von Dr. Alfred Burger, Schulleiter
An unserer Schule werden in letzter Zeit häufiger Kinder angemeldet, die trotz guter Intelligenz erhebliche stoffliche Rückstände haben. Es fehlt ihnen an Grundfertigkeiten in Lesen, Schreiben und Rechnen. Es fehlt ihnen auch die Zuversicht beim Lernen, und oft weichen sie den gestellten Anforderungen aus. Manche von ihnen haben schon verschiedene Therapien und Unterstützungsangebote wie Logopädie, Psychomotorik, Ergotherapie erhalten, ohne dabei wesentliche Fortschritte gemacht zu haben. Heute ist es üblich geworden, solche Kinder nach ausführlichen Abklärungen mit Diagnosen zu belegen. Teilweise werden solche Diagnosen wegen zusätzlicher Gelder gemacht, die Schulen für diese Kinder bekommen. Sie haben aber auch damit zu tun, dass Psychologie und Pädagogik sich heute auf neue amerikanische Klassifizierungssysteme stützen.1 Verhaltensweisen von Kindern, die von einer vorgegebenen Norm abweichen, bekommen einen Namen und eine Nummer und werden als hirnorganische Störungen mit Medikamenten behandelt, die tiefgreifende Auswirkungen auf das sich entwickelnde Hirn haben. Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte man nur in seltenen Ausnahmefällen Psychopharmaka an Kinder verabreicht. Die europäische Tradition in Psychologie und Pädagogik beruht nämlich auf einem personalen Menschenbild, das Ursachen von Entwicklungsstörungen bei Kindern in zwischenmenschlichen Problemen sieht, die mit der Verbesserung von seelischen Abläufen mit pädagogischen und psychologischen Mitteln nachhaltig behoben werden können. Ganz im Gegensatz dazu steht das utilitaristische, ökonomische Menschenbild, das aus dem angloamerikanischen Raum heraus seit den 1980er Jahren die europäische Tradition verdrängt und Kinder mit medikamentösen Eingriffen zum «Funktionieren» bringen will. Das hat gravierende Konsequenzen für den Lebensweg unserer Kinder und die Arbeit in den Schulen. In Zeit-Fragen Nr. 31/32 vom 15.10.2013 habe ich am Beispiel Alexanders dargestellt, wie wir vor dem Hintergrund eines personalen Menschenbildes pädagogisch arbeiten: Das Kind wird als ganze Persönlichkeit in seinem Umfeld erfasst und seine «Störungen» als Teil seiner Persönlichkeitsentwicklung gesehen. Daraus ergeben sich die Ansatzpunkte für eine wirkungsvolle pädagogische Arbeit.2 Diesen Faden möchte ich im folgenden Artikel wieder aufnehmen.
Die europäische Pädagogik hat eine lange Tradition und ist in einem personalen Menschenbild verankert. Wesentliche Impulse dafür gab der Wiener Arzt und Psychologe Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie (siehe Kasten). Im Unterschied zu anderen tiefenpsychologischen Schulen verband Alfred Adler Psychologie und Pädagogik.3 Nach Adler muss die Schule die Arbeit des Elternhauses fortsetzen. Dabei sollte sie die Fehler ausgleichen, die Eltern wegen der Komplexität des Erziehungsproblems machen. Zu seiner Zeit litten die Kinder oft unter einer strengen oder vernachlässigenden Erziehung, waren verängstigt und misstrauisch. Das kommt in unserer Zeit nur noch selten vor. Heute sind die im Elternhaus begangenen Fehler für die Kinder aber nicht weniger gravierend. Auf Grund falscher Theorien leiden viele