von Dr. phil. Alfred Burger, Schulleiter
An unserer Schule werden immer wieder sehr interessante Kinder angemeldet, die trotz hoher Intelligenz in der Schule Schiffbruch erlitten haben. Zumeist bringen sie ein dickes Dossier von Abklärungen und Diagnosen mit, die aber nicht weitergeholfen haben. Statt Gene oder andere spekulative Ansätze als Ursache der Probleme zu orten, könnte man sich wieder auf bewährte Erkenntnisse der Pädagogik besinnen, die auf einem personalen Menschenbild beruhen. Auf dieser Grundlage wurde schon sehr viel geforscht, und man kann heute auf gesicherte Erkenntnisse zurückgreifen, wenn es darum geht, wie man mit schwierigen Kindern arbeitet. Einen wichtigen Baustein dazu hat die Individualpsychologie Alfred Adlers gelegt. Deren Erkenntnisse geben uns äusserst wichtige Ansätze für eine Erziehungslehre und Pädagogik für die heutige Zeit.
Eines Tages erhielten wir also ein Telefon aus einer Schulgemeinde. Der Schulpräsident bat uns, einen Schüler überweisen zu dürfen, mit dem sie nicht mehr weiter wüssten. In den letzten zwei Jahren sei er in einer Therapiestation gewesen, der Aufenthalt sei aber auf zwei Jahre befristet und würde die Gemeinde weit über hunderttausend Franken im Jahr kosten. Wir wollten den Buben kennenlernen und luden ihn zu einer schulischen Abklärung ein. Alexander erschien zur vereinbarten Zeit mit seiner Mutter. Ein eher kleiner und etwas rundlicher Bub, noch nicht entwickelt. Ich schätzte ihn auf etwa 12 Jahre. In Wirklichkeit war er aber schon 15 Jahre alt. Er hatte einen Ordner von der Schule der Therapiestation mitgebracht. Mit einigem Stolz zeigte er mir daraus seine Arbeiten. Einige Rechnungsblätter waren darin, kaum lesbar geschrieben, dann eine ganze Reihe von Vorträgen, die auf ein Niveau eines Viertklässlers hindeuteten. Alles in allem ein Durcheinander, kein Aufbau, keine Ordnung, die Schrift ein unleserliches Gekritzel, kaum eine Linie getroffen. Ich hörte mir seine überaus lebendigen Ausführungen über die Inhalte der Vorträge an, und wir kamen schnell in ein Gespräch. Nachher lasen wir einen kleinen Text und machten ein kurzes Diktat. Schliesslich machten wir uns dann noch ans Rechnen mit den Grundoperationen. Alexander arbeitete bei der schulischen Abklärung gerne mit, war ziemlich ruhig und konzentriert. Er gab sich grosse Mühe. Laut den Vorinformationen der Eltern und von der Therapiestation würde man bei diesem Buben im Niveau ganz weit unten beginnen müssen. Doch mein persönlicher Eindruck war nicht so, hatte Alexander doch eine erstaunliche Schnelligkeit und Intelligenz an den Tag gelegt, die überhaupt nicht zu seinen Leistungen passten. Wir sagten auf alle Fälle dem Schulpräsidenten zu.
Nachdem ich Alexander persönlich kennengelernt hatte, vertiefte ich mich noch in einen Aktenberg von Berichten und Testergebnissen. Hier die wichtigsten Punkte:
Alexander, geb. 3. Mai 1991, Diagnosen:
– Hirnorganische Funktionsstörung
– Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens
– Störung der motorischen Funktionen
– Wahrnehmungsstörungen
– Teilleistungsstörungen
– Normale Intelligenz
Anamnese und Behandlungsplan: Nach unauffälliger Schwangerschaft leicht verzögerte motorische Entwicklung, von klein auf motorisch eher unruhiges, ungesteuertes Kind. Massive Verhaltensschwierigkeiten mit Aggressivität, ungesteuerter Tätlichkeit und fehlender sozialer Integration ab Kindergarteneintritt bekannt. In der Folge erheblich belastete schulische Entwicklung: Empfehlung zur Behandlung in einer Tagesklinik. Sie wurde auf Wunsch der Eltern zugunsten der Einschulung in eine Einschulungsklasse ausgesetzt. Trotz Einzelförderung zunehmende soziale Verhaltensauffälligkeiten (Würgen anderer Kinder, Unruhe, Stören im Unterricht), teilweise war eine Dispensation vom Schulunterricht unumgänglich. Trotz hoch individueller Förderung des Knaben und intensiver Unterstützungsmassnahmen konnte er schulisch keine Fortschritte erzielen und war in einer Gruppe von mehr als zwei Kindern nicht mehr tragbar. Stationäre Abklärung in einer neurologischen Klinik, stationäre kinderpsychiatrische Behandlung, Einzel- respektive Zweierunterricht, Schulung im Kinderspital, Behandlung mit Ritalin, Legasthenietherapie, verschiedene Kleingruppenschulen, schliesslich im Alter von 13 Jahren Einweisung in eine kinderpsychiatrische Therapiestation. Familie intakt. Vater berufstätig, Mutter Hausfrau. Ältere Schwester, die unauffällig ist. Wegen psychischer Schwierigkeiten war die Mutter zweimal zur Erholung abwesend.
