Den Gemeinden Sorge tragen – sie legen den Grundstein für ein gedeihliches Zusammenleben

Den Gemeinden Sorge tragen – sie legen den Grundstein für ein gedeihliches Zusammenleben

Interview mit Hanspeter Gantenbein, Gemeindeammann von Wuppenau (TG), vom 29. Mai 2015

In einer Zeit, in der wir mit dem Ansinnen konfrontiert werden, unsere gewachsenen föderalistischen Strukturen umzukrempeln und mit Gebilden fremder Herkunft wie Metropolitanräumen, Agglomerationsprogrammen, Naturpärken oder Interreg-Programmen zu übertünchen – in einer solchen Zeit ist es zu empfehlen, ab und zu innezuhalten und sich auf die Grundlagen des Schweizer Modells zu besinnen, damit wir in dem lauten Globalisierungsgetöse auf stabilem Boden stehenbleiben. Während in der Bundesverwaltung viele Amtsinhaber nach Brüssel schielen und zu diesem Zwecke eifrig die zentralistische Steuerung des Landes vorantreiben wollen, während die Kantonsregierungen einen Grossteil ihrer Arbeitszeit in Ministerkonferenzen – pardon, Direktorenkonferenzen – im sogenannten «Haus der Kantone» gegenüber dem Bundeshaus verbringen, statt im Kanton ihren Wählerauftrag zu erfüllen – da tut es wohl mitzuerleben, dass die Bürger in den Gemeinden überall im Land sicher dastehen und an ihrer Gemeindeautonomie trotz aller Schwächungsversuche erstaunlich erfolgreich festhalten. Der seit langem verfolgte Plan von oben, mittels Grossfusionen mit den vielen kleinen Gemeinden aufzuräumen und damit das Steuer in die Hand zu bekommen, prallt vielerorts am Willen und an der Verwurzelung der Menschen ab, die ihre eigenständige Gemeinde erhalten wollen.
In der Regionalpresse bin ich kürzlich auf einen Bericht über das Wirken eines Gemeindepräsidenten gestossen, der mich berührt hat. Ein Telefonanruf genügte, um mit Hanspeter Gantenbein, dem nach langer Amtszeit zurückgetretenen Gemeindepräsidenten von Wuppenau, ein Treffen zu vereinbaren. Er empfing mich im bescheidenen, aber schmucken Gemeindehaus, das vor einigen Jahren neu gebaut worden war, und zeigte mir, worauf die Wuppenauer beim Bau als erstes geachtet hatten: Der Sitzungsraum für den fünfköpfigen Gemeinderat ist ein wenig grösser angelegt, damit die 30 (!) Vereine dort – selbstverständlich unentgeltlich – ihre Vereinsversammlungen abhalten können, und der Platz vor dem Gebäude ist für die Dorf- und Vereins-«Fäschtli» errichtet worden. Er ist mit «Hanspeter-Gantenbein-Platz» angeschrieben, zu Ehren des Gemeindepräsidenten, der sich sichtlich darüber freut.

Zeit-Fragen: Herr Gantenbein, Sie waren 24 Jahre Gemeinderat in Wuppenau, 16 davon als Gemeindeammann. In dieser Zeit haben Sie viel beigetragen zu einem inneren Zusammenhalt, den sich eine Gemeinde nur wünschen kann. Was mich neugierig gemacht hat, sind zum einen die Finanzen. Ich habe im Protokoll der Gemeindeversammlung 2014 gelesen, dass die Bruttoverschuldung seit 2002 ausserordentlich stark gesunken ist.

Hanspeter Gantenbein: Wir hatten 2002 etwa 7 Millionen Franken Schulden, und jetzt haben wir gut 2 Millionen Franken Vermögen.

Wie hat Wuppenau das geschafft?