Kinder an den Folgen einer mehr oder weniger ausgeprägten Laisser-faire-Erziehung und an Verwöhnung und Inkonsequenz. Viele Eltern sind verunsichert und getrauen sich gar nicht mehr zu erziehen, nur schon der Begriff Erziehung stellt Eltern und Lehrer unter den Generalverdacht, «autoritär» zu sein. Die Konsequenzen bleiben nicht aus: Die Kinder sind in ihrer seelischen und sozialen Entwicklung nur ungenügend auf die Anforderungen des Lebens vorbereitet, bringen die nötige Ausdauer beim Lernen nur eingeschränkt auf und können mit Misserfolgen schlecht umgehen. Die starke Zunahme von Kindern mit Schwierigkeiten hat wesentlich damit zu tun, dass wir Erwachsenen ihnen alles abnehmen und erleichtern wollen. Wer den Kindern immer alle Steine aus dem Wege räumen will, bereitet sie nicht auf Enttäuschungen und Misserfolgserlebnisse vor, die alle Menschen in ihrem Leben einmal werden bewältigen müssen. In der Regel zeigt es sich zuerst in der Schule, ob ein Kind genügend für das Leben vorbereitet ist. Es muss sich den Anforderungen des Lernens stellen, was ein Kind normalerweise auch mit natürlicher Neugier und Wissensdurst macht. Dazu muss der Lehrer mit den Kindern in Beziehung treten und sie sorgfältig anleiten. Allerdings ist seit längerem ein Paradigmenwechsel vom angeleiteten Unterricht zum sogenannt selbstorganisierten Lernen zu beobachten (siehe Kasten S. 8). Die Kinder müssen ihren eigenen Lernweg finden. Während einige wenige von ihrem Zuhause gut geförderte Kinder sich damit zurechtfinden, resignieren viele, arbeiten unter dem Niveau ihrer Fähigkeiten, verlieren sich in unproduktivem Aktivismus, verweigern sich oder versinken in Mutlosigkeit. Hier setzt oft das Räderwerk der Abklärungen ein. Statt mit pädagogischen Mitteln die Mängel auszugleichen, werden Diagnosen gegeben und ein teurer Helferapparat aufgebaut, der solche Kinder geradezu zu Schulversagern macht oder sie gar in eine Sonderbeschulung treibt. Diese heute weitverbreitete Vorgehensweise ist Ausdruck des utilitaristischen Menschenbildes, das dem einzelnen Kind nicht mehr zu einer umfassenden Bildung verhelfen, sondern es nur noch in seiner Art funktionsfähig machen will. Das steht im krassen Gegensatz zu unserem personalen Menschenbild, das der europäischen Bildungstradition eigen ist.
Alfred Adler und mit ihm eine ganze Reihe von europäischen Pädagogen haben dem Lehrer eine ungemein wichtige Rolle als Erzieher und Wissensvermittler zugedacht. Auch das steht im Gegensatz zur angloamerikanischen Auffassung des Lehrers als Lernbegleiter oder Coach, der den Kindern Arbeitsaufträge erteilt, die sie dann weitgehend selbständig im individualisierenden Unterricht bearbeiten müssen. Die Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen ist entsprechend aufgebaut, und die jungen Studenten werden so ausgebildet, dass sie die Kinder nicht mehr anleiten und erziehen. Jedes Kind soll gemäss der herrschenden Theorie seinen Weg eigenständig finden. Wer den Leistungsauftrag nicht erfüllt, wird lernzielbefreit. Das ist eine Kapitulation der Pädagogik! Hätten doch die Kinder gerade heute Lehrerinnen und Lehrer dringend nötig, die anleiten, ermutigen, fordern und den Schulstoff strukturieren.