Gemäss Bericht der Therapiestation ist Alexander nach wie vor sehr unruhig, besonders wenn Anforderungen an ihn gestellt werden. Empfehlung der Station für die weitere Schulung: Vermeiden von schulischen Ansprüchen, um keine Überforderungsgefühle aufkommen zu lassen. In solchen Situationen rastete Alexander schnell aus. Psychotherapie wird empfohlen, ebenso die Verschreibung von Ritalin.
Wir versuchten Alexander erst einmal kennenzulernen. Berichte und Tests beschreiben immer einen momentanen Zustand. Wir betrachten den Menschen als entwicklungsfähiges, dynamisches Wesen und als Einheit. Er muss in seiner Ganzheit und in seiner Komplexität erfasst und verstanden werden. Darum heisst es zuerst immer, das Kind in seiner Bewegung beim Lernen und in seinem Verhalten in der Gemeinschaft zu beobachten. Zu Beginn des neuen Schuljahres begann also der Junge bei uns im Einzelunterricht, manchmal mit mehreren Kindern zusammen. Bald bestätigte sich mein Eindruck, dass Alexander sehr gescheit ist und den Stoff blitzschnell aufnimmt, wenn er will. Die vorbereiteten Blätter mit Grundlagenaufgaben versorgte ich also schon nach zwei, drei Stunden im Schrank und gab ihm die Bücher der Sekundarschule B. Ich schickte ihn sofort ins Englisch, später ins Französisch, obwohl die Mutter meinte, Fremdsprachen würden ihn überfordern. Dann nahmen wir ihn in eine kleine Gruppe auf, wo er bald ein recht guter Schüler wurde. Aber: Der Betrieb, den Alexander in der Gruppe veranstaltete, war von Anfang an eindrücklich. Kaum hörte er beispielsweise ein Stichwort, oder es kam ihm sonst wie etwas in den Sinn, griff er sofort zu, unterbrach den Unterricht und reklamierte die ganze Aufmerksamkeit für sich. Lauthals begann er zu erzählen und liess sich kaum unterbrechen. Oder er stürzte ans Fenster, weil er ein interessantes Auto sah und wollte, dass alle kommen und schauen. Ja, wenn er nicht gerade sagen könne, was ihm in den Sinn komme, würde er es vergessen, meinte er auf den Protest des Lehrers hin. Wenn er etwas nicht lernen wollte, begann ein lautes Lamentieren. Er könne das nicht, das sei langweilig, man bräuchte das nie im Leben usw. Er war ausserordentlich schlagfertig und hatte immer das letzte Wort. Wenn das nichts half, legte er den Kopf auf die Bank und verlangte, die gestellte Aufgabe zu Hause machen zu dürfen, er wolle nun lieber ein Auto zeichnen. Im Unterricht schaffte er es, die Aufmerksamkeit immer auf sich zu lenken. Dabei war er so geübt, dass es kaum einen Lehrer gab, der nicht darauf einging. Im Unterricht bekam er oft einen recht verschmitzten Ausdruck im Gesicht, seine Augen wanderten lustig hin und her, – ein Zeichen, dass bald einer seiner Kommunikationsversuche mit einem Mitschüler bevorstand. Unter den Kindern juckte es ihn ständig, mit den anderen auf seine Weise in Kontakt zu treten: Er störte sie verbal, oder er berührte sie mehr oder weniger heftig und beteuerte dann sofort, der andere hätte angefangen. Um ihn herum war immer Betrieb, er lachte überlaut und ärgerte die anderen Kinder ständig. In den Pausen rannte er meist mit hochrotem Kopf herum, immer auf der Flucht vor einem, den er mit seinen sogenannten Spässen geärgert hatte. Was im Spass begann, endete zumeist im Streit, weil die anderen sich geplagt fühlten. Die anderen Kinder mochten ihn zwar einigermassen, aber bei genauerem Hinschauen sah man, dass niemand so richtig mit ihm wollte. Er hatte wenig Kontakt, auch zu Hause in seinem Dorf kaum Freunde. Wenn ihm ein Mädchen gefiel, konnte er sich kaum mehr auf etwas anderes konzentrieren, er wollte es ganz für sich einnehmen, so wie er meist die anderen ganz für sich haben wollte. Trotz seines enormen Betriebes, den er veranstaltete, war er ein recht liebenswerter Bub mit originellen Seiten. Er war nicht gewalttätig, ansprechbar und konnte sich durchaus auch vernünftig verhalten.