Damals hat der Kanton eine wesentliche Umstellung im Finanzausgleich durchgeführt. Neu wurde den Strukturen der Gemeinden Rechnung getragen: Wie hoch ist die Steuerkraft der einzelnen Steuerzahler? Da gibt es natürlich grosse Unterschiede. Salenstein hat vielleicht viermal mehr Einkommen pro Einwohner als wir, die Steuerkraft ist also viel grösser. Dann hat man auch gemerkt, dass ein Ausgleich geschaffen werden muss bezüglich der Fläche. Wuppenau hat rund 1100 Einwohner und eine verhältnismässig grosse Gemeindefläche: über 12 Quadratkilometer. Wir haben sehr viele Weiler, also nicht einfach nur ein Dorf. Neben Wuppenau und Hosenruck haben wir noch 13 Weiler, die alle erschlossen sind. Mit den Flurstrassen, die Gemeindesache sind, kommen wir auf über 50 Kilometer Strassen und 25 Kilometer Abwasserleitungen, die zum Teil nach Wil fliessen, nach Uzwil, Weinfelden oder Zuzwil. Das sind Aufgaben, die die Gemeinde erfüllen muss. Aufgrund der Wertung dieser unterschiedlichen Strukturen erhielt Wuppenau mehr Ausgleichszahlungen.

«Wir achten heute in Wuppenau auf einen sparsamen Haushalt: Was ist notwendig und was wünschenswert?»

Das ist ein Hauptanliegen von mir, auch in der Familie und im Unternehmen, das ich geleitet habe. Von Anfang an habe ich gesagt, mit den neuen Ausgleichszahlungen des Kantons ist eine gute Chance da, unsere Schulden abzuzahlen; mit damals 5 Prozent Schuldzinsen war das natürlich der grösste Aufwand-Posten in unserer Rechnung. An einer Gemeindeversammlung konnte ich dann diese Strategie «Trennung von Notwendigkeit und Wünschenswertem» lancieren. Alle haben dies mitgetragen und unterstützt: Super! Mit den Ausgleichszahlungen des Kantons und mit einer gewissenhafteren Einstellung zum Geldausgeben konnten wir langsam die Schulden senken.
Der grösste Posten in den letzten Jahren war das neue Gemeindehaus, das wir zu zwei Dritteln auch schon abgeschrieben haben. Wir konnten inzwischen Eigenkapital und Reserven bilden, Fonds einrichten und dann etwa zwölfmal hintereinander den Steuerfuss senken. Immer mit kleinen Schritten – statt die Steuern gleich um 6 Prozent zu senken, machen wir lieber zwei Schritte.

Konnten Sie die Leute in der Gemeindeversammlung dafür gewinnen?

Ja, die Mitbürger haben das immer mitgetragen. Das war sehr, sehr positiv. Und Wuppenau ist natürlich immer noch ein ländlicher Ort, da konzentrieren sich die Menschen noch ein bisschen mehr auf die Angelegenheiten ihrer Gemeinde.

Wo haben Sie denn zum Beispiel gespart, weil etwas «nur wünschenswert» war?

Zum Beispiel an der letzten Gemeindeversammlung hatten wir ein sehr gutes Resultat, und wir übertragen nun nicht einfach den Gewinn auf die nächste Rechnung. Alles Notwendige hatten wir schon erledigt und konnten nun etwas Wünschenswertes machen.

Reserven bilden?

Jawohl, in der Regel Reserven bilden. Letztes Mal haben wir aber entschieden, dass wir unsere Gemeinde mit einem Unterflursystem für die Kehrichtentsorgung ausrüsten oder im Werkhof zum Traktor einen Anhänger oder Kipper etwas früher anschaffen. Das war etwas «Wünschenswertes». In der Regel stimmen die Leute dann ja.

«Noch wichtiger als die Finanzen ist das Zusammenleben»

Diese Aussage von Ihnen hat mich besonders angesprochen, als ich einen Zeitungsbericht über ihr langes Wirken im Gemeinderat gelesen habe.

Das ist natürlich mein absolut grösstes Anliegen: Alles, was mit dem Zusammenleben zu tun hat, bekommt in unserer ländlichen Gemeinde eine besondere Bedeutung. Hier können wir uns von grösseren Orten unterscheiden. Wir haben nach wie vor etwa 30 Vereine.

