Durchhalten in schwerer Zeit

Durchhalten in schwerer Zeit

Die Schweiz vor 70 Jahren

von Dr. phil. Peter Koller

ts. Kleinstaaten haben in der Geschichte keinen leichten Stand. Sei es, dass sie der Arroganz der Grösseren ausgesetzt, dass sie gar von einem grossen Machtgebilde eingekreist sind oder in den eigenen Reihen von Heimatmüden und/oder einer 5. Kolonne zur Aufgabe der Eigenständigkeit gedrängt werden. Die alten Eidgenossen pflegten diesen Umstand mit dem Begriff «Arglist der Zeit» zu umschreiben. Wie die Artikel zur Armee in dieser Ausgabe von Zeit-Fragen zeigen, muss jede Generation Schweizer wieder einen neuen Effort leisten, auch und gerade dann, wenn ihr eine Zeit des Friedens vergönnt war. Zu schnell geht vergessen, dass die Geschichte nicht immer nur friedlich zu verlaufen pflegt und man sich besser im Frieden für unruhigere Zeiten vorbereitet und rüstet. Wenn schon EU-Grössen das Jahr 2013 mit dem Jahr 1913 vergleichen, mit all seinen Konsequenzen, ist gerade ein Kleinstaat wie die Schweiz gut beraten, geeint in die Zukunft zu schreiten, in der Vergewisserung der eigenen Vergangenheit. Nachfolgender Artikel will dazu einen Beitrag leisten: Wenn die prekäre Lage der Eidgenossenschaft vor und während des Zweiten Weltkrieges dargestellt wird, mit all den drängenden Fragen und Problemen der Landesverteidigung, der Sicherstellung der Landesversorgung, aber auch der Abwehr der NS-Propaganda, muss sich jeder Zeitgenosse die Frage stellen: Wo stehen wir heute? Wie steht es heute um unsere Ernährungssicherheit? Wie um unsere Armee? Wie um unseren Widerstandsgeist? Ein General Guisan? Stünde heute eine Persönlichkeit bereit, diese Aufgabe auszufüllen? Bringen wir als Willensnation den Willen auf, unser Kleinod rundum zu schützen und zu bewahren? Der Blick in die Geschichte mag wankelmütig gewordene oder durch Propaganda unsicher gemachte Eidgenossen wieder aufrichten: Das Schweizer Modell der direkten Demokratie, des Föderalismus und der immerwährenden bewaffneten Neutralität ist und bleibt das Friedensmodell, welches bis heute unübertroffen ist, mit Ausstrahlung nicht nur gegen innen, sondern auch gegen aussen, als Hoffnung für die Menschen anderswo, dass ein Zusammenleben unter souveränen Nationalstaaten, unter Achtung der Menschenwürde und in Frieden möglich wäre – wenn man sich denn nur wirklich dafür einsetzt.

«Von uns wird keiner wallfahrten gehen!»

Angesichts der bedrohlichen Zeichen in Richtung auf einen sich ankündigenden neuen Weltkrieg nahm der Schweizer Bundesrat Ende des Jahres 1938 seine staatspolitische Aufgabe wahr. Bundesrat Philipp Etter formulierte mit seiner Botschaft an die eidgenössischen Räte vom 9.11.1938 die «Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung»1. Diese Botschaft ist später von Historikern als «Magna Charta der geistigen Landesverteidigung der Schweiz» bezeichnet worden. In seiner Botschaft erteilt Bundesrat Etter «dem Rassismus, dem völkischen Nationalismus, der staatlichen Kulturpropaganda und dem Führerstaat eine Absage» und stellt ihnen die Grundwerte der Schweiz gegenüber: die Zugehörigkeit zu drei europäischen Kulturräumen, die kulturelle Vielfalt, der bündnishafte Charakter der Demokratie und die Ehrfurcht vor der Würde und Freiheit des Menschen. Dabei wurde die Verteidigung dieser geistigen Werte primär als Aufgabe des Bürgers, nicht des Staates, deklariert. Etters Botschaft endete mit den Sätzen:
«Der schweizerische Gedanke ist nicht ein Produkt der Rasse, das heisst des Fleisches, sondern das Werk des Geistes. Es ist eine bewundernswerte Tatsache, dass am Gotthard, dem Berg, der trennt, und dem Pass, der vereint, eine grosse Idee, eine europäische, universelle Idee entstand und politische Wirklichkeit wurde: die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und der abendländischen Kulturen.»2
An der Landesausstellung 1939 in Zürich fand die von Goebbels Propaganda scharf bekämpfte schweizerische Landesverteidigung als sogenannter «Landigeist» ihren wirkungsvollen Ausdruck. Sie stiess im Volk auf grosse Zustimmung. Bundesrat Obrecht, der in den 30er Jahren zusammen mit Bundesrat Minger die Schweizer Armee zu einer wirkungsvollen Truppe ausgestaltet hatte, brachte diesen ganz natürlichen und bei der Schweizer Bevölkerung fest verankerten Widerstandswillen gegen die Arroganz der Macht auf die einfache, fadengerade Formel: «Von uns wird keiner wallfahrten gehen».3
Der Widerstandswille der Schweizer manifestierte sich in eindrücklicher Form an dieser Landesausstellung von 1939. Wer die Dokumente dazu, insbesondere den zweibändigen Dokumentationsband, heute wieder durchliest, stösst allenthalben auf Zeugnisse des Stolzes auf die Willensnation Schweiz und das, was sie erreicht hat, ihrer Weltoffenheit und ihres Willens, sich in ihrer direktdemokratischen Eigenart zu behaupten. Der «Landigeist» war der Geist, aus dem heraus all die vielen Opfer und Entbehrungen, welche die Aktivdienstgeneration auf sich genommen hat, erst möglich wurden. Die Nachkriegs- und Wohlstandsgeneration verdankt ihr alles, unter anderem ihre Möglichkeit, ohne eigene Anstrengung von den Früchten der Entbehrungen ihrer Eltern- und Gross­elterngeneration zu profitieren. Vor dem Mut der Aktivdienstgeneration, ihrer Disziplin, ihrer Bereitschaft, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen, und wenn es sein musste das eigene Leben, hat sich die Nachkriegsschweiz zu verneigen.