Ich denke an ein Mädchen, das die Eltern schon während des zweiten Schuljahres zu uns gebracht hatten. Nachdem die Lehrerin ihnen lange nichts über den Stand ihrer Tochter gesagt hatte, lud sie die Eltern ein und eröffnete ihnen, dass ihre Tochter eine Abklärung benötige und der schulische Heilpädagoge eingeschaltet werden müsse. Maja könne keine Schlangensätze lesen (das heisst ohne Abstand aneinandergereihte Wörter), sie könne sich zu wenig konzentrieren und sei nicht gut in Deutsch. Sie schreibe zu wenig, wenn sie nicht speziell dazu aufgefordert werde. Die Eltern waren sehr erstaunt, kannten sie ihre Tochter als sehr redegewandt und aufmerksam. Obwohl sie gerne zur Schule ging, hatte Maja daheim praktisch nichts von der Schule erzählt. Verwandte empfanden sie als zunehmend apathisch. Darum nahmen die Eltern ihre Tochter von der Schule und brachten sie zu uns. Es stellte sich bald heraus, dass sie sich im individualisierten, selbstgesteuerten Unterricht und ohne direkte Ansprache durch die Lehrerin in der Schule verloren gefühlt hatte. Sie habe oft geträumt und nichts gearbeitet, ohne dass die Lehrerin dazu etwas gesagt hätte, meinte sie. Es zeigte sich auch, dass die Lehrerin viele Arbeiten gar nicht mehr korrigiert hatte und auch Falsches hatte gelten lassen. Wenn die Eltern die Tochter darauf ansprachen, meinte sie, die Lehrerin hätte es als richtig abgehakt, und sie bleibe dabei. Im Gegensatz dazu leiteten wir sie genau an und sagten ihr auch, dass sie mehr arbeiten müsse, wenn sie die Rückstände aufholen wolle. Darauf begann sie, sich mehr Mühe zu geben, und arbeitete bald sorgfältiger. Sie begann wieder zu erzählen, was sie alles in der Schule gelernt hatte. Die Eltern erkannten ihr Kind nicht wieder, so hatte sich das alles geändert. Diesem Mädchen hatten die direkte Ansprache und die Anforderung durch die Lehrerin gefehlt. Es hatte schon begonnen, sich auf einem Niveau einzurichten, das keinesfalls seinen intellektuellen Fähigkeiten entsprochen hatte. Mit einer Abklärung und dem Einschalten des Heilpädagogen wäre ein ganz falscher Weg eingeschlagen worden, und das hätte eine schwere Kränkung für das Kind bedeutet.
Abklärungen bedeuten zumeist einen Knick in der Schullaufbahn eines Kindes, die fortan bestimmt ist durch schulische Heilpädagogen, Lernzielbefreiung, Legasthenie- oder Diskalkulie-Unterricht usw. Diagnosen aus solchen Abklärungen lauten dann etwa: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, feinmotorische Störung, Konzentrationsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Merkfähigkeitsschwäche, autistische Störung usw. Da gibt es Lehrer- und Elternfragebogen, in denen man mit dem Setzen von Kreuzchen die Grundlagen für Diagnosen bereitstellt, zum Beispiel ob ein Kind an einer speziellen Symptomatik wie beispielsweise an ADHS leidet. Beim Durcharbeiten solcher Fragebogen fällt auf, dass diese Kriterien Verhaltensweisen umfassen, die vielen Kindern eigen sind und die über eine kürzere oder längere Zeit die Entwicklung eines Kindes begleiten können. Daraus dann aber eine psychiatrische Störung abzuleiten, ist für ein Kind folgenschwer. In nicht wenigen Fällen wird so ein ganzer Rattenschwanz von Abklärungen eingeleitet, der mit folgenschweren Diagnosen endet. Dabei wäre es Aufgabe des Lehrers, mit pädagogischen Mitteln zu helfen und dem Kind den Anschluss an die Klasse wieder zu ermöglichen.
Man kann sich leicht vorstellen, dass sich ein Lehrer mit einem solchen Fragebogen im Hinterkopf schnell auf etwas «einschiesst» und alle weiteren Beobachtungen als Bestätigung einer Störung sieht. Das ist auch niemandem, der so instruiert ist, zu verargen, man muss aber von einer gewissen Betriebsblindheit sprechen. So fiel niemandem auf, dass Majas Störungen nur sehr einseitig auftauchten. Während sie im Unterricht sichtbar waren, merkte man beim Legospielen nichts davon. Das wird dann als Teilleistungsstörung gesehen. In Wirklichkeit umschreiben solche Störungen lediglich momentane Symptome in speziellen Situationen und sind keine angeborenen Defizite. Der Mensch ist eine Einheit, und seine Gehirnaktivitäten sind beim Spiel mit Legosteinen nicht anders als in der Mathematik. Die neurologische Forschung gibt zwar vor, solche Unterschiede nachweisen zu können. Tatsächlich sind das alles Spekulationen und unbewiesene Annahmen, die durch neuere Ansätze in der Hirnforschung auch widerlegt sind.4 Wie absurd diese Spekulationen sind, zeigt die enorme Zunahme dieser Erscheinungen, als wenn sich in letzter Zeit die genetische Ausrüstung der Kinder geändert hätte! Interessant dabei ist, dass in einzelnen Ländern Europas solche Diagnosen kaum gestellt werden, während sie sich in anderen Ländern – wie auch in der Schweiz – epidemisch ausbreiten.