30 Vereine? Das ist beeindruckend in einem Dorf mit 1100 Einwohnern.

Ja, das war mir immer wichtig. Ich hatte das Glück, dass ich von Anfang an das Ressort «Vereine/Zuammenleben» leiten durfte. Die Wertschätzung durch den Gemeinderat muss in den Vereinen gespürt werden. Es ist wichtig, dass man unser aktives Zusammenleben auch immer wieder erwähnt; dies habe ich versucht, in allen Versammlungen oder Anlässen zu plazieren. Es ist wichtig, dass wir es alle bewusst wahrnehmen, welches wichtige Gut wir haben. Das Zusammenleben muss man fördern und unterstützen.
Heute abend haben wir die letzte Gemeinderatssitzung, die ich leiten darf. Da geht es oftmals um grosse Posten: um Wasserleitungen und ähnliches für 100 000 oder 150 000 Franken. Hier müssen wir uns auf Spezialisten verlassen können. Anschliessend kommt vielleicht ein Traktandum, in dem es um einen kleinen Beitrag geht, wo sich jemand engagieren möchte. Hier kann jeder mitreden, jeder hat eine Meinung. Schon als ich erst ein Jahr Gemeindeammann war, haben wir uns geschworen: Wir streiten nicht über Kleinigkeiten, sondern unterstützen Engagements und Bagatellfälle.
Besonders eingesetzt habe ich mich für eine Stiftung und einen Fonds. Da gab es eine Riesenstreiterei: Was machen wir damit? Es ist mir gelungen, die Stiftung auf Vordermann zu bringen. Mit der René-Moser-Stiftung können wir die Jugend fördern. Wir können jedes Jahr etwa 10 000 Franken – das ist viel Geld für unsere Gemeinde! – einsetzen. Zum Beispiel für aktive Einsätze der Vereine. Oder wenn Sie der Jugend einen Kurs anbieten wollen, wie man einen Text schreibt oder eine Zeitung gestaltet, dann übernehmen wir alle Selbstkosten. Dann haben wir einen Boden-Fonds, mit dem wir zum Beispiel das Engagement eines Mitbürgers unterstützen, der einen Fussweg durchgehend ausbauen will, so dass ihn alle benutzen können; ihm bezahlen wir alles Material. Oder wenn die Bewohner eines Weilers einen Brunnen aktivieren wollen, da wird gar nicht darüber verhandelt – selbstverständlich übernimmt die Gemeinde das Material und die Kosten und dann für ein kleines Fest zur Einweihung.
Wegen solchen Dingen sollte man keine Zeit verlieren. Dieses Anliegen konnte ich «hinüberbringen», so dass dies auch meinem Nachfolger und allen Gemeinderäten heute sehr wichtig ist. Danach leben wir, und das ist der erste Satz im Leitbild der Gemeinde: «Das aktive Zusammenleben in Vereinen und Organisationen sowie die intakten Schulen bilden einen wichtigen Bestandteil unserer Lebensqualität, welche erhalten und gefördert werden muss. Begegnungen werden unterstützt.» Das ist von mir aus gesehen das Wichtigste.

«Wir sind eigentlich prädestiniert zum Integrieren, auch um Fürsorgefälle zu erkennen und sinnvoll einzusetzen.»

Es gibt ja sicher auch in Wuppenau einzelne Menschen oder Familien, die in Not sind und Unterstützung benötigen. Wie gehen Sie damit um?

Wir sind in Wuppenau etwas privilegiert. Wir haben sehr viele Eigenheime, wir sind auf dem Land draussen, wir haben einen kleinen Ausländeranteil.

Ja, das habe ich in den Unterlagen von Wuppenau gesehen: knapp 7 Prozent.

