Souveränität, Recht und Macht

Souveränität, Recht und Macht

Kein Staat ist mehr wert als ein anderer. Kein Land soll ein anderes beherrschen. Kein Volk soll ein anderes unterdrücken.

Ansprache von Ueli Maurer, Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft, beim Neujahrsempfang für das Diplomatische Corps am 9. Januar 2013 in Bern

Herr Nuntius,
Doyen des Diplomatischen Corps
Herr Bundesrat
Frau Nationalratspräsidentin
Herr Ständeratspräsident
Exzellenzen


Meine Damen und Herren

Ich möchte mich für die guten Wünsche an die Adresse unseres Landes und unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger im Namen des Bundesrats herzlich bedanken. Auch die an den Bundesrat und an meine Person gerichteten Neujahrswünsche haben mich sehr berührt. Es ist mir eine Ehre und Freude zugleich, Ihnen und den Staaten, die Sie hier vertreten, die besten Wünsche des Bundesrats und der Schweizer Bevölkerung zu überbringen.

Recht und Macht in der Schweiz

Ich habe über die Neujahrstage das Bundesbriefmuseum in Schwyz besucht. Dort wird unser Bundesbrief von 1291 aufbewahrt. Das ist die Urkunde, die den ersten Bund verbrieft, aus dem sich dann über die Jahrhunderte die Schweizerische Eidgenossenschaft entwickelt hat.
Der geschichtliche Hintergrund ist spannend: Unser Land wurde als Friedensordnung zwischen den Talschaften der Innerschweiz gegründet. Friedensordnung ist tatsächlich das Wort, das in diesem alten Vertrag (auf lateinisch) verwendet wird. Die Talschaften anerkennen sich als gleichwertig. Ihre Abmachung regelt, wie Konflikte zwischen ihnen ohne Streit gelöst werden sollen. Man verzichtet darauf, sich gegenseitig dominieren zu wollen.
Das ist historisch bedeutungsvoll: Es gilt damit also nicht mehr einfach das Recht des Stärkeren; es ist nicht mehr so, dass sich der Mächtige einfach durchsetzt. Die Vertragspartner sind gleichberechtigte Parteien. Sie begegnen sich auf Augenhöhe. Und ganz entscheidend: Sie ersetzen Macht durch Recht.

Recht und Macht in Europa

Wie Sie alle wissen, werden internationale Beziehungen durch diese zwei Faktoren bestimmt: Durch Macht und durch Recht.
Als Vertreter eines Kleinstaates beschäftigt mich dieses Spannungsverhältnis ganz besonders. Ich möchte darum näher darauf eingehen:
Ich richte hierzu den Blick auf Europa und seine Vergangenheit. Ganz einfach darum, weil ich Europas Geschichte und seine politischen Verhältnisse am besten kenne. Ich bin sicher, die Geschichte jedes anderen Kontinents hält ähnliche Lehren
bereit.
Europa hat eine grossartige und reiche Vergangenheit. Aber auch eine blutige und leidvolle. Eine besonders blutige und leidvolle Epoche war jene des Dreissigjährigen Krieges. Sie brachte Elend – aber auch eine Errungenschaft. Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 kam ein neues Prinzip in die internationale Politik: Die Souveränität der Staaten und das Recht als Grundlage zwischenstaatlicher Verhältnisse.
Jahrelang wurde damals in Münster, Osnabrück und Nürnberg verhandelt, um eine Friedensordnung zu finden. Das Resultat hat eine Parallele zum Bundesbrief. Man anerkennt sich als gleichwertig und ersetzt im Umgang miteinander die Macht durch Recht.
Der Westfälische Friede wird darum als der historische Beginn einer europäischen Friedensordnung gleichberechtigter Staaten verstanden. Er steht am Anfang einer Entwicklung, die schliesslich zum modernen souveränen Nationalstaat und zum modernen Völkerrecht führte.
Aus dem Westfälischen Frieden entwickelte sich das sogenannte Westfälische System: Die Staaten sind souverän und untereinander gleichberechtigt.
Das hat Europa nicht den ewigen Frieden gebracht. Aber es hat unserem Kontinent doch entscheidende politische Stabilität verliehen. Und damit zu anhaltendem Fortschritt und wirtschaftlichem Aufschwung geführt.