Schon nach kurzer Zeit hatten wir also eine ganze Fülle von Beobachtungen und Erfahrungen mit Alexander gemacht. Er konnte nur an sich denken, alles musste sich immer mit ihm beschäftigen. Die anderen bezog er nicht in sein Fühlen und Denken mit ein. Auch war es ihm gar nicht bewusst, dass er seine Mitschüler am Lernen hinderte, sein Gemeinschaftsgefühl war also sehr wenig ausgeprägt.
Bei Alexander vermuteten wir schnell, dass er mit seinem schwierigen Verhalten die Lehrpersonen dazu bringen wollte, sich immer mit ihm zu beschäftigen. Sein übertriebenes Streben nach Geltung trieb ihn ständig zu Aktionen, mit denen die Erwachsenen zu tun hatten. Tatsächlich erfuhren wir von den Eltern Alexanders, dass er die Mutter schon als Kleinkind von früh bis spät bis zur Erschöpfung in Atem gehalten hatte. Ständig musste sie auf ihn aufpassen und durfte ihn keine Minute alleine lassen. Er konnte am Abend auch nicht schlafen gehen, musste er doch immer schauen, ob noch etwas in der Stube läuft. Nicht einmal nachts hatten die Eltern also Ruhe. Die Erholungsurlaube der Mutter, die sie aus Erschöpfung einige Male einschalten musste, hatten mit Alexanders grosser Unruhe zu tun. Ursachen dafür waren die eigene persönliche Unsicherheit und die Ängstlichkeit der Mutter, die ihr Sohn spürte. Er hatte schon früh gemerkt, dass er sie mit seiner Unruhe immer für sich hatte.
Auch ein weiterer Bericht der Mutter zeigte Alexanders Bestreben, eine besondere Situation zu suchen. Als es in der öffentlichen Primarschule nicht ging, wurde auch eine Abklärung in einer neurologischen Klinik angeordnet. Bald stellte man dort fest, dass Alexanders Symptome nicht auf eine Krankheit zurückzuführen waren. Doch es gefiel ihm so ausserordentlich gut an dieser Klinik und deren Schule, dass er dort bleiben wollte und das auch durchsetzte. Alexander war unter diesen Kindern, die mit einer wirklichen Einschränkung leben mussten, ohne grosse Anstrengung leistungsmässig bei den besten. So hatte er nie Aufgaben, was er sichtlich genoss. Wie ein König liess er sich täglich mit dem Taxi von weit her chauffieren und fühlte sich sichtlich wohl, besonders weil er nie Aufgaben machen musste. Auf die Dauer konnte er aber nicht dort bleiben. Danach kam er zu einem Lehrer, der ihm nichts durchgehen lassen wollte. Es gefiel ihm dort natürlich nicht, was er auch lauthals zum Ausdruck brachte. Die Eltern nahmen ihn denn auch bald aus dieser Schule heraus, weil sie seine Unzufriedenheit einfach nicht aushielten. Kein Mensch, keine Schule konnte Alexander diese Aufmerksamkeit geben, die er seiner Meinung nach brauchte.
