von Urs Knoblauch, Kulturpublizist und Gymnasiallehrer, Fruthwilen TG
In der gegenwärtigen Diskussion über Schule, Bildung und Lehrpläne wird von der Eltern- und Lehrerschaft und besonders von der Arbeitswelt immer wieder auf die fehlenden notwendigen Werthaltungen im Zusammenwirken hingewiesen. Auch die nötigen Fähigkeiten, der Einsatz und die Begeisterung für eine Sache fehlen da und dort. Dabei werden immer auch die zentralen Aufgaben von Schule und Elternhaus angesprochen: Wozu eigentlich eine gute Bildung? Aber auch staatspolitische Fragen werden von Eltern und dem Gewerbe immer wieder gestellt: Wofür werden eigentlich die Millionen an Steuergeldern ausgegeben?
In dieser wichtigen Debatte der demokratischen und staatspolitischen Meinungsbildung leistet das Buch «Geisterstunde» von Prof. Konrad Paul Liessmann, gerade auch in bezug auf den für 21 Schweizer Kantone geplanten zentralistischen Lehrplan 21, einen wertvollen Beitrag. Der Autor lehrt am Institut für Philosophie der Universität Wien, ist Essayist und Kulturpublizist. 2003 erhielt er den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels und 2010 den Donauland-Sachbuchpreis. Er ist auch Herausgeber der Reihe «Philosophicum Lech». Seine beiden letzten Veröffentlichungen waren «Das Universum der Dinge» (2010) und «Lob der Grenze» (2012).
Es ist erfreulich und dringend nötig, dass sich hier eine weitere Persönlichkeit zu Wort meldet, welche die Werte und Inhalte der europäischen, humanistischen und christlich-abendländischen Bildungskultur in ihrer Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft kennt und lehrt. Sein Buch bietet wichtige Anregungen zum Nachdenken über das Wesentliche in Bildung, Erziehung und Kultur. «Niemand weiss mehr, was Bildung bedeutet, aber alle fordern ihre Reform. Ein regelrechter Markt hat sich etabliert, auf dem Bildungsforscher und -experten, Agenturen, Testinstitute, Lobbys und nicht zuletzt Bildungspolitiker aller Fraktionen ihr Wesen und Unwesen treiben», so Professor Liessmann. So stellt der Autor in einzelnen Kapiteln praktische Beispiele gut verständlich dar: «Das, was sich aktuell in Klassenzimmern und Hörsälen, in Seminarräumen und Redaktionsstuben, in der virtuellen Welt und in der realen Politik abzeichnet», wird einer scharfen, dringend nötigen und pointierten Kritik unterzogen.
Bei der Lektüre des Buches kann der Leser wertvolle aktuelle Bezüge zur gegenwärtigen Schul- und Bildungsdebatte und zum Kulturbetrieb herstellen. Es zeigt sich, wie nötig es ist, die Sachfragen und Inhalte genauer zu erfassen und zu benennen, kulturhistorisch einzuordnen und nicht einer Beliebigkeit oder den Interessengruppen zu überlassen. So behandelt Liessmann auch die Thematik von «Pisa und Bologna», die mit ihren Bildungsexperten zu einer «Bildungskatastrophe» führte: «Es ist gespenstisch: Wann immer nationale Bildungssysteme auf dem Prüfstand stehen, Pisa-Ergebnisse veröffentlicht, der jährliche OECD-Bericht ‹Education at a Glance› (Bildung auf einen Blick) seine finsteren Prognosen für Deutschland und Österreich verkündet, die geringen Akademikerquoten beklagt und Chancenungerechtigkeit der Schulen angeprangert werden, taucht er auf wie aus dem Nichts: der Bildungsexperte. Niemand weiss so genau, was ihn zum Experten macht, meistens handelt es sich um einen Absolventen eben jenes Bildungssystems, das er nun medienwirksam kritisiert […]» (S. 30)
Viel wertvolle Substanz wurde in der Schweiz mit dem Umbau der bewährten kantonalen Lehrerseminare und Kunstgewerbeschulen in Pädagogische Hochschulen und Universitäten leichtfertig über Bord geworfen. Einseitige Theoretiker und Akademiker (oft aus unserem Nachbarland) übernahmen meist ohne Praxis die Führung. Erfahrene Schulpraktiker, die mit der Tradition der Schweizer Schulen vertraut sind, wurden oft übergangen, sie fehlen auch immer mehr.
