Das Genossenschaftsprinzip als Grundlage der politischen Kultur in der Schweiz

Das Genossenschaftsprinzip als Grundlage der politischen Kultur in der Schweiz

von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie

Die Genossenschaften stellen in ihren verschiedenen Ausformungen für den schweizerischen Bundesstaat ein zentrales Fundament dar. Als wirtschaftliche Organisationsform der Selbsthilfe ist die Genossenschaft nicht nur eine blosse Rechtsform, sondern eine eigentliche Gesellschaftsform. Stets ist sie lokal verankert und eingebettet in das föderalistisch-subsidiäre politische System der Schweiz. Die Genossenschafter entscheiden demokratisch über alle anfallenden Fragen, jeder hat eine Stimme. Der Zweck einer Genossenschaft besteht immer in der für alle Glieder wie für den Verband optimalen Nutzung einer gemeinsamen Sache. Die Nutzungsformen können verschieden sein, der Zweck muss immer dem naturrechtlich verankerten Gemeinwohl – dem Bonum commune – dienen.
Der Historiker Adolf Gasser hat die Bedeutung des genossenschaftlichen Prinzips besonders klar hervorgehoben. Für ihn war die europäische Geschichte stark vom Gegensatz zweier verschiedener Gesinnungen geprägt, und zwar von Herrschaft und Genossenschaft. In diesen Erscheinungen stehen sich, so betont Gasser, zwei Welten gegenüber, die ganz verschiedenen Entwicklungsgesetzen unterstehen: die Welt der von oben her und die Welt der von unten her aufgebauten Staatswesen oder mit anderen Worten die Welt der Gemeindeunfreiheit und die der Gemeindefreiheit. In seinem Hauptwerk «Gemeindefreiheit als Rettung Europas» (1947) führt er aus:

«Der Gegensatz Herrschaft – Genossenschaft ist vielleicht der wichtigste Gegensatz, den die Sozialgeschichte kennt. Beim Gegensatz Obrigkeitsstaat – Gesellschaftsstaat geht es eben um schlechtweg fundamentale Dinge: nämlich um die elementaren Grundlagen des menschlichen Gemeinschaftslebens.»

Gasser betont weiter, dass es das genossenschaftliche Ordnungsprinzip ist, das zu einer kommunalen Gemeinschaftsethik führt:

«Während im obrigkeitlich-bürokratischen Staate Politik und Moral auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen liegen, gehören sie im gesellschaftlich-kommunalen Staate untrennbar zusammen. Demgemäss wird man das genossenschaftliche Ordnungsprinzip, wie es den von unten nach oben aufgebauten Gemeinwesen zugrunde liegt, besonders zweckmässig als ‹kommunale Gemeinschaftsethik› bezeichnen.»

Dieses genossenschaftliche Prinzip gilt aber in der Schweiz nicht erst seit 1848, sondern war schon seit Jahrhunderten fester Bestandteil der eidgenössischen Gesinnung.
Meistens gingen die Genossenschaften aus der mittelalterlichen Flurverfassung oder, anders ausgedrückt, aus der «mittelalterlichen Gemeinmark» hervor. Für das Verständnis des schweizerischen Staatswesens sind diese frühen Wurzeln des Genossenschaftswesens zentral. Dazu schreibt der Historiker Wolfgang von Wartburg in seiner 1951 veröffentlichten «Geschichte der Schweiz»:

«Diese kleinen, natürlichen, sich selbst verwaltenden Gemeinwesen sind Schule und Nährboden der schweizerischen Freiheit und Demokratie geworden und sind es heute noch. Die ausgedehntesten und lebensfähigsten Markgenossenschaften aber bestanden im Gebirge, wo die gemeinsame Alp- und Viehwirtschaft ganze Talschaften umfasste.»

In der Schweiz waren für die allgemeine Verbreitung und Ausgestaltung der Genossenschaften die Allmenden zentral. Dies waren Flächen, die als Weide-, Wald- und Ödlandflächen allen offen stehen mussten. Die Gründung von Allmenden lief so ab, dass die Bewohner eines Siedlungsverbandes – eines oder mehrerer Dörfer, Weiler oder Hofgruppen – ein bestimmtes Gebiet zur kollektiven wirtschaftlichen Nutzung aussonderten. Dadurch entstand für eine bäuerliche Familie eine Dreiteilung: Neben der Ackerflur und dem Wohnbereich mit Hofstätten und Garten stellte die Allmende eine dritte Zone dar, die gemeinsam verwaltet wurde. Seit dem frühen Mittelalter versuchte der europäische Adel, die Allmendverfassung zu bestimmen oder mindestens zu beeinflussen. An vielen Orten, so auch auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, konnte sich das Genossenschaftsprinzip aber halten. Durch die Verschiedenheit der lokalen Verhältnisse entstand mit der Zeit eine Vielfalt von genossenschaftlichen Formen.
Für den geographischen Raum der heutigen Schweiz schufen die Allmenden im Mittelalter ein wichtiges Fundament gemeinschaftlichen Wirkens und sorgten mit ihren Regeln für Ordnung und Sicherheit. Neben den Allmenden, über die in der Regel alle Agrardörfer bis ins 18. Jahrhundert verfügten, entstanden besondere Genossenschaftsformen, die bestimmten weiteren, kommunalen Zwecken dienten.
Die Genossenschaften entwickelten auf diese Weise eine gemeinschaftsbildende Kraft, ohne die eine Willensnation Schweiz nicht hätte entstehen können. So übernahmen im Laufe des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit die Dorf- oder Talgenossenschaften nebst ihren traditionellen Bereichen noch weitere Aufgaben des Gemeinwerks. Solche waren die Bestellung von Weg und Steg oder etwa Wasserbau, Wasserversorgung, die Erstellung von kirchlichen Bauten oder auch die Fürsorgepflicht für die Armen. Damit entwickelten sich die Dorf- und Talgenossenschaften langsam zu Dorf- und Talgemeinden, dem Fundament des späteren Bundesstaates.
Von Wartburg schreibt zu diesem Vorgang:

«Dieser menschlichen Wirklichkeit, nicht einer abstrakten Idee, entstammt das Schweizer Freiheitsideal. […] So steht die schweizerische Staatsbildung im Gegensatz zu allen andern Staatsbildungen Europas. Es liegt ihr nicht der Wille zur politischen Einheit zugrunde, sondern im Gegenteil der Wille zur Erhaltung der ursprünglichen Eigenart und Freiheit der Glieder, somit zur Erhaltung der Mannigfaltigkeit. Ihre Einheit entsteht nicht durch übergeordnete Macht oder durch Gleichförmigkeit, sondern durch freie Zusammenarbeit an gemeinschaftlichen Aufgaben.»

Die Genossen wurden also zu Dorfbürgern und die bisherigen Dorfgenossenschaften entwickelten sich zu Dorfgemeinden. Dies führte bis 1798 zur Entwicklung der heute noch in vielen Kantonen bestehenden Bürgergemeinden.
Die Helvetik bewirkte dann die Teilung in Einwohner- und Bürgergemeinde. Die Aufteilung der Allmende intensivierte sich nun. Einzelne Allmenden gingen in Pacht- oder Privatbesitz über, andere beanspruchten Einwohnergemeinden, oder es bildeten sich privatrechtliche Korporationen. Die Korporationen und Bürgergemeinden sind in der Schweiz bis heute ein wichtiges Traditionsgut und stellen menschliche Verbindungen zu Geschichte und Kultur einer Gemeinde her.
Ohne die Tradition der Allmende und den beschriebenen «Genossenschaftsgeist» hätte in der Schweiz 1848 die Bundesstaatsgründung nicht stattgefunden. Dieser «Genossenschaftsgeist» wurzelt stets im kleinen Raum, eben in der kleinen übersichtlichen Raumeinheit der Gemeinde, die als Grundlage das Genossenschaftsprinzip besitzt. Nur in einer solchen Raumeinheit kann sich eine lebendige genossenschaftliche Selbstverwaltung entfalten. Diese historische Dimension der schweizerischen Gemeinden wird in laufenden Fusionsdiskussionen stets ignoriert oder in geschichtsloser Manier als weicher Faktor abgetan.
Aufbauend auf den beschriebenen schweizerischen Traditionen der Allmende und der Genossenschaften bildete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem mit der zunehmenden Industrialisierung, eine breite Genossenschaftsbewegung. Diese Bewegung – in der Schweiz wie in Europa – drang in neue, auch industrielle Bereiche vor, nicht aber ohne die genossenschaftlichen Grundprinzipien zu bewahren. So entstanden neben den landwirtschaftlichen Genossenschaften Produktions-, Konsum-, Wohnbau- sowie Kredit- und Spargenossenschaften.
Die Genossenschaft als Rechtsform wurde 1881 im schweizerischen Obligationenrecht festgeschrieben und erfreute sich zunehmender Beliebtheit. So stieg die Zahl der Genossenschaften in der Schweiz um die Jahrhundertwende massiv an (1883: 373; 1890: 1551; 1910: 7113). Der wichtigste Grund waren vor allem die wiederkehrenden Krisen der kapitalistischen Wirtschaft. Mit der grossen Krise der 1930er Jahre stiegen die Genossenschaftsgründungen nochmals kräftig an, bis sie im Jahre 1957 mit über 12 000 einen Höhepunkt erreichten. Knapp die Hälfte der Genossenschaften war landwirtschaftlicher Natur, neu dazu kamen Dienstleistungsbereiche, wie zum Beispiel die Elektrizitätswirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden besonders häufig Bau- und Wohngenossenschaften gegründet und gefördert.

Die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom untersuchte in den 1980er Jahren in einer weltweit angelegten grundlegenden Studie die «Verfassung der Allmende». Ausgehend von historischen Beispielen aus verschiedenen Kontinenten zeigte sie die Bedeutung des Genossenschaftsprinzips für die Gegenwart auf. Anhand der Allmende führt sie vor Augen, wie sich Menschen bei knappen, natürlichen Ressourcen organisieren, um gemeinschaftlich komplexe Probleme zu lösen. Ostrom kommt mit ihren umfassenden Studien zum Schluss, dass für eine gute Bewirtschaftung von lokalen Allmendressourcen in vielen Fällen eine Kooperation der unmittelbar Betroffenen besser ist als eine staatliche Kontrolle oder eine Privatisierung. Damit würdigt sie eindrücklich das genossenschaftliche Prinzip.
In der Schweiz geniesst dieses Prinzip nach wie vor grosses Vertrauen. Das zeigt die Tatsache, dass es immer noch über 12 000 Genossenschaften in der Schweiz gibt, Tendenz steigend. Der Ansatz der Genossenschaft muss wieder breiter diskutiert und an den Schulen und Hochschulen gelehrt werden. Ostrom fand Beispiele der Allmende als Genossenschaftsform überall auf der Welt. Dann muss es auch möglich sein, die gegenwärtige globale Wirtschaftskrise mit solchen naturrechtlich begründeten Lösungsvorschlägen anzugehen.    •

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