«Der Schweizer Sonderfall – ein ziemlich einzigartiges Erfolgsmodell»

«Der Schweizer Sonderfall – ein ziemlich einzigartiges Erfolgsmodell»

von Thomas Kaiser

Der Titel des nachfolgend rezensierten Buches «Die Schrumpf-Schweiz» lässt auf den ersten Blick nichts Gutes vermuten. Wird hier auf über 100 Seiten eine weitere Demontage der Schweiz geliefert zum Beispiel im Stile eines Thomas Maissen, dessen «historisches Schaffen» wohl einzig darauf ausgelegt ist, die Schweiz als souveränen, direktdemokratischen Nationalstaat zu demontieren, mit dem vermuteten Ziel, die Schweiz EU-kompatibel zu machen? Oder ist es eine offene Kritik an unheilvollen Entwicklungen in und um unser Land, was die Vorfahren der Schweiz als «Arglist der Zeit» bezeichneten?
Das Buch Simon Geissbühlers ist mehr und dazu eine lohnenswerte Lektüre. Der Autor versucht, aktuelle Entwicklungen in der Schweiz mit den Grundwerten unseres Staatswesens zu kontrastieren. Er zeigt auf, wo wir einen Abbau im demokratischen Gefüge feststellen und was wir diesem Trend entgegensetzen können. «Der Schweizer Sonderfall – im grossen und ganzen ein ziemlich einzigartiges Erfolgsmodell – erodiert immer mehr. Das ist zum Teil auf externen Druck zurückzuführen, vor allem haben wir Schweizerinnen und Schweizer die negativen Trends selbst zu verantworten.» (S. 11)
 Am Anfang des Buches werden zunächst negative Entwicklungen thematisiert, die besonders den Abbau der Demokratie und einen Verlust an Freiheit zur Folge haben. Dies wird zu einem schleichenden Niedergang unseres Staates führen, wenn wir diesen Weg ungehindert weitergehen. «Die Freiheit wird weiter reduziert werden, und die ‹Entmündigung des Einzelnen durch Übertragung von immer mehr Aufgaben an die anonyme öffentliche Hand und entfernte Supra-Behörden› wird weitergehen. Der Wohlstand wird schrumpfen. Bei Bildung und Innovation wird die Schweiz an Boden verlieren.» (S. 22)
Verschiedene Apologeten des «Untergangs» lässt Geissbühler zu Wort kommen, die am politischen, gesellschaftlichen System der Schweiz sägen und ihren Niedergang prognostizieren. Teilweise sind die Gründe dafür bemerkenswert, teilweise, und dann geht es an die Substanz unseres Staates, soll die direkte Demokratie, die Konkordanz und der Föderalismus Urheber dieser Negativentwicklung sein. Mit anderen Worten, alles das, was die Schweiz von anderen Staaten unterscheidet, nämlich ihre Freiheit, bedingt durch die direkte Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess, soll für den schleichenden Niedergang der Schweiz verantwortlich sein.

«Keine absolutistische und zentralistische Tradition»

Simon Geissbühler rückt in den folgenden Kapiteln das Schweizer Staatswesen ins richtige Licht, indem er alle einzelnen Kritikpunkte sachlich und fundiert, auf einer Vielzahl von Quellen basierend, widerlegt. Zunächst begründet er historisch die herausragende Bedeutung der Konkordanz: «Die Konkordanz ist historisch bedingt. Ein fragiles Staatsgebilde, das aus verschiedenen Sprachen, Konfessionen, politischen Sensibilitäten und historischen Erfahrungen besteht, muss den Ausgleich und den Kompromiss suchen, sonst zerbricht es.» (S. 41) Die Bedeutung der Konkordanz ist auch eine soziale, «die uns immer wieder daran erinnert, dass es so etwas wie ein Gemeinwohl gibt […]» (S. 43)
Neben der Konkordanz ist die direkte Demokratie ein Markenzeichen der Schweiz. Bereits im Vorwort schreibt Geissbühler und bringt damit die Sache auf dem Punkt: «Sie [die Schweiz] hatte keine absolutistische und zentralistische Tradition und entwickelte sich nicht von oben, sondern von unten.» (S. 13) Dieser aus der Geschichte entstandene Sonderweg wird vor allem von EU-Befürwortern oder Internationalisten negiert, vielleicht auch in seiner staatspolitischen Bedeutung nicht erkannt. Die Schweiz, wenn sie sich treu bleibt, wird sich nie in ein zentralistisches von oben oktroyiertes System, wie es die EU in hohem Masse verkörpert, integrieren lassen. So sieht Geissbühler die Bedeutung der direkten Demokratie nicht nur in der politischen Unmittelbarkeit, sondern auch als Faktor der politischen Stabilität. «Die direkte Demokratie hat zu bemerkenswerter politischer Stabilität geführt, erhöht die Legitimität des politischen Systems und stärkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger im politischen Prozess.» Neben der Konkordanz sieht er in der direkten Demokratie eine einigende Wirkung. «Zudem ist die direkte Demokratie ein wichtiges Element des nationalen Zusammenhalts.» (S. 44) Auch räumt Geissbühler mit einigen Mythen auf, die immer wieder ins Feld geführt werden, warum zum Beispiel die direkte Demokratie und damit verbunden die Mitbestimmung des Volkes in politischen Sachfragen eine Überforderung darstelle und man solch schwere Entscheide lieber der Politik überlassen solle. «Das Argument, das Volk sei für die direkte Demokratie zu dumm, bedeutet in letzter Konsequenz, dass das Volk zu dumm ist für die Demokratie. Die Vorstellung, es sei schwieriger, einen konkreten Sachverhalt mit Ja oder Nein zu beantworten als unter Dutzenden und Hunderten von Kandidaten in einer Wahl denjenigen oder diejenige zu finden, der oder die am nächsten an den eigenen Präferenzen liegt, ist absurd.» (S. 47)

