Fragile Kontexte

Fragile Kontexte

Indem sie schweigen, schreien sie

von Botschafter Martin Dahinden, Direktor der Deza

Unbarmherzig weht der Wind durch das kleine Dorf im Hindukusch. Der Talboden ist zugedeckt mit Geröll, das Hochwasser hat die wenigen fruchtbaren Flächen zerstört. Obwohl noch «Schneemaden» in den schattigen Winkeln liegen, gehen die Leute in ihren ärmlichen Ledersandalen. Ich bin im Swat-Tal. Vor wenigen Jahren hat die pakistanische Armee in diesem Tal Haus um Haus von den Taliban freigekämpft. Auch heute ist die Gegend noch unsicher.
Ciudad Bolívar, eine Vorstadt der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. In Hütten und improvisierten Behausungen leben Menschen, die der Konflikt zwischen Guerilla, Paramilitärs und Armee über viele Etappen hierher vertrieben hat. Die meisten von ihnen sind Ureinwohner und waren Kleinbauern. In der Stadt wird der Wunsch nach Brot und Auskommen nur für wenige in Erfüllung gehen. Bevor die Dunkelheit einbricht, verlasse ich die unwirtliche Gegend. In der Nacht werden bewaffnete Banden die Kontrolle übernehmen. Auch ­Polizei und Militär werden sich dann nicht mehr an diesen Ort wagen.
Es riecht nach schwerer tropischer Feuchtigkeit. Menschen hasten mit Motorrädern und Handkarren über kaputte Strassen an eingestürzten Häusern vorbei. Die Erde hat gebebt. Schon beim Anflug auf Port-au-Prince waren die abgeholzten Wälder sichtbar – als riesige Wunden in einer geschundenen Landschaft. Am Strassenrand sehe ich lange Menschenschlangen. Uno-Blauhelme verteilen Lebensmittel und Wasser. Plötzlich kommt mir ein Zitat von Cicero in den Sinn: Indem sie schweigen, schreien sie.
So oder ähnlich sehen fragile Kontexte aus. Wer dort lebt, hat wenig Freiheit. Weder leben sie frei von Furcht, noch frei von Mangel. Die Armut konnte in fragilen Gebieten kaum zurückgedrängt werden, obwohl weltweit grosse Fortschritte in der Armutsbekämpfung erzielt worden sind. Die staatlichen Grundaufgaben werden kaum wahrgenommen, und es fehlt meistens an den wichtigsten Dienstleistungen wie Schulen oder medizinischer Versorgung.
Die Schweiz wird sich in den nächsten Jahren stärker in fragilen Kontexten engagieren. Nicht nur mit humanitärer Hilfe, sondern auch mit Programmen, die auf langfristige Verbesserungen der Lebensgrundlagen abzielen. So haben es Bundesrat und Parlament in der Strategie der Internationalen Zusammenarbeit 2013–2016 beschlossen. Die Anstrengungen werden nicht dorthin gelenkt, wo die raschesten Erfolge möglich sind, sondern dorthin, wo die menschliche Not am grössten ist.
Die Deza hat einen guten Leistungsausweis, gerade in fragilen Kontexten. Das war auch einer der Gründe für das verstärkte Engagement. Allerdings wird es nicht darum gehen, fragile Gegenden mit Projekten zu übersäen. Es geht darum, die lokalen Anstrengungen zu stützen. Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe. Dabei spielt die enge Zusammenarbeit mit anderen Geberländern und internationalen Organisationen gerade unter diesen schwierigen Verhältnissen eine immer wichtigere Rolle. Auch auf diesem Weg ist die Deza bereits ein grosses Stück gegangen.
Wer in fragilen Kontexten arbeitet, wird auch Rückschläge und Miss­erfolge erleiden; wir werden Lehren ziehen müssen. Lehren, die uns weiter bringen – und mit ihnen die Leute im Swat-Tal, in Ciudad Bolívar oder in Port-au-Prince.     •

Die Jahreskonferenz der Entwicklungszusammenarbeit findet dieses Jahr am 27. September im Palazzo dei Congressi in Lugano statt und widmet sich dem Thema «Eine fragile Welt – Perspektiven junger Menschen». Nähere Informationen unter
<link http: www.deza.admin.ch jako_eza>www.deza.admin.ch/jako_eza 

Quelle: Eine Welt Nr. 3, September 2013

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