Aber wie behebt man eine solche Unruhe? Wie entwickelt man bei Alexander mehr Sicherheit und mehr Gemeinschaftsgefühl?
Jedes Kind hat positive Seiten. Hier galt es bei Alexander anzusetzen. Bei ihm waren seine Schlauheit, seine Intelligenz und seine Lebendigkeit herausragend und uns sofort aufgefallen. Vorher hatte man immer versucht, Alexander zu stoppen oder nicht zu überfordern, weil dann ja seine Ausweichmanöver anfingen. Er hatte hohe Ansprüche und war im Grunde genommen immer unzufrieden mit sich. Wir machten ihm klar, dass wir mit diesem Niveau, das er bisher geboten habe, überhaupt nicht einverstanden wären. Diese Schrift, diese Heftdarstellung, seine Weigerungen etwas zu lernen, komme von jetzt an überhaupt nicht mehr in Frage. Er sei ausserordentlich intelligent, das hätte die Überprüfung ergeben und jede Schonung sei für ihn falsch. Das Ziel sei es, den verpassten Stoff nachzuholen und in einzelnen Fächern auch ins Sekundarschulniveau A zu wechseln und schliesslich eine anspruchsvolle Lehre ins Auge zu fassen. Wir hätten nicht im Sinn, uns weiter auf diese Weise mit ihm abzugeben. Alexander war sofort damit einverstanden und schloss mit uns eine Art Arbeitsbündnis, weil er unbedingt an unserer Schule bleiben wollte. Wir verlangten also ab sofort Normalprogramm. Siehe da, er verbesserte seine Leistungen kontinuierlich. Die Hefte waren schöner geführt, die Schrift wurde leserlich. Wir gaben Alexander eine genaue Anleitung, wie er die Ziele erreichen könne, und sprachen ihn auch immer wieder darauf an, wenn er in sein altes Lernverhalten zurückfiel. Über viele Wochen versuchten wir so, Alexander mehr abzuverlangen und ihm das Gefühl zu geben: Ich kann, was ich mir vorgenommen habe, ich kann, was von mir verlangt wird, und ich kann es so gut wie die anderen.
Die früher gemachten Bemühungen waren alle nutzlos verpufft, weil man bei Alexanders ungemeinschaftlichem Verhalten angesetzt hatte. Das störende Verhalten Alexanders im Unterricht war nicht zu stoppen. Er setzte seinen Willen zumeist durch. Die tatsächliche Ursache seines Verhaltens war in seinem Gefühl begründet, dem Vergleich mit den anderen nicht standhalten zu können und immer zu denken, er sei nicht so klug wie andere.
Es ist heute unschwer zu erkennen, dass Kinder in den Schulen unruhiger und nervöser als früher sind. Bei auftauchenden Schwierigkeiten in der Schule schickt man Kinder wie Alexander schnell zur sogenannten Abklärung, wo bald einmal Diagnosen wie ADHS und ähnliche gestellt werden mit entsprechenden Therapien und Medikationen. Einerseits versuchen Schule und Lehrerschaft sich so vor späteren Vorwürfen zu schützen, landen doch nicht wenige der im Kindesalter Auffälligen später einmal in der Psychiatrie oder in der Kriminalität. Auf der anderen Seite können wir ruhig von einer Kapitulation der Pädagogik sprechen. Eine Pädagogik, die sich die Erziehung der künftigen Generation zur Aufgabe macht, gibt es leider kaum mehr, engagierte Lehrerinnen und Lehrer ausgenommen. Die Schulen verwenden ihre ganze Kraft auf Reformen und Strukturveränderungen, die Computerisierung des Unterrichts und die Anpassung an die sogenannt globalisierte Welt mit Qualitätsmanagement, Qualitätstests usw. Es jagen sich Sitzungen und Besprechungen, alles wird reorganisiert. Die Lehrer werden für Nebensächlichkeiten und Administratives eingespannt und regelrecht aufgerieben – viele Schulstunden fallen aus. Die Lehrer sind allenfalls noch Lernbegleiter. Man muss sich fragen, wo im ganzen Gefüge die Kinder bleiben. «Es ist das System Schule, das System der Theorie von Bildung und Didaktik, das System des psychologischen und pädagogischen Verstehens, das hier zusammenbricht», meint beispielsweise Wolfgang Bergmann, ein Psychologe, der sich intensiv mit den sogenannten ADHS-Kindern auseinandergesetzt hat.