Ich hätte den Anteil viel tiefer geschätzt, denn diese Ausländer sind mehr oder weniger hier aufgewachsen und werden gar nicht als Ausländer wahrgenommen. Wir haben also schon eine etwas heile Welt.
Ich finde alle unsere Sozialwerke sehr wichtig, wir müssen aber alles unternehmen, dass diese nicht ausgenutzt werden und so in Gefahr geraten. Wir hatten auch schon einige Asylbewerber in Wuppenau, aber die meisten wollen in die Städte, weil sie dort ein Netzwerk und Bekannte haben und so eine natürliche Integration gar nicht zustande kommen kann. Zum Integrieren würde gehören, dass die Kinder hier in die Schule gehen und die Erwachsenen in einem Dorf-Verein mitmachen und so den Kontakt zu der Bevölkerung erhalten. Oftmals haben wir in einem Gespräch versucht, diese Leute, zum Beispiel mit wenig Deutschkenntnis, zu motivieren mitzumachen, statt einfach ihresgleichen zu suchen. Da hatten wir ganz schöne Erlebnisse.
In einer kleinen Gemeinde hat man den Überblick; somit sind auch Sozialbezüger immer einer gewissen Kontrolle unterstellt und werden nicht einfach als «Dossier» behandelt. Aber auch hier hat uns der Mantel «Datenschutz» und der Formularismus überholt. Wir dürfen nicht mehr wie früher Arbeitslose in der Gemeinde einfach so einsetzen usw. Wir dürfen nicht mehr kritisch hinterfragen und allenfalls erzieherische Massnahmen treffen …Und wenn wir das tun, dann gehen sie vielleicht in die Stadt, dort sind sie eine saubere, schöne Akte mit einem Namen, aber keinem Gesicht dahinter.
Wir sind eigentlich prädestiniert zum Integrieren, auch um Fürsorgefälle zu erkennen und sinnvoll einzusetzen.

Verwurzelt in der Gemeinde

Haben Sie denn genug Milizler, die mithelfen, Freiwilligenarbeit leisten oder in Kommissionen der Gemeinde mitmachen?

Ja, denn hier haben wir nicht das allerteuerste Bauland, deshalb können auch junge Familien sich ein Stück Land leisten. Sie werden eher bleiben. Es sind oft Leute, die sich dann früher oder etwas später in der Gemeinde einsetzen werden. So war es auch vor über 30 Jahren, als wir hierher gezogen sind, da wurde ein ganzes Quartier überbaut und vorwiegend genutzt von jungen Familien. Heute ist dieses Quartier tragend im Engagement, in der Steuerkraft, in den Kommissionen, im Schulrat, Gemeinderat, das ist so gewachsen. Auch bei der nächsten Generation wird es so sein, denn hier ist nicht so ein Kommen und Gehen, dies macht bei uns auch die notwendige Stabilität aus.

Die Leute sind dann verwurzelt.

Ja, das ist so. Wir haben auch einen Dorfmarkt, der hat sich sehr gut entwickelt. Er hat jetzt das 5jährige Jubiläum und ist auf einer Erfolgswelle, weil dort auch eingekauft wird.
Hinter dem Dorfmarkt haben wir eine Fläche eingezont, um Häuser mit mehreren Wohnungen zu bauen. Es wäre auch möglich, dass man dort eine Genossenschaft bilden könnte. In Wuppenau wohnen viele verwurzelte Leute, zum Teil in einem Weiler draussen, die allein oder zu zweit im Haus wohnen, wo sie früher mit ihren Kindern gelebt haben. Vielleicht wären manche bereit, in eine pflegeleichte Wohnung mit Lift usw. zu ziehen. Da ist auch die Busstation in der Nähe, mit Bussen im Stundentakt nach Weinfelden und Wil, und der Laden mit der Poststelle. Und ein Bancomat … Das sind Dinge, die man im täglichen Leben braucht. Und in diesen Mietwohnungen würde man auch kein Auto brauchen.

Die Schule ist Sache der Gemeindeautonomie

Sie haben eine eigene Schule in Wuppenau. Also gibt es hier genügend Kinder im Schulalter?

Der zweite Punkt in unserem Leitbild ist die Schulgemeinde. Wir haben in Wuppenau eine Primarschule, die Oberstufe ist in Schönholzerswilen. Vorübergehend sind die Klassen kleiner geworden, so dass die sechs Primarklassen auf vier reduziert werden muss­ten. Für die nächsten zehn Jahre können wir erfreulicherweise nachhaltig wieder eine Klasse pro Jahrgang führen.
Das ist natürlich etwas Positives, eine intakte Schule zu haben. Und wir haben eine gewaltig intakte Schule, da hat kein Lehrer Probleme, mit den Eltern in Kontakt zu kommen, wenn einmal etwas nicht in Ordnung ist.

