Welche Aufgaben haben Schulen?

Welche Aufgaben haben Schulen?

von Roland Güttinger

Zurzeit sind neue Schultypen in Mode: Gemeinschaftsschulen, Mosaikschulen, Haus des Lernens, Lernlandschaften und wie sie alle heissen. Etwas zeichnet sie aus: Sie operieren mit positiv besetzten Begriffen wie Gemeinschaft, individuell ausgerichtetem Lernen, Akzeptieren von Heterogenität – Begriffe, deren Umsetzung sie meist nicht einhalten, ja von der Struktur ihres Aufbaus her schwerlich umsetzen können, auch wenn sie es wollten. Also sind es eigentliche Mogelpackungen, platte Propaganda. Dies lässt sich am Begriff der Gemeinschaftsbildung sehr gut zeigen.
Dass in den verschiedenen Kantonsverfassungen eine der Hauptaufgaben der Volksschule in der Gemeinschaftsbildung liegt, kommt nicht von ungefähr. Unter Gemeinschaftsbildung werden viele verschiedene Qualitäten verstanden wie einander zuhören, aufeinander eingehen, gegenseitig behilflich sein, Interesse füreinander entwickeln, Mitgefühl für die Situation des andern entwickeln, Gespräche und Diskussionen führen, gemeinsam Konflikte erörtern und gangbare, gerechte Lösungen suchen usw.
Dies sind alles Dinge, die der Mensch in einer demokratisch ausgerichteten Gesellschaft benötigt, ohne die eine solidarische Gesellschaft gar nicht entstehen kann. Die Ursprünge dieser Forderungen fallen mit der Entstehung unserer Volksschule zusammen: Alle Bewohner sollten mit der Schule so viel Wissen und Persönlichkeitsentwicklung erhalten, dass sie zu demokratiefähigen Mitbürgern werden. Dies war eine der Hauptforderungen an die Volksschule, weil mit der Umsetzung dieses Postulates eine der wichtigsten Bedingungen zur Entstehung eines funktionierenden direktdemokratischen Staates gegeben war. Dies gilt heute noch – so sieht es die Verfassung jedenfalls vor.
Die Schule hat also die Aufgabe, dieses Mitgefühl zu fördern. Dies nennt man Empathie-Entwicklung, die Grundlage einer gedeihlichen Zusammenarbeit, eines konstruktiven Klassenklimas. Der Schüler allerdings bringt viele Voraussetzungen mit, die die Entwicklung behindern können: ungute Vorbilder aus der medialen oder realen Welt, Rückzugs- und Ausweichbewegungen, die der individuelle Lebensweg entwickelt. Dem Pädagogen stellt sich die Aufgabe, solche Fehlentwicklungen zu erkennen, ihnen auch etwas entgegenzuhalten. Es handelt sich hier also nicht einfach um entwicklungsbedingte Defizite, die in der Erziehung immer entstehen können, sondern um von aussen gelieferte negative Identifikationsfiguren wie Comic-Helden, Monsterwesen und andere Figuren. Allen gemein ist ein Realitätsverlust, der bei der Gemeinschaftsbildung und auch dem Lernen hinderlich ist.
Die Schule ist das Abbild unserer Gesellschaft. Auseinander divergierende Wertvorstellungen, konservative, religiöse, moderne, überforderte, missratene Lebensentwürfe treffen zusammen, zeigen sich in der Lebens- und Lernhaltung der Kinder. Schüler, die schon früh mit Fernsehen oder Medikamenten ruhiggestellt wurden, sind in dieser Aufgabe der Gemeinschaftsbildung stark gefordert und auch gefährdet. Auch sie müssen mitgenommen werden.
Dieses empathische Gefühl der Mitmenschlichkeit, die Grundlage jedes lebendigen Gemeinwesens, wird natürlich in der Familie gelegt. Dann kommt der Kindergarten, der die ersten Schritte in die grössere Gemeinschaft mit sich bringt, und schliesslich die Schule, in der die entstehende Klassengemeinschaft sich der Aufgabe des gezielten und planmässigen Lernens stellen muss. Jeder Pädagoge weiss, was es heisst, wenn er auf das, was in den Stufen davor hätte gelegt werden sollen, nicht weiter aufbauen kann. Wo die familiäre Vorbereitung auf das gemeinsame Leben fehlschlägt oder zuwenig ausgebildet wird, bleibt der Schule ein grosses Stück Arbeit, das selten richtig ausgeglichen werden kann. Und das Gleiche gilt für die Aufgaben des Kindergartens, der Primarschule und der Oberstufe, die alle ihre spezifischen Aufgaben zu erbringen haben, damit der junge Mensch sich in der grösseren Gemeinschaft zurechtfindet, Freundschaften entwickeln kann, Zusammenarbeit möglich wird, Interesse an den Aufgaben der Gesellschaft so weit entsteht, dass er einen entsprechenden Beruf erlernen will, um damit ein unverzichtbares Mitglied in diesem Räderwerk zu werden.