Der Rütli-Rapport: Die schweizerische Antwort auf Anpassungsdruck

Die Schweiz sah sich im zweiten Kriegsjahr, nach dem unerwartet schnellen Zusammenbruch Frankreichs, vollständig vom nationalsozialistischen bzw. faschistischen Totalitarismus umzingelt. Damit wurde nicht nur die militärische Lage, sondern auch die wirtschaftliche verzweifelt.
Die der Schweiz würdige Antwort auf ihre Bedrängungen kam nun aber nicht etwa von der politischen Seite, sondern der militärischen. Am 25. Juli 1940 rief General Guisan sämtliche höheren Truppenkommandanten zu einem Rapport auf das historische Gelände des Rütli am Vierwaldstättersee zusammen, dem Ort, wo die Drei Alten Orte 1291 den Bundesbrief beschlossen hatten.
Der 25. Juli 1940 markierte das Ende der Umgruppierung der Armee, die mit der Rücknahme eines Teils der Heereseinheiten ins so genannte «Réduit» verbunden war. Dies schien General Guisan der richtige Zeitpunkt zu sein, um das Offizierskorps und die Schweizer Bevölkerung zum bedingungslosen Widerstand zu verpflichten. Nach dem Transport per Raddampfer von Luzern aufs Rütli stellten sich die Kommandanten der Heereseinheiten und Truppenkörper im Halbkreis auf. Der General umriss die schwierige politische und militärische Situation des Landes nach der Einschliessung durch die Achsenmächte, begründete den Bezug des Réduit national und rief Volk und Armee zum unbedingten Widerstand auf. Auf der Rückfahrt wurde ein Befehl verteilt, in dem die Truppe aufgefordert wurde, ihr Ohr nicht jenen zu leihen, die defätistische Nachrichten verbreiteten. Vielmehr sollte sie an die eigene Kraft zum erfolgreichen Widerstand glauben. Der Rütli-Rapport erschien in den Schweizer Zeitungen und stiess bei der Bevölkerung und der Truppe auf einhelligen Zuspruch, ja auf Begeisterung. Es war das erlösende Wort, das die Lähmung überwand.

