wird jemand gewählt, und dann tut er, was er will. Und man sagt: »Oh ja, in vier Jahren können wir ihn in die Wüste schicken!» Aber dann kommen zwei genauso grosse Übel. Also, es gibt keine Lösung: Das System der sogenannten repräsentativen Demokratie funktioniert nicht.
Wir haben eine repräsentative Demokratie nur für Routine-Sachen. Aber wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel, wie das Geld für den Haushalt des Landes ausgegeben wird, dann haben wir keinen Einfluss. 50%, 60% des Haushalts werden ausgegeben für den Krieg, um mehr Drohnen zu bauen oder U-Boote oder Flugzeuge oder Cruise Missiles und Gott weiss was. Da geht das Geld hinein. Und hinzu kommt das Geld, das nicht direkt im Haushalt des Pentagon ist, es befindet sich im Haushalt des State Department zum Beispiel. Auch dieser ganze Überwachungsapparat, die Ausgaben für die National Security Agency, wo werden sie gebucht? Wenn Sie das ganze Geld zusammenzählen, das für die sogenannte nationale Sicherheit ausgegeben wird, dann ist es kein Wunder, dass nichts übrig bleibt für Gesundheit oder für Schule und Ausbildung. Dafür ist kein Geld mehr da. Allerdings gibt es Menschen, die Milliardäre geworden sind, weil es in der Waffenindustrie nach wie vor sehr viel Geld zu verdienen gibt.
Wenn wir die Souveränität, das Recht und die Demokratie der Macht gegenüberstellen, dann stellen wir zudem fest, dass die Macht im Grunde genommen nicht mehr beim Staat ist. Die Macht liegt bei der Ökonomie, sie hat die Macht. Die National Security Agency (NSA) hat die Macht, die Geheimdienste, die haben die Macht. Ausserdem natürlich die Finanzinstitutionen. Manche behaupten, dass Goldman Sachs die Welt regiert. Da ist niemand verantwortlich, sie können diese Leute nicht zur Rechenschaft ziehen. Sie sind auch nicht demokratisch gewählt worden. Sie üben eine enorme Macht über Sie und mich aus, und ich kann nichts tun. Das ist leider eine Situation, die nur durch eine sehr aufgeweckte bürgerliche Gesellschaft bekämpft werden kann.
Wir müssen diese Instanzen wie die grossen Finanzgiganten an der Wall Street, wie die Weltbank und die Währungsfonds unter gewisse Kontrollen bringen, etwa unter der Generalversammlung der Vereinten Nationen, und sie sollten auch vor dem Menschenrechtsrat Bericht abgeben. Es kann nicht sein, dass uns eine Gruppe von Finanzmagnaten regiert. Wir haben sie nicht gewählt. Sie üben eine Macht aus, die ihnen nicht zusteht. Die Märkte haben sie nicht entdeckt, die Märkte haben sie nicht erschaffen, die Märkte hat die Gesellschaft erschaffen. Sie sind ein Produkt von Hunderten von Jahren der bürgerlichen Gesellschaft, die das aufgebaut hat.
Diese Leute sind nur die Ausbeuter, die Parasiten, die sich gut organisiert haben und das an sich gerissen haben und das jetzt sozusagen nur für ihr eigenes Wohlergehen, aber nicht für das Wohlergehen der Bevölkerung tun.
Ein anderes Problem, das einhergeht mit dem Konzept der Macht, ist, wie diese Ikonen der Macht uns manipulieren. Wir werden manipuliert durch Angst. Das ist ein sagenhaftes Geschäft mit der Angst. Und Sie wissen, wie unfrei unsere Medien sind. Unsere Medien veröffentlichen, was sie wollen. Was ihnen nicht passt, wird nicht veröffentlicht. Ich weiss nicht, wie viele von Ihnen wissen, dass die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte am 12. Juli eine sehr deutliche Pressemitteilung herausgegeben hat, in der sie unter anderem gesagt hat, dass Edward Snowdon das Recht auf Asyl hat, dass die Staaten aufgefordert sind, dieses Recht zu gewähren, dieses Recht zu respektieren, dieses Recht in die Tat umzusetzen, dass sie gesagt hat, dass er nicht verfolgt werden darf; denn ein Mensch, ein Whistleblower, der die Verletzungen von Menschenrechten aufdeckt, darf deshalb nicht bestraft werden – ganz im Gegenteil, dieser Mann ist kein Vaterlandsverräter, ganz im Gegenteil, er hat der Demokratie einen grossen, grossen Dienst erwiesen. Das, was unsere Regierung gemacht hat und was die Arbeit der NSA bedeutet, ist eine klare Verletzung der amerikanischen Verfassung, es ist verfassungswidrig, was wir machen.
Was die bürgerliche Gesellschaft tun kann, ist demonstrieren, protestieren, verlangen, dass Elemente der direkten Demokratie bei uns eingeführt werden, dass in jenen Staaten, die die direkte Demokratie nicht kennen, die Parlamentarier die notwendigen Gesetze annehmen, so dass auch eine wichtige Gesetzgebung durch ein Referendum entschieden wird, und nicht, dass ein paar Parlamentarier das alleine tun. Glauben Sie, dass die französische Bevölkerung in einem Referendum die gleichgeschlechtliche Ehe akzeptiert hätte? Ich glaube es nicht. Die Idee der Adoption durch gleichgeschlechtliche Eltern – das wäre mit Sicherheit sogar mit 80% abgelehnt worden, wenn das vor das Volk gekommen wäre. Aber weil die Befürworter wissen, dass es abgelehnt wird, wird es durch die Parlamentarier gegen den Willen des Volkes durchgesetzt – und das nennt man dann Demokratie. Das ist wirklich ein klassisches Beispiel einer Korruption von Demokratie. Natürlich kritisiert man das. Aber es passiert nichts.
Ich bin nicht der erste, der diese Problematik anpackt. Dies haben Noam Chomsky, John Pilger, Jeffrey Sachs, Arundhati Roy, David Cromwell, Marc Curtis und viele andere vor mir getan. Sie haben auch die korrekte Diagnose gegeben. Sie haben die korrekte Medizin verschrieben. Aber diejenigen, die die Macht haben, wollen keine Medizin und keine Änderung des Status quo, denn sie verdienen zu viel Geld.
Die Welt ist, wie sie ist, und es liegt an uns, die Welt zu verbessern. Stecken Sie also den Kopf nicht in den Sand. Bestehen Sie auf Ihrer Ethik, auf Ihren Werten. Ziehen Sie die Politiker und die Finanzleute – sei es in Deutschland, sei es in Frankreich, sei es in der Schweiz – zur Rechenschaft, wenn sie etwas Undemokratisches und wenn sie etwas Ungerechtes tun.
Was sind die grössten Verbrechen? Sie können sich viele Verbrechen ausdenken. Aber ich möchte nur eines nennen: das Verbrechen des Schweigens. Warum sind wir in der Situation, in der wir sind? Weil die Menschen schweigen, weil die Menschen sich anpassen, weil die Menschen sich bücken, weil es einen Druck der politischen Korrektheit, einen Druck des Zeitgeistes gibt. Dann drücken sich die Menschen, sie wollen irgendwie nicht deutlich sprechen. Nun, ich kann Ihnen sagen, man kann es wagen, und man muss es wagen. Ich schliesse gerne mit einem Gedanken von Lucius Annaeus Seneca:
«It is not because things are difficult that we do not dare; it is because we do not dare that they are difficult.» (Non quia difficilia sunt non audemus, sed quia non audemus, difficilia sunt. Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.)    •