Der Kanton redet nicht drein? Der findet nicht, ihr habt zu wenig Schüler für eine eigene Schule?

Nein, nein, das ist eine Angelegenheit der Gemeindeautonomie. Es ist allein unsere Sache, das zu bestimmen. Auch wenn wir eine Volksschulgemeinde mit der Nachbargemeinde haben, denke ich nicht, dass wir ein Schulhaus schliessen und die Schüler anderswo zur Schule müssen, wenn der Hauptteil der Schüler hier im Ort lebt.

Zweckverbände zwischen den Gemeinden sind sozialer und günstiger als Steuerung von oben

Eine kleinere Gemeinde kann ja nicht alles selbst bewältigen. Haben Sie viele Zweckverbände?

Ja, wir sind zum Beispiel bei der Regionalen Wasserversorgung Mittelthurgau RVM, die Wasser aus der Thur liefert. Auch Wil bezieht sein Wasser dort. Dann haben wir eine Zusammenarbeit mit Zuzwil, das auch Wasser liefert. Und wir sind beim Zweckverband für die Kehrichtentsorgung in Bazenheid, wie auch Wil.

Die Feuerwehr habe ich mir noch gemerkt, mit Schönholzerswilen?

Ja, das ist richtig. Dann das Abwasser, das zum Teil nach Wil fliesst, aus anderen unserer Weiler nach Uzwil, Zuzwil, Weinfelden. Früher hatten wir eine eigene Kläranlage. Geplant ist mittelfristig eine Riesenanlage in Uzwil, für viele Gemeinden, inklusive Wil.
Weiter gibt es die Spitex [Hilfe und Pflege zu Hause, Red. Zeit-Fragen], früher haben wir das in der Gemeinde selber organisiert. Die zunehmenden Auflagen, die heute gemacht werden müssen, verurteile ich. Ich behaupte, dass die vielen Rapporte und Formulare heute bald wichtiger geworden sind als die eigentliche Betreuung der Kranken. Wir hatten die Spitex am Nollen, mit Schönholzerswilen zusammen, wir hatten Leute, die zu jemandem nach Hause gegangen sind, die Patienten aufgenommen haben, den Haushalt in Ordnung hielten usw. Plötzlich kommt die Krankenkasse und verlangt, dass alle Helfer einen Rot-Kreuz-Kurs machen und einen Ausweis haben müssen. Stellen Sie sich das vor: Jemand macht das seit 20 Jahren auf Abruf. Jetzt sollte er diesen Kurs machen, da sagt diese Person zu Recht: «Ihr könnt mich mal …»
So geht es bei uns in der Schweiz immer weiter. Alles wird auf diese Weise verteuert, am Schluss müssen die Formulare richtig ausgefüllt sein, und nicht der Patient steht im Mittelpunkt. Eine Kindergärtnerin muss vorrangig die Matura haben und nicht mit den Kindern gut umgehen können … usw., usw.

Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Dann haben Sie jetzt in der Spitex nicht mehr genug eigene Leute?

Nein, wir haben uns dann mit Bürglen zusammengeschlossen, weil wir die Auflagen gar nicht mehr leisten konnten. Das war ein grosses Politikum. Wir mussten eine andere Organisation aufbauen, eine neue Buchhaltung, neue Kosten, alles Auflagen der Krankenkassen, die – das kommt noch hinzu! – nie kostendeckend bezahlen, obwohl sie eigentlich zahlen müssten. Denn mit der Spitex können ja die Patienten zu Hause bleiben, statt teure Spitalbetten zu belegen.
Und die Defizite müssen die Gemeinden übernehmen, davon spricht niemand. Vor zwölf Jahren haben wir an die Spitex rund 4000 Franken Defizit pro Jahr bezahlt, was gut funktioniert hat. Jetzt haben wir ein Budget von 72 000 Franken, 18 mal mehr. Wir machten uns sehr viele Gedanken: Wie können wir das den Bürgern erklären? Und die Gemeinden müssen nur noch bezahlen: pro Einwohner ca. 70 Franken Defizit im Jahr für die Spitex. Stellen Sie sich das einmal vor: Das müsste alles über die Krankenkassenprämien gedeckt werden. Aber wahrscheinlich gibt es erst ein Umdenken, wenn es nicht mehr bezahlbar ist.

