Die Aufgaben der Medien in der liberalen Demokratie

Die Aufgaben der Medien in der liberalen Demokratie

Rede von Bundespräsident Ueli Maurer anlässlich des Schweizer Medienkongresses vom 13. September 2013 in Interlaken

Wenn irgendwo der Wurm drin ist, dann reicht es nicht, wenn man sich mit dem Wurm beschäftigt. Besser schaut man sich dann das Ganze an; den ganzen Apfel beispielsweise, ob er vielleicht faul ist; oder den ganzen Baum, ob seine Wurzeln noch in Ordnung sind.
Aus diesem Grund hole ich heute etwas weiter aus. Denn ich bin der Meinung, in unserer Medienlandschaft, da ist der Wurm drin  …

Suche nach Garantien für die Freiheit

Ich beginne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das ist die Entstehungszeit unserer freiheitlichen Ordnung. In den Kantonen entstehen nach der Restaurationszeit neue, liberale Kantonsverfassungen. Und schliesslich erhält auch der Bund 1848 eine Verfassung, die zum Ziel hat, den Bürgern möglichst viel Freiheit zu garantieren.
Die 1820er und 1830er Jahre sind staatspolitisch sehr fruchtbar. Sie sind geprägt von engagierten Diskussionen: Wie garantieren wir den Bürgern auf lange Dauer Freiheit? Wie stellen wir sicher, dass nicht mit der Zeit die Obrigkeit und der Staat doch wieder zu mächtig werden? Wie verhindern wir, dass früher oder später nicht wieder eine kleine Elite über die grosse Mehrheit bestimmt?
Damals entstehen viele der Ideen, die für uns heute selbstverständlich sind: die verfassungsmässigen Freiheitsrechte der Bürger zum Beispiel. Oder ein neues Strafrecht, das Strafen ohne gesetzliche Grundlage verbietet. Oder die Anfänge der Transparenz in der Verwaltung, Justiz und Staatsführung. Bei all diesen Errungenschaften geht es darum, die Freiheit so abzusichern, dass sie nie wieder verlorengehen kann.
Alle diese staatsrechtlichen Garantien für die Freiheit sind wichtig. Aber sie reichen nicht aus. Den Gründern der liberalen Schweiz ist damals klar: Freiheit ist auf Dauer nur möglich, wenn es eine politisch aufmerksame und kritische Öffentlichkeit gibt.
Und somit bekommen die Zeitungen und Zeitschriften ihre entscheidende Rolle für Freiheit und Demokratie. Zuvor waren sie seit der Erfindung des Buchdruckes mehr oder weniger strikter Zensur unterworfen gewesen. Jetzt sollten sie ein ganz wesentliches Element im neuen liberalen Staat sein. Die Presse erhält gewissermassen das Schutzmandat für die Freiheit.

Drei staatspolitische Aufgaben der Medien

Einer der damals grossen Namen des Schweizer Liberalismus, Ludwig Snell, veröffentlicht 1830 einen Aufsatz mit dem Titel «Über die prohibitive Wirksamkeit der Presse». Darin fasst er ihre staatspolitische Funktion in drei Punkten zusammen: Erstens sei sie bildend, zweitens sei sie prohibitiv und drittens sei sie konstitutiv. Er erklärt dann, was er unter den Schlagworten versteht. Auch wenn wir heute andere Begriffe wählen würden, ist seine Analyse zeitlos:
Mit bildend meint er, dass in der Presse neue Ideen aufgenommen, diskutiert und verbreitet werden. Wir können auch sagen, sie ist das Schaufenster, in dem sich alle möglichen Ideen präsentieren können. Oder vielleicht noch besser der Marktplatz der Ideen, auf dem sich die besten durchsetzen. Für eine Demokratie ist es ganz entscheidend, dass der freie Wettbewerb der Ideen, Meinungen und Vorschläge spielen kann.
Mit prohibitiv meint er, dass die Presse Missstände aufdeckt und bekämpft. Heute würden wir von Recherchier-Journalismus oder von investigativem Journalismus sprechen. Der wesentliche Antrieb ist hier ein gesundes Misstrauen gegenüber der Macht. Den Liberalen von damals war klar, dass der Staat immer eine potentielle Bedrohung für die Freiheit ist. Sie hatten das ja im Ancien Régime noch selbst erlebt. Es ist also eine ganz wichtige Aufgabe der Presse, dass sie den Staat permanent durchleuchtet und Fehler anprangert.
Snell schreibt weiter, dass die Presse konstitutiv sei. Damit meint er, dass die Medien die Verbindung zwischen Bürger und Staat herstellen, in dem sie die Sorgen und die Bedürfnisse der Bevölkerung zum Thema machen. Somit sind Verwaltung und Politik auf dem laufenden, was das Volk beschäftigt.

Wer kontrolliert die Kontrolleure?