Der Anbauplan Wahlen – Zusammenrücken und Widerstand

Aber nicht nur in der Armee, auch in weiten Teilen der Bevölkerung wollten die Schweizer dem nationalsozialistischen Ungeist etwas entgegensetzen. Da hielt am 15. November 1940, im Zunftsaal zur Schmieden in Zürich vor der Gesellschaft schweizerischer Landwirte, ein eidgenössischer Beamter, der damals noch wenig bekannt war, einen Vortrag von schicksalhafter Tragweite. Es war Friedrich Traugott Wahlen, der «Vater des Anbauplans», wie er später genannt wurde, nachmaliger Ständerat und langjähriger Bundesrat. Damals war er ins Kriegsernährungsamt berufen worden und dort beauftragt, die Bedingungen auszuarbeiten, unter denen die Schweiz auch unter Kriegsverhältnissen ihre Nahrungssouveränität beibehalten könnte. Wahlen machte sich geduldig und mit grosser Ernsthaftigkeit an diese gigantische Arbeit. Seine Ergebnisse zeigten ihm: Ein Überleben war möglich, aber nur durch grösste Anstrengungen, von denen die hauptsächliche dahin ging, die Anbauflächen für Nahrungsmittel in der ganzen Schweiz drastisch zu erhöhen. Der Plan Wahlen war in seinen Grundzügen geboren. Im Spätherbst 1940 war Wahlen soweit, dass der Plan realisationsreif war. Mit seinem Vortrag wählte er bewusst den Weg über die Öffentlichkeit. Er wollte, dass der Plan «zündete» und auch bei den Zögerern sich die Bereitschaft einstellte, das gemeinsame Werk zu wagen. Seine mutige Rechnung ging auf. Der Plan schlug ein wie eine Bombe.
Sowohl die Bundesräte Obrecht als auch Minger, die in den 30er Jahren die Schweizer Armee zielgerichtet ausgebaut und verstärkt hatten, waren sich klar darüber: Die Schweiz würde nur dann die Aussicht haben, einen künftigen Krieg zu überstehen, wenn nicht nur eine gut gerüstete und ausgebildete Armee bereitstand, sondern auch Nahrungsmittel in ausreichender Menge für Bevölkerung und Armee. Der damalige Chef der Abteilung für Landwirtschaft im Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement, Dr. Josef Käppeli, der auch das Kriegsernährungsamt betreute, hatte schon 1938 Dr. F. T. Wahlen zum Leiter der Sektion für landwirtschaftliche Produktion und Hauswirtschaft im Eidgenössischen Kriegsernährungsamt berufen. Wahlen, der an der ETH Agronomie studiert hatte und sich aktiv an landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten, unter anderem in Süd­amerika, beteiligt hatte, war damals schon seit einigen Jahren Direktor der Landwirtschaftlichen Versuchsanstalt Oerlikon. Diesen Posten behielt er auch nach seiner Berufung bei. Von Beginn an widmete sich Wahlen der grossen Aufgabe. Zunächst ging es für ihn und seine Mitarbeiter darum, sich ein genaues Bild der aktuellen landwirtschaftlichen Produktionsleistung der Schweiz zu machen. Es wurde in jahrelanger Arbeit ein minutiös angelegter Kataster erstellt, der für jede der damals an die 3000 Gemeinden Auskunft gab über den bestehenden Anbauertrag, über Bodenbeschaffenheit und Landreserven. Diese Angaben wurden mit Wahlens Mitarbeitern in jeder Gemeinde vor Ort überprüft und auf den Plänen und Katastern aufgezeichnet. Dann wurde der Bedarf unter Beibezug der aktuellsten Zahlen und Statistiken errechnet, wobei den Umständen der Kriegswirklichkeit entsprechend der persönliche Konsum auf das für die Erhaltung der Gesundheit notwendige Minimum beschränkt wurde. Es zeigte sich, dass dazu die zur Verfügung stehende Anbaufläche nicht ausreichte, sie musste drastisch vergrössert werden, wenn die gewichtigen Importe wegen Kriegsblockaden und Grenzschliessungen unterblieben.
Eines war Wahlen von allem Anfang an klar: Der Anbauplan konnte nur mit gröss­ter Anspannung und Willenskraft der ganzen Bevölkerung realisiert werden. Es würde für die Schweiz über Sein oder Nichtsein entscheiden, ob sie dieser Bewährung auch auf diesem Felde gewachsen war. Von daher war Wahlen einverstanden, dass man seinen Plan zuweilen auch mit einer Anlehnung an die Militärsprache «Anbauschlacht» nannte, obwohl er selbst mehrheitlich von «Anbauwerk» sprach: Wie in einer Schlacht ging es auch hier tatsächlich um Bestehen oder Untergang. In seinem rückblickenden Vortrag vom 8. Februar 1946 in Zürich, als es um die Würdigung der Gesamtleistung dieses epochalen Werkes ging, sagte Wahlen: «Ein noch so guter Generalstab erreicht nichts ohne eine schlagkräftige Armee. Und so lassen Sie mich nun das Lob dieser Armee singen, die schlussendlich den Sieg errang: das Lob unserer Bäuerinnen und Bauern und ihrer Helfer zu Stadt und Land.»