Vor dem Hintergrund eines personalen Menschenbildes sind die obigen Diagnosen total verkürzt, denn Lernstörungen erweisen sich bei näherem Hinsehen in den allermeisten Fällen als Beziehungsstörungen.
Heute schwirrt eine Vielzahl von «Spezialisten» umher, die darauf trainiert sind, Kinder mit Auffälligkeiten mit psychiatrischen Manualen wie ICD und DSM herauszufiltern und zu klassifizieren. Dabei gehen sie von der Annahme aus, sämtliche Unregelmässigkeiten bei einem Kind hätten hirnorganische Ursachen. Wie Felix Hasler in seinem Buch «Neuromythologie» zeigt, sind das alles unbewiesene Spekulationen, mit denen aber die Pharmaindustrie und der ganze schulische Hilfsapparat arbeiten. Und sehr zum Schaden vieler Kinder. Dahinter steht ein sehr einfaches Bild des Menschen als einer Art Maschine aus einem System von Regelkreisen. Die Seele des Menschen und die seelischen Abläufe sind in Wirklichkeit sehr kompliziert. Um sie zu verstehen, braucht es neben sehr viel Wissen auch ein geschultes Einfühlungsvermögen. Auf diesem Gebiet hat die bewährte personale pädagogische und psychologische Tradition grosse Erfolge aufzuweisen. Sie wurde völlig ins Abseits gedrängt und ist in Vergessenheit geraten. Es wäre wichtig, sich ihrer wieder zu erinnern und an sie anzuknüpfen.
Das zeigte sich auch in der Arbeit mit Pedro, einem anderen Buben, der im Laufe der zweiten Klasse zu uns gekommen war. Er hatte sich in der Schule gar nicht zurechtgefunden, war immer weniger gerne hingegangen und zunehmend depressiv geworden, wie uns die Eltern schilderten. Eine sorgfältige Analyse seiner Lebensgeschichte und seines familiären Umfeldes erhellte seine bisherige Lernbiografie und gab uns den Schlüssel für die Arbeit mit ihm. So war Pedro in der ersten Klasse von Anbeginn unter starken Druck geraten. Er, der zu Hause eine jüngere Schwester hatte, die ihn bereits überholt hatte, erlebte auch in der Schule überall Kinder, die seiner Meinung nach alles besser machten. Er gab schnell auf und verlor die Freude an der Schule. Wenn er alleine vor seinen Wochenplanaufgaben sass, fühlte er sich ohne Verbindung zur Lehrerin und zu den Mitschülern verloren und brachte nichts zustande. Dazu kam der völlig unsystematische Aufbau des Stoffes – wie heute von den Reformern verlangt und in vielen neuen Schulbüchern schon umgesetzt. Da werden bewussst Rechnungen gestellt, die viele Kinder gar nicht lösen können (man will schauen, wie sie damit umgehen), da werden viele Buchstaben aufs Mal eingeführt, da wird kein Zehnerübergang mehr vermittelt. Für Rechnungen über zehn müssen die Kinder Fünferbündel und Einer machen und diese dann zusammenzählen oder eigene Wege entwickeln, wie sie zu einem Resultat kommen. Genauso lernen sie schreiben, jeder soll seinen Weg suchen, Buchstaben zu schreiben, und das Schreiben in Häuschen oder Linien sei per se ein Zwang, weshalb man die Kinder schreiben lässt, wie es ihnen gefällt. Man kann sich vorstellen, wie das alles herauskommt. Einige wenige überstehen das mehr oder weniger unbeschadet, viele bleiben auf der Strecke – so wie Pedro.