Wenn ich nun wieder auf unser Beispiel zurückkomme, möchte ich noch anmerken, dass ich auf keinen Fall Lehrkräften, Psychologen oder Psychiatern, die sich mit diesem Buben beschäftigt haben, einen Vorwurf machen will. Alexander war und ist ein schwieriges Kind, das die Erzieher sicher schnell an den Rand gebracht hat. Das Beispiel zeigt aber auch, wie weit sich die Schule und auch die hilfeleistenden Institutionen von grundlegenden und schon seit langem bekannten psychologischen und pädagogischen Überlegungen entfernt haben.
haben ihre Ursachen im persönlichen Umfeld der Kinder
Alexanders Gefühl des Ungenügens hatte auch viel mit der älteren Schwester zu tun. Sie wird in den Berichten aber kaum einmal erwähnt. Die Geschwisterkonstellation als Faktor zur Entstehung von Unterlegenheitsgefühlen wird heute kaum mehr berücksichtigt. Zu sehr wird das Kind nur als Individuum ohne Bezug zu seinem Umfeld betrachtet. Die Diagnosen sind entsprechend einseitig, ebenso die Massnahmen: Einzelfallarbeit, Spieltherapie usw. Oft beschäftigen sich ganze Heerscharen von Spezialisten mit solchen Kindern. In fast allen Fällen werden sie aus der Gemeinschaft der anderen Kinder herausgenommen. Da muss doch jedes Kind von sich bald einmal denken, es sei das einzige, das mit diesem Problem behaftet sei.
Wie Alfred Adler schon betont hat, ist die Geschwisterkonstellation ganz bedeutend. Er führt einen grossen Teil der Unterlegenheitsgefühle und Schädigungen im Gemeinschaftsgefühl auf die Geschwisterposition bzw. auf die Rivalitäts- und Eifersuchtsproblematik in der Geschwisterbeziehung zurück. Beim Einzelkind ist die Eifersuchtsproblematik oft noch stärker, weil es sich ständig mit Erwachsenen misst. Die Situation in der Familie stellt sich für jedes Kind anders dar. Die grössere Aktivität des einen Kindes kann das andere stark entmutigen, der Schulerfolg der jüngeren Schwester kann zum Misserfolg beim älteren Geschwister führen. Oft spezialisieren sich Geschwister. Das ältere wird gut in den mathematischen Fächern, ein jüngeres besser in den sprachlichen Fächern und umgekehrt. Ein mittleres Geschwister kann völlig in alte Gewohnheiten zurückfallen, wenn noch ein Kind auf die Welt kommt. Es will auch wieder klein sein oder beginnt, das jüngere zu plagen. Das alles zeigt deutlich, wie bedeutend Geschwister für das Gefühlsleben sind. Geschwister vergleichen sich immer miteinander, was ganz normal ist. Diese Eifersucht unter den Kindern kann entscheidend vergrössert werden, wenn die Eltern durch Bevorzugung und Benachteiligung die Ungleichheit unter die Geschwister tragen oder meinen, durch genaues Messen und Teilen die Eifersucht zu verhindern. Dadurch wird sie nur noch angeheizt. In der Familie muss eine Stimmung der Gleichwertigkeit herrschen. Dabei ist es ganz normal, dass ein jüngeres Kind etwa weniger machen kann als das ältere. Sind sich da die Eltern unsicher, kann man sicher sein, dass die Eifersucht beim jüngeren stark wächst und es unbedingt einfordern will, was die älteren dürfen. Man kann die Kinder nicht gleich behandeln, aber als gleichwertig. Oft beobachten wir heute, dass jüngere Kinder in eine grosse Nervosität fallen, weil sie es kaum aushalten, ein älteres Geschwister zu haben. Sie sind ständig auf Aufholjagd, finden keine Ruhe und gelten bald einmal als hyperaktive Kinder. Diese innere Unruhe hat natürlich auch viel mit dem heutigen Umfeld der Kinder zu tun, wo nur gilt, was schnell geht, was ausserordentlich ist.