Fusionieren mit der Nachbargemeinde? Kleine Gemeinden sind in jeder Beziehung am günstigsten: menschlich, sozial und wirtschaftlich

Dann heisst es, die Gemeinden müssten halt fusionieren, wenn sie ihre Aufgaben nicht mehr bezahlen können. Wenn die Gemeinden grösser werden, wenn sie sich zusammen­schliessen, dann ist es nie mehr so persönlich, dass jeder das Ganze im Auge hat.

Ja, es wäre viel unpersönlicher – und viel teurer. In Wuppenau habe ich als Gemeindepräsident eine 30 Prozent-Stelle, und für die Ressorts gibt es für jeden Gemeinderat etwa 10 Prozent. Ich bin ja Gemeinderat wie die anderen auch und habe meine Ressorts und dazu den Job als Gemeindeammann.

So wie es eben in der Schweiz ist: Da ist nicht einer der Oberste.

Genau. Alle fünf werden gleich behandelt. Wir haben 1,6 Verwaltungsstellen, einen Gemeindearbeiter mit etwa 60 Prozent und eine Lehrtochter. Wenn wir ihre Stelle zu 50 Prozent rechnen, weil sie ja auch Schultage hat und noch nicht die volle Leistung erbringen kann, dann gibt das zusammen mit meinen 30 Prozent knapp drei Stellen für die ganze Gemeindeverwaltung, samt dem Bauwesen – auf unserer grossen Gemeindefläche haben wir jeden Monat x Baugesuche. Denn jede Gemeinde hat in etwa dieselben Aufgaben.
Dann müsste eigentlich Wil mit gut 20 000 Einwohnern – im Vergleich zu Wuppenau mit 1100 – höchstens 60 Verwaltungs- und Stadtratsstellen haben.
Vor einigen Jahren diskutierten wir in einer Arbeitsgruppe zusammen mit Schönholzerswilen eine mögliche Fusion. Schönholzerswilen ist etwa gleich gross wie Wuppenau. Wir formulierten die Voraussetzungen für eine Fusion: Erstens muss man es wollen, das heisst man muss die Vorteile sehen. In unserem ländlichen Gebiet funktioniert noch alles sehr persönlich. Bei einer Fusion gibt es vermutlich einen Vollzeitjob für den Gemeindepräsidenten statt zwei 30 Prozent-Stellen, ein grosser zusätzlicher Lohnposten! Und mit weniger Angestellten geht es auch nicht. Dann ist die Frage des Gebäudes für eine gemeinsame Gemeindeverwaltung. Wir in Wuppenau könnten die Gemeindeverwaltung im bestehenden Gebäude erweitern. Aber wir sehen heute keinerlei Anlass für eine Fusion.
Eine rege Zusammenarbeit pflegen wir mit den Schönholzerswilern sowieso: Zum Beispiel die Jungbürgerfeier machen wir gemeinsam oder Anlässe für die Gemeindeangestellten. Wir haben dieselbe Polizei und machen die Feuerwehrübungen miteinander, einmal organisieren wir sie und einmal Schönholzerswilen, aber vielleicht stellen sich einmal keine Gemeinderäte mehr zur Verfügung, und eine Fusion würde dann allenfalls wieder zur Diskussion stehen.

Aber heute sind es zwei autonome Gemeinden.

Ja, es ist noch persönlich. Von den 1100 Einwohnern Wuppenaus kenne ich etwa 700 mit Vornamen. Das ist ein soziales Netzwerk. Die kommen natürlich zu einem Gemeinderat oder zu mir und sagen: Du, ich habe Probleme. Das beschäftigt einen am meisten (nicht zeitlich!), man möchte dem anderen ja helfen.