In der Arbeit mit Pedro stellte sich bald einmal heraus, dass er zwar sehr intelligent ist, sich aber selber unter grossen Druck setzt, keine Fehler zu machen und alles möglichst schnell zu erledigen. Seine Schrift war unleserlich, die einzelnen Buchstaben waren nicht richtig geübt, für ihn hatten die Linien keine Bedeutung. Nachdem ihm die Lehrerin bei uns gezeigt hatte, wofür die Linien tatsächlich da sind, begann er bald leserlicher und schöner zu schreiben und setzte alles ein, damit es möglichst schön aussah. Lesen konnte er auch nicht richtig, da ihm erstens das korrekte Lautieren nicht beigebracht worden war, und weil er zweitens sich keine Zeit lassen konnte, Buchstaben um Buchstaben zu lesen und diese miteinander zu verbinden. Kaum hatte er beim ersten angesetzt, wanderten seine Augen schon zum letzten des Wortes, das Dazwischenliegende versuchte er zu erraten.
Eine solche Haltung, immer schnell zu sein, die sich aus dem beziehungsmässigen Zusammenspiel mit den Eltern und den Geschwistern ergeben hat, kann durch einen pädagogisch ausgebildeten Lehrer leicht korrigiert werden. Wir zeigten Pedro, wie man schrittweise lernt, dass man ein Arbeitsblatt nicht aufs Mal lösen muss, sondern eine Aufgabe um die andere macht usw. Wir ermutigten und leiteten ihn an und überzeugten ihn, dass auch er den Anforderungen gewachsen ist. Sorgfältig angeleitet durch die Lehrerin begann Pedro seine Mutlosigkeit und Fehlhaltungen beim Lernen bald aufzugeben. Das Vorbild durch die Lehrerin oder den Lehrer spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Das Kind rankt sich an ihm empor und wird zunehmend selbständig und selbstbewusster. Die Eltern merkten eine deutliche Verbesserung in der Stimmung ihres Sohnes. Er steht nun jeden Tag gerne auf und freut sich auf die Schule. Er zeigt den Eltern, was er in der Schule gemacht hat und ist stolz auf gute Leistungen. Die Lehrerin und die Mitschüler freuen sich mit ihm über seine Fortschritte.
Wie blutleer erscheint daneben ein Lehrer als «Lernbegleiter», der in erster Linie mit seinen Wochenplänen und dem Abhaken von irgendwelchen erfüllten oder nicht erfüllten «Kompetenzen» beschäftigt ist! Mit dem schönen Lehrerberuf hat das nicht mehr viel zu tun. Leider werden den Studenten heute an den Pädagogischen Hochschulen die einfachsten pädagogischen und didaktischen Zusammenhänge nicht mehr beigebracht. Die «Akademisierung» des Lehrerberufs schreitet unaufhaltsam voran, was uns eine Generation von Lehrerinnen und Lehrern bescheren wird, die auf die tatsächliche Situation mit den Kindern in der Schule nicht mehr vorbereitet ist.
Samuel, der schon von der ersten Klasse an wöchentlich während zweier Stunden von einem Heilpädagogen begleitet worden war, kam beim Lernen einfach nicht voran. Er war ein sehr fröhlicher Knabe, der gerne zur Schule ging und viel Kontakt mit seinen Klassenkameraden hatte. Auch bei ihm zeigte die Lebensgeschichte einige interessante Hinweise zu seinen Schulschwierigkeiten. Sein älterer Bruder wollte ins Gymnasium, beide Eltern waren Akademiker, und Samuel galt als völliger Versager, der nach drei Schuljahren in Rechnen und Sprache auf dem Niveau anfangs der zweiten Klasse stehengeblieben war. Die Eltern waren überzeugt, und das erst recht nach den Abklärungen durch verschiedene Psychologen, einen Sohn mit einem Gendefekt zu haben. Das wirkte sich so aus, dass sie ihm noch weniger zutrauten. Die Mutter begleitete ihn als Viertklässler jeden Tag an der Hand in die Schule und holte ihn auch ab, – obwohl er lediglich einen halben Kilometer vom Schulhaus entfernt wohnte. Für die kleinste Leistung erhielt er von zu Hause Lob. Nachdem Samuel bei uns in eine kleine Klasse integriert worden war, besserten sich seine Leistungen kontinuierlich. Wir erkannten seine Intelligenz, die nicht zum Tragen kommen konnte, weil kaum jemand von ihm je etwas gefordert hatte. Er traute sich wenig zu und wollte immer Rückversicherung bei den Lehrern, ob ein Ergebnis auch stimme.