Der Unterschied zwischen Alexander und seiner älteren Schwester war auffällig. Im Gegensatz zu ihm hatten die Eltern nie Probleme mit ihr. Sie war eine gute Schülerin, war hübsch, hatte viele Freundinnen und war beliebt. Alexander kam nicht gut mit ihr aus. Er ärgerte sie, wann es nur immer ging. Auch damit war die Mutter immer beschäftigt. Alexander konnte sich überhaupt nicht damit anfreunden, dass die ältere Schwester eben schon mehr wusste. Statt ihr im Konstruktiven nachzueifern, weitete er seine Stellung als schwieriger Bub immer mehr aus und war darum bald im ganzen Dorf bekannt. Als wir der Schwester in einem Gespräch sagten, Alexander könne so gut wie sie und andere lernen, war sie empört und beharrte darauf, dass in Alexanders Kopf etwas nicht stimme und er darum so unmöglich sei.
Die Schule müsste die veränderte Situation vieler heutiger Kinder in ihren Familien sowie auch deren Geschwisterposition einbeziehen, wenn sie mithelfen will, den Kindern auf ihrem Weg zu helfen. In manchen Familien herrscht heute Unruhe und Verunsicherung. Viele Eltern getrauen sich nicht mehr, von ihren Kindern etwas zu verlangen. Von dieser Seite her betrachtet sind die Schulreformen mit ihren freien und offenen Unterrichtsformen, mit dem selbstgesteuerten Lernen und mit Lehrern, die sich als Animatoren verstehen, für viele Kinder verheerend.
Kinder wie Alexander sind egozentrische Kinder mit wenigen sozialen Fähigkeiten. Häufig steht bei solchen Kindern die Mutter im Zentrum, und oft steht im Hintergrund ein abwesender oder schwacher Vater. Die Mütter sind oft überfürsorglich und harmonisierend und wenig in der Lage, sich in ihre Kinder wirklich einzufühlen und sich spontan und echt im Erziehungsprozess einzugeben. Diese Kinder stehen immer im Zentrum. Nervöse Kinder benötigten darum nichts von dem, was im Zeittrend liegt und was viele Schulen heute anbieten. Kinder wie Alexander brauchen wohlwollende, aber bestimmte Anleitung, sie brauchen Verlässlichkeit, sie brauchen äussere und innere Ordnung. Erziehung setzt Echtheit im Verhalten und im Selbstgefühl voraus. Heute fehlt diese auf weiten Strecken. Eltern und Lehrer trauen sich nicht, etwas zu fordern, ihren Kindern den Fernseher vor der Nase auszumachen, sie in einem vernünftigen Verein anzumelden und dafür zu sorgen, dass sie auch hingehen. Die unruhigen Kinder sind dort unruhig, wo Chaos herrscht. Darum wäre eine Schule mit Strukturen wichtig. Das gibt ihnen Halt im Durcheinander ihrer Gefühle. Sie beruhigen sich. Dass es heute als unmodern gilt, von den Kindern eine schöne Heftführung und eine leserliche Handschrift zu verlangen, ist ein Fehler. Man denkt, es sei im Zeitalter des Computers nicht mehr zeitgemäss. Dabei sind Rechtschreibung, Schrift und Heftführung ungemein wichtig, um den Kindern den fehlenden Halt zu geben. Sie sind zufriedener, wenn sie eine schöne Seite gestaltet haben und sich darüber freuen können.
Das stellten wir auch bei Alexander fest. Wenn die Lehrer von ihm mit Festigkeit verlangen, was in der Schule eben verlangt werden muss, wird er ruhiger, beginnt zu arbeiten. Fehlt ihm diese klare Anleitung, wird er nervös und immer nervöser. Bei Alexander war es wichtig, dass man ihn fordert und ihm Aufgaben abverlangt, die er zu schwierig findet. Wichtig ist es, auf seine Ausweichmanöver nicht hereinzufallen. Er hat auf diesem Gebiet ein immenses Repertoire entwickelt, man kann als Lehrer nur staunen. Aber es lohnt sich, seine eigenen Kräfte zu verdoppeln und mit noch grösserer Ausdauer ihn auf einen positiven Weg zu führen. Immer wieder, wenn er es geschafft hat, eine ihm anfänglich zu gross scheinende Aufgabe zu bewältigen, haben wir ihm nämlich zu einem Stück mehr Selbstvertrauen verholfen, zu mehr Zuversicht unter den anderen Kindern. In Wirklichkeit fühlt er sich ihnen gegenüber wie bei der Schwester grenzenlos unterlegen. Nur nebenbei: Hat der Lehrer hier nicht die richtige Einschätzung des Problems, denkt er bald einmal, mit dem Schüler stimme irgend etwas nicht, das bräuchte eine Abklärung usw., steht er bei einem solchen Kind auf verlorenem Posten. Oder erst recht, wenn er aus seiner eigenen persönlichen Geschichte heraus mit dem Schüler Mitleid hat. Schule und Lehrerschaft haben also dafür zu sorgen, dass die Kinder den Stoff bewältigen können und möglichst alle denken: «Das ist auch etwas für mich, da komme ich mit.»