«Rücksichtslose Einschränkung nicht lebenswichtiger Tätigkeitsbereiche»

Es zeugt von Wahlens politischem und psychologischem Gespür, dass er für die Vorstellung des nun im Detail entwickelten schweizerischen Anbauplanes die Öffentlichkeit wählte und auch bei der Festlegung des Zeitpunktes, Mitte November 1940, Geschick zeigte. In seinem Vortrag, der als eine Art Initialzündung des Anbauplans angesehen wird, stellte Wahlen die folgenden Forderungen auf:
–    Äusserst sparsame, umfassende Bewirtschaftung aller Vorräte mit dem Ziel ihrer möglichst langen Erstreckung.
–    Äusserste Ausnützung der Rohstoffquellen des Landes, inbegriffen Abfall- und Altstoffverwertung.
–    Straff organisierter Einsatz aller vorhandenen materiellen Produktionsmittel.
–    Straff organisierter Einsatz der menschlichen Arbeitskraft vorab auf dem Gebiet der Lebensmittelproduktion, «unter rücksichtloser Einschränkung nicht lebenswichtiger Tätigkeitsgebiete».
Im zweiten Punkt ging es vor allem um den landwirtschaftlich gezielten Mehranbau. Bei einer Rationierung von 250 Gramm Brot pro Kopf der Bevölkerung und der Streckung des Mehles mit 10% Kartoffelmehl wurde eine Verdoppelung der Brotgetreidefläche nötig, diejenige für Kartoffelanbau musste um 63 000 ha vergrössert werden. Die in 7 Etappen erfolgende Umwandlung von Weideland in Ackerland war für einige Kantone und Gebiete dramatisch. So steigerte der Kanton Obwalden sein Anbaugebiet von seinen 55 ha Ackerland zu Anfang der Kriegsjahre auf 959  ha im Jahre 1945, Nidwalden erreichte in der gleichen Zeitspanne eine Verfünfzigfachung der Ackerbaufläche, während die beiden Appenzell, die 1934 noch 23  ha Ackerland aufwiesen, gegen Ende der Kriegsjahre 1620  ha erreichten.4 Bei den Gebieten mit flacheren Nutzflächen war die Steigerung noch dramatischer. So steigerte beispielsweise der Kanton St. Gallen seine 2051 ha Vorkriegs-Ackerbaufäche auf 14 529 ha. Wahlen sagt zu solchen ausserordentlichen Leistungen: «Ohne die durch den landwirtschaftlichen Produktionskataster geschaffene Atmosphäre des Vertrauens wären solche der bisherigen Entwicklung zuwiderlaufende Differenzierungen nie möglich gewesen.» Nach Wahlens eigenen Angaben und Berechnungen lieferte sein Anbauplan der Schweizer Bevölkerung während der entbehrungsreichen Kriegsjahre pro Kopf 700 Kalorien pro Tag mehr. Mit der in diesen Jahren ohne Anbauplan auf 2000 Kalorien pro Kopf sinkenden Kalorienmenge verteidigte das Anbauwerk Wahlen «wirksam die Grenze zwischen knapper Ernährung und Hunger».
Der nach dem Anbauplan drastisch zu steigernde Gemüseanbau war wegen seiner Arbeitsintensität mit einem entsprechenden Anwachsen der zu investierenden Arbeit verbunden. Deshalb stellte sich schon zu Beginn die knifflige Frage, der Landwirtschaft mit ihren damals an die 200 000 Einzelbetrieben genügend tüchtige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Sie benötigte nach den Berechnungen Wahlens zusätzlich 30 000–40 000 Arbeitskräfte, währenddem ihr die Mobilisation der Armee doppelt so viele entzog.
Obwohl Wahlen in seinem Initial-Vortrag vom November 1940 den Bauern ein Mehr an Entbehrung und Leistung vor Augen hielt, war das Echo überwiegend positiv. Hermann Wahlen beschreibt dies in folgenden Worten: «Es war ein Vortrag, der im richtigen Augenblick gehalten wurde. Durch das ganze Schweizervolk, namentlich auch durch die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung, ging ein Aufatmen. Es herrschte lauter Begeisterung. Mit einem Schlag war Wahlen der bekannteste Eidgenosse.»5