Jedes Kind hat positive Seiten, ein geschickter Pädagoge sieht das und verhilft dem Kind zu Erfolgserlebnissen. Mit der Zeit getraut es sich so auch an Gebiete heran, die es sich bisher nicht zugetraut hat. Nachdem wir Samuel zu einigen Erfolgserlebnissen hatten verhelfen können, begannen wir, Situationen mit ihm durchzuarbeiten, in denen er durch eigenes Überlegen zum Erfolg kommen konnte. Als er im Werkunterricht viele Papierrollen herstellen und diese mit einem Gummiband umwickeln sollte, schlug ihm die Lehrerin vor, die Gummibänder zur Zeitersparnis um das Armgelenk zu wickeln und bei Bedarf abzustreifen. Kaum hatte er die erste geformt, lief er gleich zur Lehrerin und fragte, wo denn die Gummibänder seien. Diese antwortete nur, er wisse das, was dazu führte, dass er seinen Verstand einschaltete und sich an die Bänder um das Handgelenk erinnerte. Solch kleine Erlebnisse sind wichtig, damit sich das Zutrauen zu seiner eigenen Denkfähigkeit entwickelt. Auch die Eltern konnten überzeugt werden, ihm mehr abzuverlangen. So fasste er im Laufe eines Jahres mehr Mut und Selbstvertrauen. Er denkt heute, wenn er sich mit anderen vergleicht, nicht mehr direkt, er könne es weniger gut. Er nimmt die Konkurrenz auf und versucht, mit den anderen mitzuhalten.
Andere Kinder wiederum können aus solchen Gefühlen der Entmutigung heraus zu Verweigerern werden, die nur noch schwer für das Lernen zu gewinnen sind. Sie weichen aus, wo sie nur können und stellen die Lehrerinnen und Lehrer vor schwierige Situationen. Das erfordert wieder eine ganz andere Herangehensweise.
So hat eine Lehrerin oder ein Lehrer die verschiedensten Kinder vor sich, die aus ganz unterschiedlichen Gründen schlecht oder auch sehr gut lernen können. Möglichst vielen Kindern zu Erfolgen verhelfen zu können, ist das Schöne am Lehrerberuf. Was gibt es Befriedigenderes, als die verschiedenen Kinder individuell in ihrer Persönlichkeit zu erfassen und sie in einer tragfähigen Lehrer-Schüler-Beziehung anzuleiten und zu Erfolgen zu führen? Darum gehört der Lehrerberuf, so wie ich ihn verstehe, zu den schönsten Berufen überhaupt. Tragen wir dem Beruf Sorge, damit er nicht zu einem Verwaltungsberuf reduziert wird, in dem man vorgegebene Kompetenzen wie in einem Regelsystem als Input eingibt und den Output mittels vorgegebener Fragebogen prüft und abhakt. Dazu könnte man auch einen Roboter oder einen Computer vor die Klasse stellen.