«Der Föderalismus ist bis heute ein prägendes, ja identitätsstiftendes Element»

Der Föderalismus bildet eine weitere wichtige Säule des Schweizer Staatwesens. Auch dieser hat verbindende und staatstragende Bedeutung. «Der Föderalismus ist bis heute ein prägendes, ja identitätsstiftendes Element der Schweiz.» (S. 54) Er fördert aber auch den «Wettbewerb zwischen den Kantonen und Gemeinden und [führt] so zu innovativen Lösungen». (S. 54) Auch hilft der Föderalismus «die Steuern niedrig zu halten […] und so verhindert der Föderalismus die Machtkonzentration».(S. 54)
Eine demokratische Tradition, wie sie die Schweiz aufweisen kann, wird von wenigen europäischen Staaten geteilt. Die wenigsten Länder in Europa können hier mithalten, schon gar nicht, wenn es um die Ausgestaltung der Demokratie geht. «Nicht alle europäischen Staaten haben eine so lange demokratische Tradition wie die Schweiz. Das in Europa wieder der Ruf nach einem starken Leader aufkommt und ernsthaft behauptet wird, autoritäre Systeme hätten erhebliche Vorteile, ist beklemmend.» (S. 63)

«Der einzige direktdemokratische Staat auf unserem Globus»

Neben den Institutionen und den drei politischen Ebenen der Schweiz mit weitreichenden politischen Kompetenzen ist die «politische Kultur ein wesentlicher Bestandteil der Schweizer Identität». (S. 55) Entscheidend bei der Bildung dieser Identitäten sind die historischen Wurzeln und deren Entwicklung. Dass die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess, in sicher noch beschränktem Masse, bereits im Mittelalter zu finden ist, hat es natürlich der Schweiz einfacher gemacht, die Gedanken der Aufklärung in die Staatsphilosophie zu integrieren, um die Schweiz zu dem zu machen, was sie heute ist. «Die Schweiz war in Europa das einzige Land, in dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts der ‹Liberalismus, der Föderalismus, die Demokratiebewegung und die Parlamentarisierung erfolgreich waren.›» (S. 56) Nach der Gründung des Bundesstaates kamen dann noch auf Bundesebene Referendums- und Initiativrecht dazu, so dass man mit Fug und Recht sagen kann, die Schweiz ist der einzige direktdemokratische Staat auf unserem Globus, und er funktioniert grundsätzlich gut. In mehreren Statistiken, die von der OECD in Auftrag gegeben wurden, belegt die Schweiz einen Spitzenplatz. Auch wenn gegenüber OECD-Umfragen und -Untersuchungen immer eine gewisse Skepsis angebracht ist, lassen sich zumindest aus dem Ranking im Ländervergleich einige Rückschlüsse ziehen.

«In der Schweiz überwiegt die soziale Solidarität»