Der liberale Staat und die freie Presse gehören zusammen. Auf ihnen beruht die Ordnung, welche der Schweiz so viel Lebensqualität und Wohlstand gebracht hat.
Aber gerade weil es so lange so gut gegangen ist, wurde etwas übersehen. Und erst heute fällt uns auf, dass die liberalen Denker damals möglicherweise ein Risiko unterschätzt haben.
Denn eine Frage blieb offen – es ist die Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure? Oder anders gefragt: Was geschieht, wenn die Medien ihre Rolle nicht mehr richtig wahrnehmen? Vielleicht weil sie einfach nachlässig arbeiten. Vielleicht aber auch, weil sie selbst Politik machen wollen.
Genau diese Frage ist heute aktuell. Gehen wir nochmal rasch Snells Punkte durch:
Erstens: Medien sollen der Marktplatz für Meinungen und Ideen sein. Aber anstatt verschiedene Meinungen zu vertreten, schreiben Sie alle mehr oder weniger dasselbe in verschiedenen Schattierungen. Ich kann diese oder jene Zeitung lesen, das spielt gar keine Rolle, der Meinungstenor ist überall gleich. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Medien plötzlich selbst die Rolle des Zensors einnehmen!
Zweitens: Medien müssen Missstände aufdecken. Dazu gehört auch, dass Sie die Staatstätigkeit hinterfragen. Leider ist das viel zu selten der Fall. Vielleicht auch, weil man eine zu grosse Nähe zu den Verantwortlichen spürt, persönlich oder politisch. Aber eigentlich müssten Sie überall so kritisch sein wie bei der Armee …
Drittens: Die Medien wirken kaum mehr konstitutiv, wie sich damals die liberalen Staatsgründer ausgedrückt haben. Sie nehmen nicht die Themen des Volkes auf; die Medien nehmen die Themen der Medien auf. Verwaltung und Politik wird nicht mitgeteilt, was das Volk denkt und will, sondern was die Medien denken und wollen …
Das Fazit: Die Medien leisten heute nicht mehr, was für einen funktionierenden freiheitlichen und demokratischen Staat nötig wäre. Und damit wird es wirklich ernst: Denn so bröckelt der zentrale Pfeiler unserer Ordnung.

Das Meinungskartell und seine Thesen

Sie unterscheiden sich inhaltlich kaum in ihren Produkten. Vielfalt fehlt. Es herrscht weitgehend ein mediales Meinungskartell. Einerseits durch eine wirtschaftliche Konzentration, andererseits aber auch durch eine thematische und eine ideologische. Es gibt in der Schweizer Medienlandschaft so etwas wie eine selbstverfügte Gleichschaltung.
Es ist ja jeweils von Titelvielfalt die Rede. Diese sei wichtig und gefährdet. Darum brauche es Förderungsmassnahmen. Da widerspreche ich. Ideenvielfalt wäre wichtig, Meinungsvielfalt wäre wichtig. Titelvielfalt ist solange reine Maskerade, als wir unter verschiedenen Titeln das Gleiche zu lesen bekommen.
Sie fühlen sich vom staatlichen Fernsehen konkurrenziert, weil dieses im Online-Bereich ähnliche Informationsangebote aufschaltet wie Sie. Selbstverständlich bin ich der Erste, der auf der Seite der privaten Unternehmen ist. Aber so muss ich leider resigniert feststellen: Für die Meinungsvielfalt macht es auch keinen grossen Unterschied mehr, ob uns staatliche oder staatsnahe Medien mit Einheitskost abspeisen …
Denn Sie sehen sich dieselben Themen mit derselben Brille an; Sie haben Ihre Thesen, nach denen Sie die Welt beurteilen. Und diese Thesen stellen Sie kaum je in Frage. Man könnte sie auch das Glaubensbekenntnis der Schweizer Medien nennen. Ich nenne Ihnen einige Ihrer Glaubenssätze:
•    Der Klimawandel ist dem Menschen anzulasten.
•    Atomenergie ist böse, Alternativenergien sind gut.
•    Einwanderung ist eine Bereicherung, auch dann noch, wenn in einem kleinen Land die Nettozuwanderung um die 80  000 Personen pro Jahr beträgt.
•    Internationale Lösungen sind immer besser als nationale.
•    Die Schweiz ist immer im Unrecht, die Vorwürfe an unser Land können noch so absurd und durchsichtig sein.
•    Der Staat ist verantwortungsvoller als der Bürger.
Dass diese Ansichten vertreten werden, ist kein Problem. Wenn aber nur noch diese Ansichten vertreten werden, leidet die öffentliche Meinungsbildung. Sie stecken allzu enge Felder für die Diskussion ab. Über ganz wesentliche Grundsätze und Weichenstellungen für die Zukunft wird dann nicht mehr kontrovers diskutiert.
Für politisch korrekte Tabuzonen ziehen Sie rote Linien, die nicht mehr übertreten werden. Von Ihnen nicht, weil Sie die Recherchen in gewissen Bereichen unterlassen. Und auch von andern nicht, weil jeder seinen guten Ruf ruiniert, der gegen die geballte Meinung der Medien antritt. Damit hat sich ihre ursprüngliche Rolle ins Gegenteil gewendet: Anstatt gute Diskussionen zu fördern, werden gute Diskussionen verhindert.

