«Die negativen Folgen der Pisa-Rankings»

«Die negativen Folgen der Pisa-Rankings»

Offener Brief an Andreas Schleicher, OECD, Paris

km. Pisa steht seit mehr als 10 Jahren für den höchst erstaunlichen Versuch, die Schulsysteme in Europa und auch darüber hinausgehend nach den Grundsätzen eines gescheiterten US-amerikanischen Bildungssystems umzumodeln und mehr oder weniger gleichzuschalten. Ökonomismus, Messbarkeits- und Machbarkeitswahn sind drei wesentliche Kennzeichen der zugrundeliegenden Weltanschauung. Einheitliche und formalisierte Standards sowie Kompetenzorientierung sind zwei der Auswirkungen. Auch die Schweiz, das zeigte der umstrittene geplante Lehrplan 21, ist davon nicht verschont geblieben. Da lässt es aufhorchen, wenn die Kritik daran weltweit zunimmt und jetzt ein offener Brief geschrieben wurde, der dieses Mal eine gelungene trans­atlantische Zusammenarbeit signalisiert. Diese Zusammenarbeit steht mit der Veröffentlichung des folgenden Textes erst am Anfang und soll, so ist zu hören, weiter ausgebaut werden. Den Brief haben nun schon ein paar tausend Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Schulpraxis unterzeichnet, allein mehr als 2300 in Deutschland. Das ist sehr beachtlich.

Sehr geehrter Herr Dr. Schleicher,
wir wenden uns an Sie in Ihrer Funktion als verantwortlicher Direktor der OECD für das «Programme of International Student Assessment» (Pisa). Im dreizehnten Jahr nach seiner Einführung ist Pisa heute weltweit als Instrument bekannt, um Ranglisten von OECD-Mitgliedländern und Nicht-OECD-Staaten (mehr als 60 in der letzten Zählung) zu erstellen, und zwar auf Grund der Bewertung von Testleistungen von 15jährigen Schülerinnen und Schülern in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Die Pisa-Ergebnisse werden regelmässig von Regierungen, Bildungsministern sowie den Herausgebern von Tageszeitungen ängstlich erwartet und werden in zahllosen politischen Dokumenten als unhinterfragbare Autorität zitiert. Pisa hat die Bildungspraxis in vielen Ländern inzwischen tiefgreifend beeinflusst. Als Folge der Pisa-Tests reformieren Staaten ihre Bildungssysteme in der Hoffnung, ihr Abschneiden im Pisa-Ranking zu verbessern. In vielen Ländern führte der mangelnde Fortschritt bei den Pisa-Tests dazu, eine «Bildungskatastrophe» oder einen «Pisa-Schock» auszurufen, gefolgt von Rücktrittsforderungen und weitreichenden Reformen gemäss Pisa-Massstäben.
Wir sind offen gestanden tief besorgt über die negativen Folgen der Pisa-Rankings. Nachfolgend einige unserer Bedenken:

  • Obwohl standardisierte Tests schon länger in vielen Ländern (trotz gravierender Vorbehalte gegenüber deren Validität und Zuverlässigkeit) gebraucht werden, hat Pisa zu einer Eskalation solcher Tests beigetragen und zu einem dramatischen Anstieg in Gebrauch und Bedeutung quantitativer Messungen geführt. So berief man sich beispielsweise in den USA jüngst auf Pisa als massgebliche Rechtfertigung für das «Race-to-the-Top»-Programm. Dieses Programm hat die Bedeutung standardisierter Tests in der Evaluation von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und Schulleitern weiter verstärkt. Mit solchen Tests wird die Arbeit von Schülern, Lehrern und Schulleitern auf Grund von Testergebnissen bewertet und klassifiziert, die weithin als ungenau bekannt sind. (vgl. etwa den unerklärten Abstieg Finnlands vom ersten Platz der Pisa-Rangliste).
  • In der Bildungspolitik hat der 3jährige Testzyklus von Pisa die Aufmerksamkeit auf kurzfristige Massnahmen verlagert in der Absicht, schnell im Ranking aufzuholen, obwohl die Forschung zeigt, dass nachhaltige Veränderungen in der Bildungs­praxis nicht Jahre, sondern Jahrzehnte benötigen, um fruchtbar zu werden. So wissen wir zum Beispiel, dass der Status von Lehrern und das Ansehen des Lehrerberufs einen starken Einfluss auf die Unterrichtspraxis haben. Dieser Status ist aber von Kultur zu Kultur sehr verschieden und nicht leicht durch kurzfristige ­politische Massnahmen veränderbar.
  • Da Pisa nur einen engen Ausschnitt messbarer Aspekte von Bildung betont, lenken die Tests die Aufmerksamkeit von den weniger messbaren oder nicht messbaren Bildungs- und Erziehungszielen wie zum Beispiel der körperlichen, moralischen, staatsbürgerlichen und künstlerischen Entwicklung ab. Dadurch wird die öffentliche Vorstellung von dem, was Bildung ist und sein soll, in gefährlicher Weise verengt.
  • Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung ist die OECD naturgemäss auf die ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen fokussiert. Aber die Vorbereitung auf einträgliche Arbeit kann nicht das einzige, ja nicht einmal das Hauptziel öffentlicher Bildung und Erziehung sein. Unser Schulwesen muss Schülerinnen und Schüler auch auf die Mitwirkung an der demokratischen Selbstbestimmung, auf moralisches Handeln und auf ein Leben in persönlicher Entwicklung, Reifung und Wohlbefinden vorbereiten.
  • Im Gegensatz zu Organisationen der Vereinten Nationen (UN) wie Unesco oder Unicef, die ein klares und legitimes Mandat im Bildungsbereich haben, verfügt die OECD nicht über ein solches Mandat. Auch gibt es derzeit keine Mechanismen, die eine wirkungsvolle demokratische Teilhabe an deren Entscheidungsprozessen zu Bildungsfragen ermöglichen.
  • Um Pisa und eine grosse Zahl daran anschliessender Massnahmen durchzuführen, ist die OECD «Public Private Partnerships» und Allianzen mit multinationalen, profitorientierten Unternehmen eingegangen, die bereitstehen, um aus jedem von Pisa identifizierten – realen oder vermeintlichen – Bildungsdefizit Profit zu schlagen. Einige dieser Firmen verdienen an den Bildungsdienstleistungen, die sie für öffentliche Schulen und Schulbezirke bereitstellen. Diese Firmen verfolgen unter anderem auch Pläne, eine profitorientierte Grundschulbildung in Afrika zu entwickeln, wo die OECD derzeit plant, Pisa einzuführen.
  • Schliesslich und am wichtigsten: Das neue Pisa-Regime mit seinen kontinuierlichen globalen Testzyklen schadet unseren Kindern und macht unsere Klassenzimmer bildungsärmer durch gehäufte Anwendung von Multiple-Choice-Testbatterien, vorgefertigten (und von Privatfirmen konzipierten) Unterrichtsmodulen, während sich die Autonomie unserer Lehrer weiter verringert. Auf diese Weise hat Pisa den ohnehin schon hohen Grad an Stress an unseren Schulen weiter erhöht und gefährdet das Wohlbefinden von Schülern und Lehrern.

Diese Entwicklungen stehen in offenem Widerspruch zu weithin anerkannten Prinzipien guter Bildungspolitik und demokratischer Praxis:

  • Keine tiefgreifende Reform sollte auf nur einem einzigen, beschränkten Qualitätsmassstab beruhen.
  • Keine tiefgreifende Reform sollte die wichtige Rolle von ausserschulischen Faktoren ignorieren, wozu insbesondere die sozioökonomische Ungleichheit einer Gesellschaft gehört. In vielen Ländern hat die soziale Ungleichheit über die letzten 15 Jahre dramatisch zugenommen, was die sich ausweitende Bildungskluft zwischen Reich und Arm erklärt. Diesem sozialpolitischen Problem kommen auch die ausgeklügeltsten Bildungsreformen nicht bei.
  • Eine Organisation wie die OECD – wie jede Organisation, die das Leben unserer Gesellschaften tiefgreifend beeinflusst – sollte von den Mitgliedern dieser Gesellschaften demokratisch zur Rechenschaft gezogen werden können.

Doch wir schreiben nicht nur, um Mängel und Probleme aufzuzeigen. Wir möchten ebenso konstruktive Ideen und Vorschläge anbieten, die dazu beitragen können, die oben angeführten Probleme zu verringern. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nennen wir die folgenden:

  • Alternativen zu Ranglisten: Es sind aussagekräftigere und weniger sensationsheischende Wege für Bildungsvergleiche zu finden. Es macht zum Beispiel weder pädagogischen noch politischen Sinn, Entwicklungsländer, in denen 15jährige regelmässig zur Kinderarbeit verpflichtet werden, mit Ländern der Ersten Welt zu vergleichen. Zudem setzt dies die OECD dem Vorwurf des Bildungskolonialismus aus.
  • Partizipation aller relevanten Akteure: Bis jetzt haben Psychometriker, Statistiker und Ökonomen den grössten Einfluss auf Testkonzeption und -durchführung. Ihnen steht sicher ein Platz am Tisch zu. Dies gilt aber auch für Eltern, Pädagogen, Vertreter der Bildungsverwaltung, Studenten und Schüler ebenso wie für Wissenschaftler aus Disziplinen wie der Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Philosophie, Linguistik wie auch der Kunst und den Geisteswissenschaften. Woran und wie wir die Bildung von 15jährigen Schülern bemessen, sollte Gegenstand von Diskussionen sein, bei denen alle diese Gruppen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene einbezogen sind.
  • Einbeziehung der vollen Bandbreite nationaler und internationaler Organisationen: Insbesondere Organisationen, deren Auftrag über den ökonomischen Aspekt öffentlicher Bildung hinausgeht und die sich mit Gesundheit, umfassender Entwicklung, Wohlbefinden und Glück der Schüler und Lehrer beschäftigen. Das würde sowohl die oben erwähnten Organisationen der Vereinten Nationen als auch – um nur einige zu nennen – Verbände von Lehrern, Eltern und Schulverwaltungen miteinschliessen.
  • Kostentransparenz: Die direkten und indirekten Kosten der Durchführung von Pisa sollten veröffentlicht werden, so dass die Steuerzahler der Mitgliedstaaten alternative Verwendungen der Millionenausgaben für diese Tests erwägen und bestimmen können, ob sie weiterhin an diesen Tests teilnehmen wollen.
  • Unabhängige Aufsicht und Überwachung: Unabhängige internationale Beobachter­teams sollten die Durchführung von Pisa von der Konzeption bis zur Umsetzung überwachen, so dass häufig geäusserte Kritik bezüglich Testformat, Statistik- und Auswertungsmethoden angemessen diskutiert werden kann und Vorwürfe von Einseitigkeit und unfairen Vergleichen geprüft werden können.
  • Rechenschaftslegung und Interessenkonflikte: Es sollte detailliert Rechenschaft über die Rolle privater, profitorientierter Unternehmen in der Vorbereitung, Ausführung und Nachfolge von Pisa abgelegt werden, um scheinbare oder tatsächliche Interessenkonflikte zu vermeiden.
  • Besinnungspause: Die OECD-Testmaschinerie sollte heruntergefahren werden. Um Zeit für die Diskussion der hier erwähnten Aspekte auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zu gewinnen, wäre es nützlich, den nächsten Pisa-Zyklus auszusetzen. Das würde Zeit verschaffen, um das Gelernte, das aus den vorgeschlagenen Überlegungen hervorgeht, zu verarbeiten.

Wir zweifeln nicht, dass die Pisa-Experten der OECD den aufrichtigen Wunsch haben, Bildung zu verbessern. Aber wir können nicht verstehen, wie die OECD zum globalen Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt werden konnte. Die enge Ausrichtung der OECD auf standardisierte Tests droht Lernen in Pedanterie zu verwandeln und Freude am Lernen zu beenden. Durch den von Pisa stimulierten internationalen Wettlauf um Testergebnisse hat die OECD die Macht erhalten, weltweit Bildungspolitik zu bestimmen, ohne jede Debatte über die Notwendigkeit oder Begrenztheit der OECD-Ziele. Durch das Messen einer grossen Vielfalt von Bildungstraditionen und -kulturen mit einem engen und einseitigen Massstab kann am Ende unseren Schulen und unseren Schülern irreparabler Schaden zugefügt werden.    

Heinz-Dieter Meyer, Professor,
State University of New York
Katie Zahedi, Schulleiterin,
Linden Avenue Middle School,
Red Hook, New York

Quelle: <link http: bildung-wissen.eu wp-content uploads offener-brief-schleicher-autoriserte-fassung.pdf external-link-new-window external link in new>bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2014/05/offener-brief-schleicher-autoriserte-fassung.pdf  


Erstunterzeichner am 4. Mai 2014: Andrews, Paul, Professor of Mathematics Education, Stockholm University, Atkinson, Lori, New York State Allies for Public Education, Baldermann, Ingo, Professor of Protestant Theology and Didactics, Universität Siegen, Germany, Ball, Stephen J., Karl Mannheim Professor of Sociology of Education, Institute of Education, University of London, Barber, Melissa, Parents Against High Stakes Testing, Beckett, Lori, Winifred Mercier, Professor of Teacher Education, Leeds Metropolitan University, Bender, Peter, Professor, Fakulty of Elektrotechnik, Informatik und Mathematik, Universität Paderborn, Germany, Berardi, Jillaine, Linden Avenue Middle School, Assistant Principal, Berliner, David, Regents Professor of Education at Arizona State University, Bloom, Elizabeth, EdD, Associate Professor of Education, Hartwick College, Boland, Neil, Senior Lecturer, AUT University, Auckland, New Zealand, Boudet, Danielle, Oneonta Area for Public Education, Burchardt, Matthias, Academic Council; Society for Education and Knowledge, Vice- Chair, Cologne University, Germany, Burris, Carol, Principal and former Teacher of the Year, Co-Founder of New York Principals., Cauthen, Nancy, Ph.D., Change the Stakes, NYS Allies for Public Education Cerrone, Chris, Testing Hurts Kids; NYS Allies for Public Education, Ciaran, Sugrue, Professor, Head of School, School of Education, University College Dublin, Conneely, Claire, Programmes Director, Bridge21, Trinity College Dublin. 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