Die grossen Leistungen unserer Schweizer Techniker, Ingenieure, Bauern, Handwerker, Künstler und Gelehrten wurden mit der traditionellen Schule und Erziehung, mit einfachen Mitteln, grossen Klassen und ohne die Industrie der Bildungsexperten möglich. (vgl. «Eigenständig, innovativ und weltoffen – dem Ausbildungs- und Werkplatz Schweiz Sorge tragen» in Zeit-Fragen, Nr. 37/38 vom 3.12.2013)
Wertvoll sind dazu auch die Gedanken von Professor Liessmann in den Kapiteln zu «Kompetenter Ungeist – Das Verschwinden des Wissens» und zur «Fächerdämmerung», wo die einzelnen Fächer zu einer «neuen Disziplinlosigkeit» zusammengeführt werden. So soll in der Schweiz beispielsweise das Fach «Geschichte» nicht mehr existieren. Das Kapitel «PowerPoint-Karaoke» zeigt die inflationäre Konsumhaltung mit den vorfabrizierten Diagrammen, Bildern und Effekten und dem immer ausschliesslicheren und vielfach unsinnigen Einsatz von Computern und Internet in Schulen. Die Schüler werden immer mehr allein gelassen und den elektronischen Medien ausgeliefert.
Konrad Paul Liessmann beschreibt eine Situation in der «Zentralen Intelligenz Agentur» von 2006: «Es ist gespenstisch; Auf einer Leinwand ist eine wilde Abfolge von Bildern, Texten, Diagrammen und Objekten zu sehen, Pfeile erscheinen, verweisen auf etwas und verschwinden wieder, Sprechblasen tun sich auf und schliessen sich, und davor steht ein junger Mensch mit einem Mikrophon in der Hand oder einem Head-Set um die Ohren und redet sich die Seele aus dem Leib […]» (S. 78) Das für bestimmte Aufgaben sinnvolle Hilfsmittel PowerPoint hat sich in Schulen und Hochschulen so ausgeweitet, dass alle anderen bewährten Präsentationsformen immer mehr verschwinden. Zahlreiche Dozenten und Lehrer verlangen zu Recht wieder persönlich gestaltete Vorträge mit einfachen Hilfsmitteln wie Wandtafel oder Hellraumprojektor. Liessmann weist darauf hin, dass mit PowerPoint meist kein nachhaltiger Lerneffekt erzielt wird. «PowerPoint ist das Symptom einer Entwicklung, die die Technisierung und Medialisierung des Bildungswesens von Anfang an begleitet und die sich vor allem in dem Glauben ausdrückt, dass beliebige Defizite durch Technisierung gelöst werden können.» (S. 79) Hier wird deutlich, dass die Gefahr besteht, dass wir alle zu «Sklaven» dieser boomenden Technologie werden. Wo bleibt da die Menschenwürde? Hier müsste eine «Entschleunigung», müssten Einschränkungen und weniger Konsumhaltung gefördert werden. Das ruhige Verweilen an einer Arbeit, ohne dauernden Bewertungsdruck, ist in allen Fächern zentral. So stärkt der Lernprozess die ganze Persönlichkeit des Schülers. Damit wäre die Methodenvielfalt gesichert. Es ist nachhaltiger und kulturell wertvoller, wenn sich die Schüler wieder vermehrt an der Realität orientieren. Liessmann hält zusammenfassend fest: «Wo Kompetenzen vermittelt, Tests ausgefüllt, im Team geteacht, international verglichen und modular studiert wird – dort ist die Praxis der Unbildung am effizientesten.»
Die Lektüre des Buches von Professor Liessmann regt zum Nachdenken an. Wie kam das alles? Die Werte, die ethischen Grundlagen und Normen verschwinden und werden auch kaum mehr gelehrt. Religion und Kirchen verlieren an Einfluss. Die sich modern und säkular gebende Gesellschaft kümmert sich zu wenig um ihre Bildungs- und Kultursubstanz. Dadurch entsteht ein gefährliches Vakuum, das gezielt von Interessenkreisen ausgenützt wird. Das Niveau des heutigen Bilder- und Filmkonsums ist bedenklich. Der medialen, elektronischen Bilderflut, Reizüberflutung, Hektik und dem Aktivismus muss gerade in der Schule entgegengewirkt werden.
Nachdem in den 1960/70er Jahren grundlegende gesellschaftliche Normen und Werte zersetzt wurden, schlossen sich ab den 1980er Jahren die französischen Antihumanisten mit der sogenannte Postmodernen Philosophie an. Gerade im Kulturbereich wird seit Jahrzehnten fleissig dekonstruiert.