Durststrecken und Probleme

Der Anbauplan stiess in der Bevölkerung auf grosse Zustimmung. Viele kamen der Aufforderung6 nach, ihren Bedarf an Gemüse nach Möglichkeit durch Selbstversorgung zu decken. In manchem Garten wurde so ein ursprüngliches Blumenbeet zum Kartoffelacker umgewandelt. Auch die Bauern wurden nach anfänglicher Skepsis für das grosse Werk gewonnen. Sie sahen, dass die Lasten entsprechend ihren Kräften und gleichmässig verteilt wurden. Auch das Problem, zusätzliche Arbeitskräfte für den intensiveren Gemüseanbau zu gewinnen, wurde angegangen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hatten die Unternehmungen einen Anteil ihrer Beschäftigten für Hilfe in der landwirtschaftlichen Produktion zur Verfügung zu stellen, auch das ein grosses Opfer, da ein genereller Arbeitskräftemangel herrschte. Das Lehrpersonal in den landwirtschaftlichen Schulen wurde hinsichtlich des Einsatzes der Maschinen, der Dünger und anderer intensivierender Methoden permanent weitergebildet und zu den Bauern selbst gesandt, um sie damit vertraut zu machen. Die Bevölkerung akzeptierte die Einschränkungen im Konsum mittels der Lebensmittelmarken, da sie alle betrafen und sich nicht, wie dies im Ersten Weltkrieg noch der Fall gewesen war, die wirtschaftlich besser Gestellten Vorteile verschaffen konnten. Allerdings beklagte Wahlen selbst während der ganzen Periode der Realisierung der Etappen des Anbauplanes immer wieder vereinzelte Missbräuche auf dem Lebensmittelschwarzmarkt oder durch nicht autorisierte Lieferungen «unter der Hand». Er bezeichnete dieses Verhalten als eine Form von «Landesverrat».
Auch von anderer Seite erwuchsen Probleme. Trotz grosser Anstrengungen herrschte in der Landwirtschaft während der ganzen Zeit Arbeitskräftemangel. Er war nicht einmal so sehr herbeigeführt durch zu wenig Hände, obwohl die Einberufung der Männer in den Aktivdienst hier natürlich permanent Probleme schuf. Das Hauptproblem war, dass der nun zur Höchstleistung aufgeforderten Landwirtschaft nicht genügend qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Auch hier fehlten eben die Männer, nicht nur wegen ihrer körperlichen Kräfte, sondern wegen des für jeden Hof wieder anders liegenden langjährigen Know-hows. Verschärft wurde das Problem dadurch, dass die Wirtschaft, insbesondere die in den ersten Kriegsjahren unerwartet aktive Bauwirtschaft, eine gewisse Zeit lang merklich höhere Löhne bezahlte als ein Landwirtschaftsbetrieb. Dies führte in den ersten Kriegsjahren zu einer beträchtlichen Abwanderung ungelernter Arbeitskräfte von der Landregion in die Industriezentren.7 Auch ging es geraume Zeit, bis eine gewisse Flexibilität in den Einsatz- und Ablösungsplänen der Armee die grössten durch Abwesenheit der Betriebsleiter hervorgerufene Härten auf den Höfen milderte. Milderung schaffte auch die Verpflichtung Arbeitsdienspflichtiger zu Arbeitseinsätzen in der Landwirtschaft, die Verwendung von Internierten für Strassenbau und Waldrodungen8 sowie der ab 1942 obligatorische Landdienst der Lehrlinge. Das Problem, dass diesen Arbeitskräften oft die Qualifizierung für effizientes Arbeiten in der Landwirtschaft fehlte, blieb aber bis Kriegsende bestehen.

1943 bis Kriegsende: Durchhalten!

Trotz der Anspannung aller Kräfte konnten die einzelnen Etappenziele nicht überall ganz erreicht werden. Witterungseinflüsse, knappe Dünger und Pflanzenschutzmittel, langsameres Wachstum sowie der Mangel an geschulten Arbeitskräften führten dazu, dass die Anbauziele für manche Kantone nicht eingehalten werden konnten. Andere hinwiederum, wo die Faktoren günstiger waren, übertrafen die vorgegebenen Pflichtmengen, was aber die negative Gesamtbilanz nicht kompensierte. Mit zunehmender Länge des Krieges kam es auch zu Ermüdungserscheinungen. Insbesondere den Frauen, den Jugendlichen und älteren Arbeitskräften auf dem Lande waren jahrelang übermenschliche Anstrengungen zugemutet worden. Noch war keine Entspannung in Sicht. In den Jahren 1942 und zu Beginn des Jahres 1943, als trotz Stalingrad auch militärisch noch wenig Hoffnung bestand, die Achse würde auf dem Kontinent und im Pazifik in absehbarer Zeit entscheidend geschlagen, war deshalb die Devise: «Durchhalten». Das galt auch für den Anbauplan.
Gerade in dieser Zeit bewährte sich einmal mehr die schweizerische Tugend der Konkordanz. Schon 1940, als alle Zeichen auf Sturm standen, hatte der Gotthard-Bund, eine private Vereinigung aus standfesten Schweizern, dazu aufgerufen, die Differenzen aus Berufsstand und Parteienzugehörigkeit im Interesse des Ganzen aufzugeben und sich überall zugunsten von geforderten Taten die Hand zu reichen. Dieser Appell, dem sich auch unabhängige Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gewerkschaften, wie z. B. Konrad Ilg, der langjährige Vorsitzende der Metall- und Uhrenarbeitergewerkschaft und nachmalige erste sozialdemokratische Bundesrat, anschlossen, war nicht ungehört verhallt. In einigen Kantonen waren während der Kriegszeit Kommissionen geschaffen worden, in welchen Repräsentanten der Behörden, von Wirtschaft und Gewerbe sich mit den Vertretern der Arbeiterschaft regelmässig trafen, um zu gemeinsamen Beschlüssen hinsichtlich des Überlebens von Volk und Land zu gelangen.9 In den genannten Jahren war es vor allem die wirtschaftliche Frage, welche grosse Differenzen aufwarf und damit ein beachtliches internes Konfliktpotential schuf.