Ein wichtiges Element in diesem Prozess ist das gemeinsame Lernen der Schüler mit ihrem Lehrer oder ihrer Lehrerin. Der Pädagoge weiss, wohin die Reise geht, über die Stunde, den Tag, die Woche und das Lernjahr. Er hat eine Vorstellung von den anstehenden Schwierigkeiten, er kennt die Tücken der Materie, ist sich im schrittweisen Aufbau sicher und weiss, dass trotz grosser Heterogenität eigentlich alle seine Schüler die reifemässig richtig ausgerichteten Aufgaben innerhalb eines bestimmten Zeitraumes verstehen und selber lösen können. Natürlich spielen in diesem Zusammenhang auch die richtigen Lehrmittel eine grosse Rolle, aber das wäre ein weiteres zu bedenkendes Kapitel.
In diesem Lernprozess der gemeinsamen Erarbeitungsphase ist die Klassengemeinschaft, vor allem in Form des Klassengesprächs, von enormer Wichtigkeit. Hier geht es nicht ohne das genaue Hinhören, auch was die Kameraden sagen, bestätigen oder korrigieren, wenn man etwas anders verstanden hat, fragen, wenn Unsicherheiten zurückgeblieben sind, sich mit Lösungsvorschlägen exponieren, sich von andern etwas sagen, erklären lassen usw. Dieser filigrane Ablauf ist so vielschichtig und umfassend, dass man oft die Bedeutung unterschätzt. Aber ohne dieses Zusammenwirken aller entsteht diese Fähigkeit zur Gemeinsamkeit, zur Gemeinschaft nicht.
Hier haben wir einen optimalen Ablauf zu skizzieren versucht, der in der Klassensituation vom Pädagogen äusserst viel verlangt: eine absolute geistige und emotionale Präsenz, Sorgfalt im Vorankommen, Umsicht im Umgang mit jedem einzelnen, Übersicht über die Dynamik in der Klasse und die zwischenmenschlichen Abläufe zwischen den Schülern. Oft können Bemühungen einzelner zu Missverständnissen führen. Ungeschicklichkeiten, verletzende Bemerkungen müssen nicht nur wahrgenommen, sondern richtig gedeutet oder korrigiert werden. Rückmeldungen sind sehr sorgfältig und individuell richtig einzusetzen, und die Freude des Erwachsenen am gemeinsamen Prozess muss spürbar sein.
Dass diese Aufgabe nicht täglich optimal gelingt, liegt wohl auf der Hand. Erstens kann man es immer noch besser oder anders machen und lernt auch als Pädagoge stets dazu. Das macht nicht nur das Spannende und Erfüllende am Beruf aus, sondern es motiviert einen tagtäglich, sich in der Erfüllung dieser Aufgabe mit den Schülern zusammen zu verbessern. Zweitens brauchen wir Pädagogen in dieser Frage, in diesem Gebiet Unterstützung, Weiterbildung – ernsthafte, vertiefte Auseinandersetzung mit dem Phänomen Schüler und natürlich auch mit der eigenen Person. Da haben wir nie ausgelernt, auch damit kann man gut leben lernen.
Wenn wir nun an die neuen Schultypen denken, so wird dort gerade mit dem enormen Einsatz des Computers, fertiger Lernprogramme – und seien sie auch noch so ausgeklügelt – des sehr häufigen individuellen Lernens, bei dem jeder irgendwo anders steht, gerade der Aufgabe des gemeinsamen Lernens ausgewichen. Zugegeben, es ist dies vielleicht das schwierigste Element in der Schulführung, weil unter anderem auch die disziplinarischen Probleme mit gelöst werden müssen. Aber die persönlichen Unzulänglichkeiten lassen sich mit keiner Strukturänderung, mit keiner «Reform» umschiffen, ja es kann damit der eigenen Persönlichkeitsentwicklung ausgewichen werden. Schade eigentlich – denn wir haben den schönsten Beruf, den es gibt: Mit der Jugend im steten Austausch sich an die grossen Fragen des Lebens und der Gesellschaft heranzutasten und sie für diese Aufgaben möglichst gut vorzubereiten.    •

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