Eine solche Entwicklung der Schule wäre für unsere zukünftige Generation, für den Bestand unserer direkten Demokratie und den Erhalt einer tragfähigen Wirtschaft eine fatale Entwicklung. Erinnern wir uns: Vor 20 Jahren musste der englische Erziehungsminister feststellen, dass ein beträchtlicher Teil der englischen Jugend nach Abschluss der Schule «unemployable» sei, das heisst nicht anstellbar. Heute sind wir daran, vor allem mit dem Lehrplan 21, wesentliche Inhalte des angelsächsischen Unterrichtssystems unbesehen zu übernehmen. Sollten sich die Eltern nicht beginnen zu wehren, solange noch Zeit ist? •
1 Vgl. Zeit-Fragen Nr. 35/36 vom 19.11.2013
2 Vgl. Zeit-Fragen Nr. 31/32 vom 15.10.2013
3 Adler und seine Schüler entwickelten Versuchsschulen und ein Netz von Erziehungsberatungsstellen. Vgl. Handelbauer. Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers. Wien/Salzburg 1984, S. 167–192
4 Vgl. Hasler, F. Neuromythologie, Bielefeld 2013,
S. 181–176
ab. Von Alfred Adler begründet. Sie versteht den Menschen als unteilbare Persönlichkeit. Adler betrachtet die Psyche des Menschen als Organ, das sich im Sinne eines Überlebensinstrumentes in einem komplizierten Wechselprozess zwischen Kind und Beziehungspersonen schon in den ersten Lebensjahren entwickelt und als Charakter eine Antwort auf die jeweilige Lebenssituation jedes Menschen gibt. Der Mensch behält den Charakter als zielgerichtete Einheit mehr oder weniger für sein ganzes Leben. Für die Bewältigung der Lebensaufgaben Liebe, Gemeinschaft und Arbeit betrachtete Alfred Adler die Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl als vordringliche Aufgabe. Er und seine Schüler sahen in der Schule den geeigneten Ort, das Gemeinschaftsgefühl der Kinder zu schulen.
ab. Das sind Klassifizierungssysteme für psychiatrische Erkrankungen. ICD und ICF-CY wurden von der WHO herausgegeben, DSM ist amerikanisch. Mit der Einführung von ICD 10 wurde ein Paradigmenwechsel vollzogen – weg vom personalen Menschenbild, das die Ursache von Störungen im zwischenmenschlichen Bereich sieht, hin zur mechanistischen, amerikanischen Betrachtungsweise, die alle Störungen im hirnfunktionalen Bereich sieht. Mit dem ICF-CY wurde nun ein Manual für Störungen bei Kindern und Jugendlichen geschaffen. Diese Manuale umfassen eine Reihe von Symptomen, die dann bei entsprechender Häufigkeit eine Diagnose ergeben.
ab. Hinter dieser Theorie steht die Theorie des Konstruktivismus’, der auf der Annahme fusst, dass jeder Mensch sich eine eigene Wirklichkeit konstruiert. Darum soll sich jeder Mensch sein Wissen auf seine eigene individuelle Weise aneignen. Ein Ausfluss dieser Theorie ist der individualisierende Unterricht, in dem jedes Kind entscheidet, was, wann, ob und wie es etwas lernt. Der Lehrer ist dabei nur noch Lernbegleiter, der die Materialien bereitstellt. In diesem selbstgesteuerten Unterricht entscheidet das Kind von Anfang an selbst, wie es sein Lernen gestaltet. Es versteht sich von selbst, dass die meisten Kinder bei diesem «Unterricht» vereinzeln, entmutigt werden und kein Selbstbewusstsein entwickeln. Sie werden so vorbereitet, als unreflektierendes Rädchen in einem Wirtschaftssystem zu funktionieren. Von individuell kann keine Rede sein, eher von Gleichschaltung. Tatsächlich ist die Theorie des Konstruktivismus auch eine der Grundlagen der Theorie der Globalisierung Milton Friedmans. In seinem System soll der Staat keine Kontrolle über die Wirtschaft mehr nehmen, der freie Markt regelt alles, und nur einige wenige Grundbedürfnisse der Menschen werden vom Staat garantiert. Sonst ist es jedem selbst überlassen, aus seinem Leben zu machen, was er will. Genauso kann auch in der Schule jeder Schüler von der ersten Klasse an selber entscheiden, was er erreichen will. Die Schule stellt ihm dazu lediglich die Materialien zur Verfügung.
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