«Das Verlangen nach einem die Gesamtheit der kriegswirtschaftlichen Massnahmen umfassenden Durchhalteplan, das immer wieder auftaucht, ist ein weiteres Zeugnis für das vorhandene Bewusstsein vieler Bürger, sich als Individuum in ein planvolles Ganzes einzuordnen und einem gemeinsamen Ziel mit voraus wenigstens in grossen Etappen vorgezeichneter Marschrichtung zuzustreben. Es darf nicht überraschen, dass dieses Bedürfnis gerade beim Schweizer vorhanden ist. Von jeher wünschte sein kritischer, in generationenlanger demokratischer Schulung gereifter Geist Auskunft über das Warum und Wie behördlicher Massnahmen. Sicher wäre es falsch, im Ruf nach planvoll geordneter Kriegswirtschaft eine Konzession in Richtung der Kollektivisierung und Vermassung zu sehen.»

Wahlen, Friedrich Traugott: Unser Boden heute und morgen. Etappen und Ziele des schweizerischen Anbauwerks, Zürich (Atlantis) 1943, Vorwort, S. 11, (Hervorh. d. Verf.)

 

Gotthard-Bund

Am 20. Juni 1940 wurde in Bern der «Gotthard-Bund» gegründet. Es handelte sich um eine namhafte geistige Widerstandsbewegung, die als überparteiliches Organ für den ungezähmten schweizerischen Wehrwillen, später für die Unterstützung des Plans Wahlen und die Umwandlung der Erwerbsersatzordnung für Soldaten in eine eigentliche gesamtschweizerische Volksversicherung, die spätere AHV, eintrat. Zu den Gründern gehörten Persönlichkeiten unterschiedlichster Orientierung. Ihr gemeinsames Programm war das bedingungslose Eintreten für die Schweiz: Gonzague de Reynold, Denis de Rougemont, Walther Allgöwer, Gottlieb Duttweiler (Gründer der Migros-Genossenschaft), Robert Eibel, Christian Gasser, aber auch Gewerkschafter wie Charles Ducommun (Schweiz. Gewerkschaftsbund) und René Leyvraz (Bund der christlichen Gewerkschaften), dann auch der «Vater» des schweizerischen Anbauplanes, der spätere Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen. Der entscheidende Impuls war von Zürcher Universitätsprofessor Theo Spoerri ausgegangen.

«Auf militärischem Gebiet wurde diese Frage [d. i. die Frage des Durchhaltens, d. Verf.] im Sinne eines ‹hochgemuten Pessimismus› durch die Idee des ‹Réduit national› beantwortet. Das soziale Durchhaltevermögen wurde entscheidend gestärkt durch die Lohn- und Verdienstausgleichskassen, deren Schaffung als grosse Tat der Solidarität in die Geschichte eingehen wird. Auf wirtschaftlichem Gebiet war die Beschaffung des täglichen Brotes die Hauptfrage.»
Wahlen, Friedrich Traugott: Unser Boden heute und morgen. Etappen und Ziele des schweizerischen Anbauwerks, Zürich
(Atlantis) 1943, Vorwort, S. 8)

«Es wird einer späteren Geschichtsschreibung vorbehalten sein, die Wandlungen zu untersuchen, die unser Volk in seiner geistigen Haltung während der so wechselvollen Jahre 1939–1942 durchmachte. Wie ein Geschenk des Himmels mutet uns heute im Rückblick die Gelegenheit zu nationaler Einkehr und Stärkung an, die uns die unvergessliche Landesausstellung 1939 bot. Manches, das bei Ausbruch der Katastrophe im September 1939 hätte gesagt und empfunden werden müssen, zu einer Zeit, wo der Drang der Ereignisse dazu kaum Zeit liess, war vorausgesagt und vorausempfunden, war zum unverlierbaren Gut der Millionen geworden, die den Höhenweg nicht nur gesehen, sondern erlebt hatten. Der Ausbruch des Krieges fand unser Volk in seiner selten vorher erreichten Geschlossenheit des Wollens, unsere geistige, ­politische und wirtschaftliche Unversehrtheit zu wahren und zu verteidigen.»