Das Argument, die direkte Demokratie sei träge und verzögere den Innovationsprozess in der Schweiz, weist Geissbühler mit dem Argument zurück, dass nicht einmal 10 Prozent der Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden, im Rahmen eines Referendums dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Auch wenn die Schweiz ein liberaler Staat ist und der politische Liberalismus in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung eine wichtige Rolle gespielt hat, überwiegt in der Schweiz die soziale Solidarität. Im internationalen Vergleich «vertreten die Schweizerinnen und Schweizer […] also keineswegs (wirtschafts-)liberale Positionen». (S. 58) Geissbühler selbst steht dem Liberalismus nicht ablehnend gegenüber und sieht in ihm auch eine Triebfeder für den politischen und wirtschaftlichen Erfolg.
Weitere Wesenszüge, die für das Schweizer Staatswesen zentrale Bedeutung haben, werden thematisiert: das Milizwesen, die Milizarmee, die humanitäre Tradition usw. So stellt er fest, dass der legendäre Wehrwille der Schweizer geschrumpft ist. Zwei Drittel der Bevölkerung würden im Kriegsfall das Land verteidigen. Das ist das Resultat einer Stimmung, die sich auch darin zeigt, dass die Armee «in den letzten Jahren systematisch ausgehöhlt worden» ist. (S. 60) Neben der Milizarmee und der Verteidigungsbereitschaft, auch wenn es nur zwei Drittel der Bevölkerung sind, ist diese im Verhältnis zu unseren Nachbarstaaten Deutschland (37,4%) und Italien (43,4%) doch um einiges höher.
Eine Gefahr sieht Geissbühler im ständigen Ausbau des Sozialstaates. «Der Schweizer (Sozial-)Staat wurde in den letzten Jahrzehnten keineswegs ab-, sondern kontinuierlich ausgebaut.» (S. 104) Er kann, wenn man ihn zu weit treibt, bei einzelnen zur Passivität und zum Verlust der Eigenständigkeit führen. Für ihn ist es eine Gratwanderung zwischen Solidarität und Eigenverantwortung. «Während die Solidarität mit den Mitmenschen und ein gewisser Schutz unbestrittenermassen Werte beziehungsweise Ziele jeder Gesellschaft sein müssen, sind auch Solidarität und sozialer Schutz nicht grenzenlos.» (S. 76) Neben dem Ausbau des Sozialstaates sieht er eine zunehmende Bedrohung für die Freiheit des Individuums in der immer stärkeren Einmischung des Staates in das Privatleben sowie eine immer weiter greifende Regulierung des privaten und öffentlichen Lebens.

«Mehr Langfristigkeit und mehr Strategie im politischen Denken und Handeln»

Die Reformitis, die in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens Einzug gehalten hat, erkennt Geissbühler als Gefahr für die Souveränität und die direkte Demokratie. Besonders im Schulbereich lässt sich das feststellen, ein Bereich, der seit Jahren von einer Reform zu anderen getrieben wird, ohne dass sich die Qualität des Unterrichts und die Fähigkeiten der Schulabgänger verbessert hätten; das Gegenteil ist der Fall. «Freie Arbeit und offener Unterricht haben jedenfalls kaum einen positiven Effekt auf den Lernerfolg. Es gibt dagegen verschiedene neuere Studien, die zum Ergebnis kommen, dass Frontalunterricht besser ist als unstrukturierter, freier Unterricht.» (S. 98) Gefahren lauern auch in der Digitalisierung des Unterrichts, das Sucht­potential der sogenannten «sozialen Medien» ist immens. Kaum ein Schüler oder Student hält es aus, sein Smartphone während des Unterrichts nicht zu benutzen. Hier stehen wir vor einer Entwicklung, die mit Bildung und Ausbildung wenig zu tun hat. «Was heute mehr denn je fehlt, ist klassische Bildung. Gefragt wäre nicht der Sprint hinter dem Zeitgeist her, sondern echte Bildung, die Zeit und Geduld braucht, die Raum für die Entfaltung der Talente der Kinder lässt und die nicht einem kurzfristigen und illusorischen Investitionsdenken hinterherhechelt.» (S. 102)
Trotz aller Unbill oder, um mit den Worten der helvetischen Vorväter zu sprechen, trotz aller «Arglist der Zeit» sieht Geissbühler keinen Grund zum Pessimismus noch zum Fatalismus. Die negativen Entwicklungen in unserem Land sind nach seiner Auffassung selbstverschuldet und daher korrigierbar. «Diese Malaise begründet sich in den oben skizzierten negativen Trends, denen sich die Schweiz ausgesetzt sieht, die wir weitgehend selber verschuldet haben und gegen die wir zumindest bis jetzt zu wenig bis nichts unternehmen.» (S. 103) Gerade die Schweiz mit den Volksrechten wie Referendum und Initiative eröffnet Möglichkeiten, Fehlentwicklungen einen Stopp zu setzen und sich eines Besseren zu besinnen, als besinnungslos irgendwelchen internationalen Vorgaben zu folgen, die mit unserem Land, unserer (politischen) Kultur und unserer Art des Zusammenlebens nicht das Geringste zu tun haben. Darum braucht es nach Geissbühler «wieder mehr Langfristigkeit und mehr Strategie im politischen Denken und Handeln».
Wer die Wesenszüge der Schweiz und ihr hervorragendes Staatssystem erhalten will, findet im Buch von Simon Geissbühler eine überzeugende Unterstützung. •

«Keine absolutistische und zentralistische Tradition»