Warum in Wuppenau fast ein Fünftel der Stimmberechtigten an die Gemeindeversammlung kommt

Eigentlich wollte ich Sie fragen, warum bei Ihnen letztes Jahr über 19 Prozent der Stimmberechtigten an die Gemeindeversammlung kamen – aber diese Frage haben Sie mit Ihren Schilderungen des Dorflebens bereits beantwortet.  

Ja, dieses Jahr waren es auch wieder so viele. Jetzt, wo Sie das sagen, ist mir gerade etwas aufgefallen: Wir hatten in Wuppenau eine Primarschulgemeinde und eine Oberstufenschulgemeinde. Da kamen jeweils etwa 100 Personen, von vielleicht 600 Stimmberechtigten, etwas weniger als in die Gemeindeversammlung. Jetzt haben wir eine Volksschulgemeinde, über vier Gemeinden hinweg, mit total 2400 Stimmberechtigten. An der vorletzten Budgetgemeinde, als es um das Budget und den Steuerfuss ging, kamen 61 Leute, also ganze 1,7 Prozent. Nicht 4 oder 5, sondern 1,7 Prozent! Es wird unpersönlich.
Die Gemeindeverwaltung Wuppenau schreibt wahrscheinlich am wenigsten Briefe. Ich bitte immer wieder: »Schreibt keine Briefe, sondern sucht das Gespräch, redet miteinander.» Oft haben wir um 19.30 Uhr Gemeinderatssitzung, wenn aber etwas ansteht, machen wir sie schon um 19 Uhr und laden die Betreffenden dazu ein. – Oder ich komme beim Joggen am Haus eines Mitbürgers vorbei, der einen bösen Brief an die Gemeinde geschrieben hat und kann die Angelegenheit gerade vor Ort besichtigen und allenfalls sogar bereinigen. Dann sieht es doch ganz plötzlich alles ganz einfach anders aus!
Wir haben sehr gute Leute in der Gemeindeverwaltung, die kennen auch alle Mitbürger. Keiner käme auf die Idee, unseren Schalter zu schliessen, auch wenn an der Türe steht: «Geöffnet bis 16 Uhr». Unsere Bürgerinnen und Bürger sind die Kunden, und das muss spürbar bleiben. Vielleicht ist auch dies ein Grund, dass nochmals etwas mehr an die Gemeindeversammlung kommen.

Herr Gantenbein, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch.    •

(Interview Marianne Wüthrich)

Die Gemeindeversammlung, eine urdemokratische Institution aus der genossenschaftlichen Tradition