Eine gut funktionierende und angeleitete Klassengemeinschaft ist von immenser Bedeutung für die Integration von Kindern, die von ihrem Zuhause eine mangelhafte Vorbereitung bekommen haben. Hier wäre eigentlich ein kleiner Exkurs notwendig über die Bedeutung der Klassengemeinschaft. Schüler Alfred Adlers haben in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts Schulen geführt, in denen die funktionierende Klassengemeinschaft eine zentrale Bedeutung einnahm. Es hat in jeder Klasse konstruktive Kinder, die Gemeinschaftsgefühl mitbringen. Der Lehrer kann auf diese zählen, sie werden ihm bei der Aufgabe helfen, Kinder mit weniger Gemeinschaftsgefühl, das heisst mit weniger Übung, Mut und Vertrautheit mit dem sozialen Miteinander, als Mitspieler zu gewinnen. Die Schule muss ein Modell bieten, das im Kleinen bereits die intellektuellen, aber vor allem auch die sozialen Fähigkeiten der Kinder für das spätere Leben als Erwachsene schult. Die Lehrer zeigen den Kindern, wie man Schwierigkeiten im Lernen aktiv bewältigen kann, wie Schwierigkeiten im Zusammensein mit anderen Kindern gelöst werden können, wie man lernt, mit verschiedenen Meinungen zu leben, wie man mit andersartigen Kindern friedfertig auskommt. Das ist Erziehungsarbeit. Der Lehrer führt sie nicht nur an die Schönheiten der Natur und der Wissenschaft heran, an das schöne Gefühl, etwas verstanden zu haben, sondern zeigt ihnen auch, wie es anderen Menschen geht und weckt damit ihr soziales Interesse für den Nachbarn und für die Menschen auf der ganzen Welt. Hier kommt es darauf an, dass der Lehrer sich ganz als Person und echt eingibt, lobt, auch beurteilt und einordnet, was Kinder alles so machen. Sich eben auch getraut, etwas zu verlangen und zu sagen, wenn er etwas nicht richtig findet. Ein auf solche Weise verankertes und geschultes Kind hat gelernt, den Problemen mutiger in die Augen zu schauen und ist besser gefeit, in den Stürmen des zukünftigen Lebens, bei Enttäuschungen, bei Verlust und anderen Schwierigkeiten, die im Leben auf es zukommen, nicht mit Rückzug und mit Depressionen zu reagieren. Dazu bräuchte es Schulen, die von einem pädagogischen Ansatz ausgehen und ihre heiligste Pflicht darin sehen, die Kinder nicht zu entmutigen und sie zu Mitspielern in der Gemeinschaft zu machen. Dieses schöne Anliegen wiederzubeleben wäre eine Aufgabe für die heutige Pädagogik. Wie schon erwähnt, bewegen sich leider unsere Schulen in eine ganz andere Richtung.