Das Meinungskartell als wirtschaftlicher Bumerang

Letztlich werden auch Sie zum Opfer Ihrer eigenen Gleichförmigkeit. Die Presse erlebt finanziell nicht gerade rosige Zeiten. Mindestens zu einem Teil haben Sie sich das selbst zuzuschreiben.
Es geht einem Meinungskartell so, wie es andern Kartellen auch ergeht: Zuerst ist es bequem. Dann wird man träge, weil der Ansporn für Verbesserungen und Veränderungen fehlt. Alle ruhen auf ihren Lorbeeren aus. Das ist der Anfang der Probleme.
Es fehlt der Anreiz, anders und besser und interessanter zu sein. Darunter leidet die Qualität. Weil Sie sich nur in Nuancen unterscheiden, können Sie sich mit oberflächlicher Arbeit begnügen. Das Seichte reicht, Sie müssen gar nicht in die Tiefe gehen, weil die andern auch nur an der Oberfläche bleiben. Auf die Dauer aber führt das sicher nicht dazu, Leser anzusprechen und für ein Produkt zu begeistern.
Überhaupt habe ich manchmal den Eindruck, sie beschäftigen sich vor allem mit sich selbst und denken zu wenig an Ihre Leserschaft. Für Steuersenkungen zum Beispiel machen Sie sich leider nur dann stark, wenn Sie selbst von reduzierten Mehrwertsteuersätzen profitieren wollen – setzen Sie sich doch mal grundsätzlich für Steuererleichterungen für alle ein! Damit würden Sie eine staatspolitisch wertvolle Diskussion lancieren!
Mit der Zeit leidet auch der Berufsstand: Wo alle im selben Chor singen, fehlen die originellen Stimmen. Ich vermisse Köpfe und Denker, vor allem auch spannende Querköpfe und Querdenker im Journalismus. Das ist nicht erstaunlich, denn wer gerne ausserhalb der bekannten Denkschemen schreiben möchte, kann sich in einer eintönigen ­Medienlandschaft kaum entfalten.
Wahrscheinlich ist es auch dieser allzu grossen Harmonie zuzuschreiben, dass Ihnen die Angebote neuer Medien zusetzen. Einigen von Ihnen ist genau das passiert, was Sie andern gerne vorhalten: Sie haben den Anschluss an moderne Entwicklungen verpasst.
Jetzt reagieren Sie so, wie die meisten Branchen bei Gegenwind reagieren: Sie wenden sich an den Staat und verlangen Unterstützung. Unter dem Strich wird sich aber dadurch die Problematik nur noch verschärfen. Denn mit Subventionen wird niemand motiviert, innovativer zu werden und neue Wege zu wagen.

Aufruf an die Verleger: Mehr Verantwortung! Mehr Vielfalt!

 

Kehren wir zurück zum ursprünglichen Thema: Zur Freiheit der Bürger und wie diese auch über längere Zeit geschützt werden kann. Man hat den liberalen, demokratischen Staat auf Sie gebaut, auf die freien Medien.
In Goethes «Faust» stellt einer die Frage: «Ich möchte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält!» Für die Welt ist die Frage bis heute unbeantwortet. Für eine demokratische und freiheitliche Gesellschaft kennen wir aber die Antwort. Es sind vielfältige, auf alle Seiten hin kritische Medien, welche sie zusammenhalten. Aber Sie sehen: Wir sind heute weit von der staatspolitischen Rolle entfernt, die Sie eigentlich wahrnehmen müssten. Wir haben faktische Einheitsmedien. Bunt aufgemacht, aber inhaltlich fahl, farblos, eintönig.
Das macht mir Sorgen: Nur vielfältige Medien machen eine Demokratie möglich. Denn ohne Sie hören wir nicht von neuen, guten Ideen und Lösungen, ohne Sie hören wir nicht von Missständen, die dringend behoben werden müssen, und ohne Sie hört die Politik nichts von den Anliegen der Bürgerinnen und Bürger.
Was ist zu tun? Ich habe vorhin die Frage in den Raum gestellt: Wer kontrolliert die Kontrolleure? Was heisst das nun bezogen auf die Medien? Die Antwort ist im liberalen Staat einfach: Natürlich niemand ausser Sie selbst! Damit liegt aber auch die ganze staatspolitische Verantwortung bei Ihnen, den Verlegern. Es ist Ihre Aufgabe, mit einem gesunden Wettbewerb für wirkliche Vielfalt zu sorgen. Suchen Sie nicht weiter Staatsnähe und staatliche Presseförderung. Verzichten Sie statt dessen auf das Meinungskartell und nehmen Sie damit Ihre wichtige staatspolitische Rolle wieder wahr!    •

Quelle: www.vbs.admin.ch/internet/vbs/de/home/documentation/reden/liste/detailspeech.50232.nsb.print.html vom 13.9.2013

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