Zur Volksinitiative «Für eine Wirtschaft zum Nutzen aller»

Zur Volksinitiative «Für eine Wirtschaft zum Nutzen aller»

von Hermann Dür, lic. oec. HSG, Müllereiunternehmer in Burgdorf, Präsident Mühlengenossenschaft Kanton Bern, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Vereinigung für Industrie und Landwirtschaft

Ich bin als Ökonom und Unternehmer gebeten worden, meine Gedanken zu dieser Initiative zu äussern. Ich komme diesem Wunsch gerne nach.
Als zu Beginn der 90er Jahre der Kalte Krieg zugunsten marktwirtschaftlicher Systeme zu Ende ging, gab es guten Grund zur Euphorie. «Freier Markt» und das Zauberwort «Effizienz» wurden zu unantastbaren Ikonen und «Protektionismus» gleichzeitig zum Schimpfwort. Eignungsprüfungen und Differenzierungen nach Sachgebieten und Rahmenbedingungen bei der Forderung nach Deregulation und freier Marktwirtschaft wurden kaum mehr vorgenommen.
Am Anfang verhielt sich die Wirtschaft einigermassen so, wie vom Mainstream der Ökonomen vorausgesagt. Doch gegen Ende der 90er Jahre und sicher ab dem neuen Jahrtausend, je mehr sich die Welt globalisierte und zum angeblichen «globalen Dorf» erklärt wurde, kam es immer mehr zu Erscheinungen, die mit den herkömmlichen Denkmustern nicht mehr vorausgesagt und vereinbar waren. Die Anzeichen mehren sich seither, dass wir gegenwärtig – möglicherweise durch die Globalisierung – durch eine der vielleicht grössten gesellschaftlichen Transformationsphasen der letzten Jahrhunderte gehen, in der die alten Modellvorstellungen über Politik und Wirtschaft in grossen Zügen revidiert werden müssen. Eine «kopernikanische Wende» in den Modellen der Wirtschaftspolitik zeichnet sich ab.
Aber es gibt viele Leute, die noch immer in den alten Denkmustern verharren. Sie leben etwa noch in der Welt der überholten Doha-Runde – statt des aktuellen Weltagrarberichtes; sie glauben, das Cassis-de-Dijon-Prinzip werde die Preise senken, und merken nicht, wie statt dessen die Qualität abgenommen hat; BIP und wirtschaftliche Effizienz gelten ihnen als die ökonomischen Leitsterne – statt «überlebensfähige Systeme», wie sie moderne Ökonomen heute fordern; unsere poli­tischen Nachbarn sind alle unsere Freunde – obwohl sie im Bedarfsfall mit grauen Listen erpressen, Verträge brechen oder ganze Banken untergehen lassen; Krisen haben noch immer Vorwarnzeiten – obwohl wir in den letzten Jahren immer häufiger völlig unerwartet von extrem unwahrscheinlichen Ereignissen erschüttert werden («Schwarze Schwäne», wie sie Nassim Taleb in seinem gleichnamigen Buch nennt); Liberalisierung ist im alten Denken unabwendbar und ausnahmslos gut – obwohl uns gerade die undifferenzierte Liberalisierung der Finanzmärkte Milliardenkosten verursachte und dringend zu künftiger Differenzierung in der Liberalisierungsfrage mahnt; der freie Markt lenkt uns immer ideal – obwohl ja schon heute niemand ernsthaft freien Markt für Elfenbeinhandel, harte Drogen oder Kinderpornographie fordern kann,  viele Alternativenergien auf dem freien Markt chancenlos wären und nur gerade die komplette Ausschaltung des freien Marktes die UBS rettete.
Freier Markt bedeutet  eben nicht nur Gewinn, sondern – per Definition – auch die Möglichkeit des Bankrotts. Daher darf völlig freier Markt nur dort angewendet werden, wo wir uns einen Ruin auch leisten können. Die Nahrungsmittelversorgung gehört sicher nicht dazu. Sie ist eine Hochrisikobranche, sie ist systemrelevant. Sie ist «too important to fail»!
Lebenswichtige Funktionen, wie zum Beispiel die Ernährungssicherstellung, müssen daher inhärent sicher sein. Das heisst, sie müssen unter anderem dezentral und in Eigenverantwortung gewährleistet werden, damit sich die real existierenden Instabilitäten der Moderne nicht unkontrolliert ausbreiten können. Auch wenn dies, wo nötig, in Abweichung von marktwirtschaftlichen Gepflogenheiten geschehen muss.
In der völlig freien Marktwirtschaft wird nämlich – systembedingt – nur die kurzfristige Effizienz belohnt. Auf die Spitze getriebene Effizienz wiederum sieht zum Beispiel dezentrale Produktion, Redundanz oder Eigenmittel nur als Kostenfaktoren – und nicht als überlebenswichtige Ressourcen, was sie eigentlich sind. Die Produktepreise enthalten in der freien Marktwirtschaft keinen Risikozuschlag für die Kosten unerwünschter gesellschaftlicher Entwicklungen. Daher hat der Private – systembedingt – auch gar keinen Anreiz, sein Verhalten zu ändern. Im Gegenteil: Gerade die Steigerung der Risiken führt paradoxerweise kurzfristig zu Gewinn, wie uns die Finanzbranche vor ihrem Zusammenbruch vorgeführt hat!
Wenn Joseph Stiglitz, seines Zeichens Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, 2011 sagte: «Die Ideologie der völlig deregulierten Märkte hat ausgedient», muss das nachdenklich machen. Nach meiner Überzeugung brauchen wir den Liberalismus – aber nicht den noch in den 90er Jahren besungenen naiven Schönwetterliberalismus, sondern einen robusten Allwetterliberalismus. Einen Liberalismus, in dem wir uns der modernen und typischerweise eben nicht mehr konkret voraussagbaren Systeminstabilitäten vermehrt bewusst sind. Und wo uns der Staat dort (und nur dort) protektionieren soll, wo es dem Schutz überlebenswichtiger Systeme dient und der freie Markt dies aus seiner inneren Logik heraus gar nicht tun kann.
Wenn die Initiative «Für eine Wirtschaft zum Nutzen aller» in dieser Hinsicht zum öffentlichen Denken, Diskutieren und Handeln anregt, hilft sie uns, die kritisierten alten Denkmuster und Tabus abzulegen und uns mit drängenden Problemen der Moderne auseinanderzusetzen.    •

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