Recht und Macht in der Welt

Global gesehen hat sich dieser Prozess nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Ende des Kolonialismus wiederholt.
Es war 1918, als der damalige amerikanische Präsident Woodrow Wilson das Selbstbestimmungsrecht der Völker gefordert hat. Später wurde er mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Und nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die Prinzipien von staatlicher Souveränität und Recht Eingang in die Charta der Vereinten Nationen.
So setzen sich die Vereinten Nationen gemäss Artikel 1 Ziffer 2 unter anderem zum Ziel, «freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Massnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen».
Und in Artikel 2 Ziffer 1 der Charta heisst es: «Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.»
Also kurz gesagt: Kein Staat ist mehr wert als ein anderer. Kein Land soll ein anderes beherrschen. Kein Volk soll ein anderes unterdrücken. Eben: Die Staaten sind souverän und gleichberechtigt. Ihre Beziehungen beruhen auf Recht, nicht auf Macht.

Recht und Macht heute

Allerdings bin ich durchaus in Sorge, dass diese Erkenntnisse in Vergessenheit geraten könnten:
Die Schuldenkrise und eine weltweite Rezession verschärfen die Interessengegensätze. Das lässt die Versuchung wachsen, dass der Grössere den Kleineren nicht länger als ebenbürtigen Partner akzeptiert: Warum soll ein grosser Staat mit einem kleineren Staat lange und kompliziert verhandeln, wenn er ihm doch einfach seine Forderungen diktieren kann? Wenn es doch einfacher ist, die eigene Rechtsordnung auch ausserhalb der Landesgrenzen für gültig zu erklären?
Ich stelle diese Tendenz zur internationalen Machtpolitik in letzter Zeit wieder vermehrt fest. Und das beunruhigt mich.
Denn ich glaube daran, dass die verschiedenen Länder ihre unterschiedlichen Herausforderungen auf verschiedene Art und Weise lösen sollen; so, wie es ihnen entspricht. Ich glaube an den friedlichen Wettbewerb der Volkswirtschaften. Ich glaube an die Vielfalt dieser Welt; an die friedliche Vielfalt souveräner Staaten, die einander als gleichwertige, faire Partner begegnen.
Souveräne Staaten, die ihre Verhältnisse untereinander vertraglich regeln, das ist das Rezept für wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand weltweit. Weil jedes Land sich so organisieren und positionieren kann, wie es seinen Besonderheiten entspricht.
So können alle voneinander profitieren. Auch die Grösseren von den Kleineren. Die Schweizer Wirtschaft zum Beispiel hat gegen 900 Milliarden Franken im Ausland investiert. Damit schaffen Schweizer ­Unternehmen weltweit unter anderem mehr als 2,6 Millionen Arbeitsplätze, nicht mitgerechnet jene mehr als eine Viertelmillion Grenzgänger, die bei uns ihr Geld verdienen.
Auch hat es Tradition, dass sich die Schweiz für die Verständigung zwischen Staaten einsetzt. Als neutrales, unabhängiges Land sind wir dafür prädestiniert. Wir sind ein Kleinstaat und gehören keinem Machtblock an; wir geraten darum nicht in Verdacht, eine eigene machtpolitische Agenda zu verfolgen.
Die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konventionen von 1949 sowie der Zusatzprotokolle von 1977 und 2005. Denn das humanitäre Engagement ist Teil unserer Geschichte: Vor 150 Jahren, 1863, wurde in Genf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das IKRK, gegründet. Bereits 1864 unterzeichneten zwölf Staaten die erste Genfer Konvention. Seither lindern Schweizer Helfer Leid in den Krisen und Kriegen überall auf der Erde.
Es freut uns, wenn wir unseren neutralen Boden für Gespräche zur Verfügung stellen können. Wir sind stolz darauf, dass Genf Sitz von zahlreichen wichtigen internationalen Organisationen ist. Und wir setzen auch weiterhin alles daran, um mit unseren Guten Diensten einen Beitrag zum Frieden auf dieser Welt zu leisten.
Dieses unparteiische Engagement beruht auf unserer Überzeugung, dass die Länder verschieden sind, dass sie verschieden sein dürfen und verschieden sein sollen.

Fazit

Staatliche Souveränität und ein Umgang zwischen Staaten, der auf Recht und nicht auf Macht beruht – das sind die Lehren aus der Geschichte. Hinter diesen Prinzipien steht die Erfahrung grosser Tragödien. Aber auch die Erfahrung, dass es allen zugutekommt, wenn sich alle entfalten können – auch die kleinen Staaten.
Ich bin überzeugt, dass Sie sich mit Ihrer ganzen Kraft und Überzeugung für eine friedliche und prosperierende Welt einsetzen. Für eine Welt, in der die Völker und Staaten einander mit Respekt begegnen und als souveräne Partner auf Augenhöhe miteinander verkehren. Für eine Welt, in der Souveränität und Recht vor Machtpolitik kommen.
Ich entbiete Ihnen, verehrte Anwesende, im Namen des Bundesrats für Ihre wichtigen Aufgaben die besten Wünsche.    •

Quelle: Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport

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