mw. In 80 Prozent der Schweizer Gemeinden, vor allem in der Deutschschweiz, übt nicht ein Parlament die Legislativfunktion aus, sondern die Gemeindeversammlung. Die Exekutive, welche die Geschäfte der Gemeinde leitet und die Beschlüsse der Gemeindeversammlung ausführt, heisst in den meisten Deutschschweizer Kantonen Gemeinderat, meist mit 5 oder 7 Mitgliedern, die – ausser in grösseren Städten – ihr Amt in der Regel nebenberuflich ausüben. Im Kanton Zürich beispielsweise gibt es nur 12 Gemeinden mit einem Parlament (darunter die Städte Zürich und Winterthur!), die übrigen 157 Gemeinden haben eine Gemeindeversammlung. So sprachen sich in der Stadt Thalwil (mit über 16 000 Einwohnern) die Bürger in mehreren Abstimmungen gegen ein Parlament aus.
Die Institution der Gemeindeversammlung wird in jüngster Zeit von verschiedener Seite immer mal wieder kritisiert: An Gemeindeversammlungen würden meist nur wenige Stimmberechtigte teilnehmen, deshalb sei ihre demokratische Legitimation in Frage gestellt – dies der Hauptkritikpunkt. Denn in der Schweiz gibt es kein Quorum, damit eine Volksabstimmung gültig ist, weder im Bund, noch im Kanton, noch in der Gemeinde, weder an Urnen- noch an Versammlungsabstimmungen. Weil in den Gemeindeversammlungen die Teilnahmequote oft tief ist, kann zum Beispiel gemäss der neuen Verfassung des Kantons Zürich (in Kraft seit dem 1.1.2006) ein Drittel der Anwesenden eine nachträgliche Urnenabstimmung über einen Beschluss der Versammlung verlangen. Aber auch diese Korrekturmöglichkeit wird kritisiert: Wenn es nachher ohnehin eine Urnenabstimmung gebe, werde die Gemeindeversammlung zur Farce.
Eine neuere Studie im Auftrag des Gemeindeamtes des Kantons Zürich fördert Erstaunliches zutage und bestätigt sozusagen den «guten Ruf» der Gemeindeversammlung als demokratische Institution par excellence.1
Die Autoren stellen fest, dass im Kanton Zürich die Teilnahme an den Gemeindeversammlungen oft nicht sehr hoch ist, wobei in Gemeinden mit weniger Einwohnern die Beteiligung meist grösser ist als in bevölkerungsreichen Orten (vgl. Seite 6/7). Aber sie kommen zum Schluss, dass das zentrale Element der Versammlungsdemokratie nicht die Zahl der Teilnehmer ist, sondern die hohe Qualität der Meinungsbildung: Denn hinter der Gemeindeversammlung steht «die Tradition der Versammlungsdemokratie, bei der davon ausgegangen wird, dass der Gemeinwille durch gegenseitigen Meinungsaustausch und Diskussion konstituiert und entwickelt wird und nicht – wie im Modell der Referendumsdemokratie – einfach als Summe aller Einzelinteressen in Form einer auf Ja oder Nein beschränkten Meinungsäusserung an der Urne. Entsprechend stellt eine aktive, lebendige Diskussion in der Versammlung ein zentrales Kriterium für die Legitimität der dort getroffenen Entscheidungen dar (qualitative Beteiligung).» (Seite 8)
Übrigens können die Bürger im Vorfeld einer Gemeindeversammlung auch Änderungsanträge einreichen und so die Vorlagen inhaltlich mitgestalten. Immerhin werden im Kanton Zürich in fast einem Viertel der in der Studie analysierten Versammlungen solche Anträge gestellt. Deshalb ist auch die Kritik am fehlenden Stimmgeheimnis fehl am Platz, weil durch die Abänderungsanträge und in der Diskussion vor der Abstimmung die Meinung jedes Bürgers, der sich zu Wort meldet, klar wird. Ja, es ist geradezu die Voraussetzung für das Erreichen eines guten Entscheides, dass möglichst viele mitdiskutieren (vgl. Seite 3/4).
Die hohe Qualität der Meinungsbildung in gemeinsamen Diskussionen wird auch dadurch bestätigt, dass trotz der Bestimmung in Artikel 86 Abs. 3 der Kantonsverfassung, wonach ein Drittel der Anwesenden eine nachträgliche Urnenabstimmung verlangen kann, dies faktisch sehr selten vorkommt: für das Jahr 2008 nur bei 2 von über 1100 Entscheiden in den 105 untersuchten Zürcher Gemeinden.
Die Verfasser der Studie enden mit einem klaren Bekenntnis zur positiven Bedeutung der Gemeindeversammlung: «Insgesamt zeigt die vorliegende Studie, dass die Gemeindeversammlungen im Kanton Zürich demokratisch legitimierte Entscheide hervorbringen. Die tiefe Stimmbeteiligung an Gemeindeversammlungen muss nicht per se Anlass zur Sorge sein. Viel bedeutender ist die Qualität der politischen Diskussion in diesen Versammlungen, wofür wiederum die Vielfalt der vertretenen Meinungen wichtig ist. Hier stehen die Behörden und die politischen Parteien in der Verantwortung. Es liegt in ihrer Hand, bei den Bürgerinnen und Bürgern Interesse an der Gemeindepolitik zu wecken(...).» (Seite 17)

1  Daniel Kübler und Philippe Rochat. Sind Gemeindeversammlung noch zeitgemäss?
Überlegungen anhand einer Umfrage im Kanton Zürich, statistik.info 15/09, <link http: www.statistik.zh.ch>www.statistik.zh.ch

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