Wahlen, Friedrich Traugott: Unser Boden heute und morgen. Etappen und Ziele des schweizerischen Anbauwerks, Zürich (Atlantis) 1943, Vorwort, S. 7,
Hervorhebungen des Verf.)

«Das Anbauwerk verteidigte wirksam die Grenze zwischen knapper Ernährung und Hunger.»

Gedanken und Überlegungen zum Abschluss des Anbauwerkes, Vortrag von F. T. Wahlen, gehalten vor der Gesellschaft Schweizerischer Landwirte am 8. Februar 1946 in Zürich, S. 11)

«Man hört in letzter Zeit etwa die Meinung, es sei leichtfertig, wenn nicht verbrecherisch, den Gedanken an einen neuen Krieg überhaupt auszusprechen, und man mag es mir zum Vorwurf machen, das neue Produktionsprogramm auch mit diesem Hinweis zu begründen. Wollte Gott, diese Leute hätten recht! Leider hat aber die bisherige Entwicklung der Menschheit den Beweis nicht geleistet, dass das sich von Waffengang zu Waffengang steigernde Grauen des kriegerischen Geschehens eine präventive Wirkung ausübe. Die Welt war nicht nie so voll von Zeichen übelster Vorbedeutung.»

Gedanken und Überlegungen zum Abschluss des Anbauwerkes, Vortrag von F. T. Wahlen, gehalten vor der Gesellschaft Schweizerischer Landwirte am 8. Februar 1946 in Zürich, S. 15

Die Bauernschaft verlangte bessere, letztlich existenzsichernde Preise für die so dringend benötigten landwirtschaftlichen Produkte. Industrie und Gewerbe wollten daraus ableitbare Forderungen nach Lohnerhöhungen im Hinblick auf die angespannte Lage der Wirtschaft in den Kriegsjahren unter keinen Umständen gewähren. Und die Vertreter der Arbeiterschaft konnten die Augen vor der in grossen Teilen der Arbeiterschaft herrschenden Not und ihrem permanenten Ruf nach Lohnerhöhungen nicht verschliessen. Trotz vieler Massnahmen zur Linderung der Not war die Lage in vielen Schweizer Familien damals verzweifelt. Sie mochten zwar über genügend Lebensmittelmarken verfügen, hatten aber ganz einfach kein Geld, sie einzulösen. Denn trotz aller Massnahmen bewegte sich die Preisspirale, vor allem hinsichtlich der Lebensmittelpreise, kontinuierlich nach oben.
Im Mai 1943 war die Lage reif für eine Einigung, die mit den folgenden Grundsätzen und Beschlüssen des Bundesrates erfolgte:
1. Die bäuerlichen Preise werden auf dem (relativ hohen) Niveau vom Frühjahr 1943 stabilisiert. Es werden keine weiteren Preis­erhöhungen zugestanden.
2. Dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund wird die Forderung nach Lohnerhöhungen verweigert.
3. Der Schweizer Bauernschaft werden Garantien für die schweizerische Nachkriegs-Wirtschaftspolitik gegeben.
Damit war ein weiteres Mal eine gefährliche interne Krisensituation abgewendet. Es muss festgehalten werden, dass die Gewerkschaften einen grossen Beitrag dazu geleistet haben, indem sie auf jede Eskalation oder scharfmacherische Töne verzichteten. Objektive Historiker sind der Meinung, dass es vor allem die schweizerische Arbeiterschaft war, welche diese Krise durch ihr Stillhalten und das Akzeptieren des Preisstoppes abwendete, obwohl sie rein wirtschaftlich gesehen dabei die Hauptlast trug. Während nämlich die Preise für landwirtschaftliche Güter auf einem relativ hohen Niveau eingefroren wurden, waren die Löhne auf einem Tiefstand.10