Um auf unser Beispiel mit Alexander zurückzukommen: Die Schule hat auch in diesem Punkt versagt. Den Berichten ist zwar zu entnehmen, dass es einigen Erziehern gelungen war, ein Vertrauensverhältnis zum Buben aufzubauen. Es ist aber keinem gelungen, Alexander in eine grössere Gemeinschaft zu begleiten, ihm ein adäquates Verhalten abzuverlangen und dafür zu sorgen, dass ein ruhiges Klima in den Klassen herrscht. Kinder wünschen sich in fast allen Fällen nichts lieber, als in Frieden mit den anderen in der Gemeinschaft auszukommen. Dazu brauchen sie unbedingt die Anleitung der Erzieher. Im Lebenslauf dieses im Grunde liebenswürdigen Knaben fehlte ein natürlicher Kontakt mit den anderen Kindern. Schon von früh an wurde er wegen seiner enormen Schwierigkeiten in der Gemeinschaft aus ihr entfernt. Offensichtlich hat niemand erkannt, dass sein ungemeinschaftliches Verhalten auch ein – allerdings untauglicher – Versuch war, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen. So wie er es mit der Mutter eingeübt hatte, nämlich mit aller Gewalt ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hatte er es mit den Kindern in der Schule versucht. So war er in der ersten Klasse ständig im Klassenzimmer unterwegs, weil er sehen wollte, wie weit die anderen schon waren. Man hat ihm das als mangelnde Kontrolle seines Bewegungsdranges ausgelegt und als innere motorische Unruhe. Dabei war er unsicher, ob er auch so gut sei wie die anderen, und wollte ständig am Ball bleiben. Besser hätte man ihn beispielsweise als Hilfslehrer für Mathematik eingesetzt, um seine Nervosität auf eine gemeinschaftliche Bahn zu lenken.
Die Entwicklung von Alexander war geprägt von vielem Auf und Ab. Er beruhigte sich aber im Laufe der Zeit immer mehr und begann, in der Klasse zunehmend eine positive Rolle einzunehmen. Wir merkten auch, dass er gerne hilft. So gaben wir ihm Aufgaben im Schulhaus, die er zu erledigen hatte. Auch mit den Eltern besprachen wir, wie er sich zu Hause nützlich machen konnte. Er unterstützte die Mutter beim Kochen. Er zeigte ihr, was er im Kochunterricht alles gelernt hatte. Dem Vater musste er bei schwereren Aufgaben zur Hand gehen. Das fanden wir wichtig, damit er beginnt, sich mehr auf den Vater auszurichten. Bisher hatte die Mutter die dominierende Rolle eingenommen. In der Schule legten wir bei Alexander auch Wert darauf, dass er den anderen Kindern hilft. Zuerst waren es jüngere, später auch Gleichaltrige. So konnte er zur Geltung kommen und einen konstruktiven Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Alexander hatte sich damit soweit beruhigt, dass wir uns einen nächsten Schritt überlegten. Er sollte wieder in einer grösseren Klasse in der Gemeinde integriert werden. Das galt es, sorgfältig vorzubereiten, wussten wir doch, dass die Mutter von Alexander ganz dagegen sein würde. In einigen Gesprächen mit der Behörde besprachen wir Alexanders Entwicklung und überzeugten die Eltern, diesen Schritt zu wagen. Nach Ablauf zweier Jahre verliess Alexander dann unsere Schule und trat in eine grosse Normalklasse in seiner Wohngemeinde ein. Ich sprach nicht mit dem Lehrer, ich wollte, dass er von allem Anfang in Alexander einen normalen Buben sehen konnte. Und siehe da, Alexander verhielt sich tadellos, störte den Unterricht nicht mehr, arbeitete mit und schrieb gute Noten. Ein halbes Jahr später erhielt er die Lehrstelle als Sanitärinstallateur, die er sich gewünscht hatte. Nun hat er die Lehre bereits erfolgreich abgeschlossen und ist ein junger Mann geworden, der im Leben steht und dem man überhaupt nicht ansieht, was er früher für Schwierigkeiten im Leben hatte.
Als er vor einigen Wochen bei uns vorbeischaute und von seiner Entwicklung in Schule und Lehre erzählte, sagte er ganz zum Schluss voller Stolz: «Kommen Sie noch schnell hinaus, da draussen auf dem Parkplatz steht mein Auto!» Ganz offensichtlich war es Alexander wichtig zu zeigen, was er erreicht hatte. Die Ausrichtung der Kinder auf die Erwachsenen, auch wenn diese Kinder gross geworden sind, ist eben nicht wegzudiskutieren. Der Mensch ist Person und ein Beziehungswesen, das vom anderen Menschen Echo möchte. Nur eine Schule, die sich dem personalen Menschenbild verpflichtet fühlt, nur eine Schule, die anleitet und erzieht, kann Kinder heranbilden, die später einmal als mündige Bürger mithelfen, die Demokratie zu gestalten und aktiv das eigene und das Leben der anderen zu verbessern. •
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