Die Werke und die allgemeingültigen Werte, Normen und Moral werden im Theaterbetrieb, in der Kunst und Literatur zerlegt, in Fragmente aufgelöst und umgedeutet. Der kulturhistorische Zusammenhang und die ganzheitliche Betrachtung von Kultur und die Menschenwürde gehen so bewusst verloren. Die Orientierung an der objektiv wahrnehmbaren Realität wird abgelehnt, die Theorien und Erklärungsmodelle führen ein Eigenleben. Logik, Vernunft und ein sorgfältiger angeleiteter Aufbau vom Einfachen zum Komplexen werden bewusst vernachlässigt. Diese Beliebigkeit und dieser Relativismus führten immer mehr zu einem Nihilismus, in dem keine verbindenden Werthaltungen mehr gelten sollen. Sogar die Geschichtsschreibung wird dekonstruiert, und diese Tendenz ist auch in den neuen Schulbüchern zu finden. Das immer ausschliesslichere Arbeiten mit vorfabrizierten Internet-Fragmenten verstärkt diese bedenkliche Entwicklung und muss dringend verändert und korrigiert werden.
In verschiedenen Kapiteln des Buches «Geisterstunde» wird deutlich, dass mit den gegenwärtigen Reformen der Lehrpläne und Schulen offensichtlich undeklariert die EU- und OECD-Standards realisiert werden sollen! Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler werden immer mehr in ein schulfremdes, ökonomistisches, «operationalisiertes» Lernen und in ein computerisiertes Raster eingezwängt. Im Rahmen der «Individualisierung» und mit dem «selbstorganisierten Lernen» werden die Schüler allein gelassen und können kaum mehr vom Beitrag der Mitschüler profitieren. Dadurch besteht die Gefahr, dass die angestrebten «Kompetenzen» zu Pseudokompetenzen und Professionalität zu Dilettantismus werden.
Diese offensichtliche Transformation unseres Schulwesens in schlechtere angloamerikanische Modelle und in eine immer stärkere Ökonomisierung darf nicht hingenommen werden. Das hat unsere Jugend nicht verdient. Unser Land braucht ein anspruchsvolles Schul- und Ausbildungssystem. Wir haben immer noch eine der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeitsquoten. Es kann doch nicht sein, dass nach neun Schuljahren immer mehr Schülern die Grundlagen fehlen, um in unserer weltweit bewunderten dualen Berufsbildung eine Berufslehre zu absolvieren und in der Gemeinde verantwortlich mitzuwirken.
Die zwischenmenschliche Lehrer-Schüler-Beziehung, die Klassengemeinschaft, das gegenseitige Vertrauen, eine gute Didaktik und Anteilnahme am Arbeitsprozess sind von grösster Bedeutung und müssen wieder mehr Gewicht bekommen. Der traditionelle Fächerkanon muss wieder Grundlage sein. Ethische und moralische Normen und Grundwerte müssen wieder vermehrt vermittelt, gelehrt und vorgelebt werden. Es gibt goldene Regeln der christlich-abendländischen Kultursubstanz, Gebote und allgemeingültige Werthaltungen, die im Zusammenleben nötig sind. In allen Kulturen wurden die nötigen Grundwerte formuliert. Sie bauen auf der Sozialnatur des Menschen und auf dem Naturrecht auf und sollen dem Einzelwohl und dem Gemeinwohl dienen. Im Erziehungs- und Beziehungsgeschehen und später in der Schule fliessen diese Werthaltungen von früher Kindheit an in die Persönlichkeitswerdung ein. In der Unesco, der Uno-Charta, den Menschenrechten, verschiedenen Konventionen, staatlichen Verfassungen und Schulgesetzen sind diese kulturellen und ethischen Grundwerte und Pflichten verankert. Im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben sich 1948 die Völker aller Kulturen nach den Schrecken der beiden Weltkriege über die Notwendigkeit zur Friedenserziehung und die gültigen Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geeinigt: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.» Damit ist auch das ethische Anliegen und verbindende Ziel aller Fächer, Bildungs- und Schuleinrichtungen der Kultur und der Erziehung umschrieben. Die Kinder und Jugendlichen sollen in diesem Sinn auf ihre späteren Aufgaben in Familie, Beruf und Gesellschaft gut vorbereitet werden. Damit werden die Schulen auch dem staatsbürgerlichen und kulturellen Auftrag gerecht. •
Literatur: Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift, Zsolnay Verlag, Wien 2014
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