Einmal mehr wirksam: Erneuerung aus der Krise

Zusammenfassend ergibt sich für die Situation der Schweiz vor siebzig Jahren folgendes Bild: Wie so oft in der Schweizer Geschichte, führte auch hier die Bedrohung und Gefährdung der eigenen Existenz zu einem Sich-Konzentrieren auf die eigenen Kräfte. Die Tatsache, dass die Schweiz von totalitären, höchst aggressiven Mächten eingeschlossen war, führte nur kurze Zeit zur Resignation. Dann schaffte die Besinnung auf die Potentiale des Widerstands eine Situation, in der die äusserste Anspannung der Kräfte aller zur beherrschenden Devise wurde, nicht der Parteien, nicht der Regierung, sondern der Bevölkerung selbst.
Die Notwendigkeit, sich gegen Aggression von aussen und Zersetzungsversuche von innen zu wehren, machte den Blick frei für ungewöhnliche, kühne Lösungen. Die Idee der Konzentration des militärischen Widerstands auf das Réduit und das Anbauwerk Wahlen waren solche kühnen, ungewöhnlichen Lösungen. Der militärische Widerstandswille der Schweizer Armee und der wirtschaftliche Widerstandswille der Bevölkerung, sich durch strenge Einteilung der vorhandenen Vorräte und der Mehrgewinnung durch die Anstrengung zusätzlichen Anbaus die Bedingungen zum Überleben zu geben, waren die beiden Säulen, welche das Überleben von Staat und Bevölkerung trotz immenser Bedrohung möglich machten. Mehr als das: Aus der gemeinsamen Anstrengung erwuchsen neue Kräfte, welche auch im Innern ausgleichend und stabilisierend wirkten.
Einmal mehr bewährte sich auch in dieser Krise der Wille zum Konsens und die Bereitschaft, bei der Verteidigung eigener Interessen das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Zwar artikulierten die verschiedenen Schichten der damaligen schweizerischen Gesellschaft – in erster Linie die Bauernverbände, die Unternehmerschaft und die Gewerkschaften – ihre eigenen Interessen und Prinzipien, aber sie boten unter dem Druck der Verhältnisse Hand zu einvernehmlichen Lösungen. Damit ermöglichten sie nicht nur ihr eigenes Überleben und das von Volk und Land, sondern gaben auch Spuren vor, die weit in die ersten Nachkriegsjahre verfolgt wurden.
Die den Bauern gewährten verbesserten Wirtschaftsbedingungen durch garantierte Preise und Importrestriktionen in den ersten Nachkriegsjahren wurden für die schweizerische Wirtschaftspolitik für lange Jahre wegweisend.
An dieser Ausrichtung der Wirtschaft auf den Erhalt einer gesunden und leistungsfähigen Bauernschaft haben erst die Annäherungen an die später geschaffene EU und die mit ihr ausgehandelten Bilateralen Verträge Grundsätzliches geändert. Sie erfolgten nach der gleichen Agenda, mittels derer auch die Schlagkraft der Schweizer Armee gezielt geschwächt wurde, um sie der Nato anzunähern. Mit den bekannten Folgen: dass die schweizerische Bauernschaft heute so weit ausgedünnt worden ist wie die schweizerische Armee. Und mit dem Effekt, dass beide, so wie sie sich heute präsentieren, das Überleben des Landes in einer erneuten internationalen Bedrohungssituation bei weitem nicht mehr sichern könnten.    •

1    Schweiz. Bundesblatt, Nr. 90, Bd. 2, 1938,
S. 985–1053
2     zit. nach Gasser, Christian: Der Gotthardbund, Bern und Stuttgart 1984, S. 13
3    Wahlen, Hermann, Bundesrat F. T. Wahlen, Bern 1975, S. 37
4    Die Zahlen und Zitate entstammen dem Vortrag von F. T. Wahlen vom 8.2.1946 in Zürich, Druck o. O. und o. J.
5    Wahlen, Hermann: Bundesrat F. T. Wahlen, S. 46
6    Ab 1941 war Selbstversorgung nach Massgabe vorhandener Anbaufläche für jeden Haushalt Pflicht. Auch die Gemeinden mussten zusätzliche Anbauflächen bereitstellen.
7    vgl. Maurer, Peter: Anbauschlacht. Landwirtschaftpolitik, Plan Wahlen, Anbauwerk
1937–1945, Zürich 1985, S. 117 ff.
8    In diesem Zusammenhang waren insbesondere die damals 12 000 polnischen Internierten von Interesse. Mancher heute noch bestehende «Polenweg» trägt seinen Namen in Erinnerung an die Arbeiten, die von polnischen Internierten durchgeführt wurden.
9     Ein gutes Beispiel dafür war die «Politische Arbeitsgemeinschaft des Kantons Bern», welche grosses Geschick im Ausgleich zwischen den Interessen der bäuerlichen Produzenten, des Gewerbes und der Gewerkschaften bewies.
10    Vgl. Maurer, Peter, a. a. O., S. 145 ff.

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