* Professor Alfred de Zayas ist ein US-amerikanischer Völkerrechtler, Historiker, Sachbuchautor und UN-Beamter. Gegenwärtig lehrt er Völkerrecht an der Geneva School of Diplomacy. Er ist Experte für bürgerliche und politische Rechte und hat zahlreiche Bücher zu rechtlichen und historischen Themen veröffentlicht.

Bei dem vorliegenden Artikel handelt es sich um einen Vortrag anlässlich einer Veranstaltung der Zeitung Zeit-Fragen, den Professor de Zayas als Völkerrechtsprofessor und nicht in seiner UN-Funktion gehalten hat.

 

«Ich muss den Schweizer Bürgern sagen: Sie müssen für den Erhalt der Schweizer direkten Demokratie kämpfen. Das ist nicht nur für Sie, das ist auch ein Modell für die Welt.»

Alfred de Zayas

Charta der Vereinten Nationen (Auszug)

Art. 1
Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:

  1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmassnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen;
  2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Massnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;
  3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen;
  4. ein Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden.

Art. 2
Die Organisation und ihre Mitglieder handeln im Verfolg der in Artikel 1 dargelegten Ziele nach folgenden Grundsätzen:

  1. Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.
  2. Alle Mitglieder erfüllen, um ihnen allen die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und Vorteile zu sichern, nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen.
  3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.
  4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
  5. Alle Mitglieder leisten den Vereinten Nationen jeglichen Beistand bei jeder Massnahme, welche die Organisation im Einklang mit dieser Charta ergreift; sie leisten einem Staat, gegen den die Organisation Vorbeugungs- oder Zwangsmassnahmen ergreift, keinen Beistand.
  6. Die Organisation trägt dafür Sorge, dass Staaten, die nicht Mitglieder der Vereinten Nationen sind, insoweit nach diesen Grundsätzen handeln, als dies zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich ist.
  7. Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden; die Anwendung von Zwangsmassnahmen nach Kapitel VII wird durch diesen Grundsatz nicht berührt.

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Art. 1*

  1. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.
  2. Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.
  3. Die Vertragsstaaten, einschliesslich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, haben entsprechend den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.

*    Wortgleich mit Artikel 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

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