Simon Geissbühler rückt in den folgenden Kapiteln das Schweizer Staatswesen ins richtige Licht, indem er alle einzelnen Kritikpunkte sachlich und fundiert, auf einer Vielzahl von Quellen basierend, widerlegt. Zunächst begründet er historisch die herausragende Bedeutung der Konkordanz: «Die Konkordanz ist historisch bedingt. Ein fragiles Staatsgebilde, das aus verschiedenen Sprachen, Konfessionen, politischen Sensibilitäten und historischen Erfahrungen besteht, muss den Ausgleich und den Kompromiss suchen, sonst zerbricht es.» (S. 41) Die Bedeutung der Konkordanz ist auch eine soziale, «die uns immer wieder daran erinnert, dass es so etwas wie ein Gemeinwohl gibt […]» (S. 43)
Neben der Konkordanz ist die direkte Demokratie ein Markenzeichen der Schweiz. Bereits im Vorwort schreibt Geissbühler und bringt damit die Sache auf dem Punkt: «Sie [die Schweiz] hatte keine absolutistische und zentralistische Tradition und entwickelte sich nicht von oben, sondern von unten.» (S. 13) Dieser aus der Geschichte entstandene Sonderweg wird vor allem von EU-Befürwortern oder Internationalisten negiert, vielleicht auch in seiner staatspolitischen Bedeutung nicht erkannt. Die Schweiz, wenn sie sich treu bleibt, wird sich nie in ein zentralistisches von oben oktroyiertes System, wie es die EU in hohem Masse verkörpert, integrieren lassen. So sieht Geissbühler die Bedeutung der direkten Demokratie nicht nur in der politischen Unmittelbarkeit, sondern auch als Faktor der politischen Stabilität. «Die direkte Demokratie hat zu bemerkenswerter politischer Stabilität geführt, erhöht die Legitimität des politischen Systems und stärkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger im politischen Prozess.» Neben der Konkordanz sieht er in der direkten Demokratie eine einigende Wirkung. «Zudem ist die direkte Demokratie ein wichtiges Element des nationalen Zusammenhalts.» (S. 44) Auch räumt Geissbühler mit einigen Mythen auf, die immer wieder ins Feld geführt werden, warum zum Beispiel die direkte Demokratie und damit verbunden die Mitbestimmung des Volkes in politischen Sachfragen eine Überforderung darstelle und man solch schwere Entscheide lieber der Politik überlassen solle. «Das Argument, das Volk sei für die direkte Demokratie zu dumm, bedeutet in letzter Konsequenz, dass das Volk zu dumm ist für die Demokratie. Die Vorstellung, es sei schwieriger, einen konkreten Sachverhalt mit Ja oder Nein zu beantworten als unter Dutzenden und Hunderten von Kandidaten in einer Wahl denjenigen oder diejenige zu finden, der oder die am nächsten an den eigenen Präferenzen liegt, ist absurd.» (S. 47)

«Der Föderalismus ist bis heute ein prägendes, ja identitätsstiftendes Element»

Der Föderalismus bildet eine weitere wichtige Säule des Schweizer Staatwesens. Auch dieser hat verbindende und staatstragende Bedeutung. «Der Föderalismus ist bis heute ein prägendes, ja identitätsstiftendes Element der Schweiz.» (S. 54) Er fördert aber auch den «Wettbewerb zwischen den Kantonen und Gemeinden und [führt] so zu innovativen Lösungen». (S. 54) Auch hilft der Föderalismus «die Steuern niedrig zu halten […] und so verhindert der Föderalismus die Machtkonzentration».(S. 54)
Eine demokratische Tradition, wie sie die Schweiz aufweisen kann, wird von wenigen europäischen Staaten geteilt. Die wenigsten Länder in Europa können hier mithalten, schon gar nicht, wenn es um die Ausgestaltung der Demokratie geht. «Nicht alle europäischen Staaten haben eine so lange demokratische Tradition wie die Schweiz. Das in Europa wieder der Ruf nach einem starken Leader aufkommt und ernsthaft behauptet wird, autoritäre Systeme hätten erhebliche Vorteile, ist beklemmend.» (S. 63)

«Der einzige direktdemokratische Staat auf unserem Globus»

Neben den Institutionen und den drei politischen Ebenen der Schweiz mit weitreichenden politischen Kompetenzen ist die «politische Kultur ein wesentlicher Bestandteil der Schweizer Identität». (S. 55) Entscheidend bei der Bildung dieser Identitäten sind die historischen Wurzeln und deren Entwicklung. Dass die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess, in sicher noch beschränktem Masse, bereits im Mittelalter zu finden ist, hat es natürlich der Schweiz einfacher gemacht, die Gedanken der Aufklärung in die Staatsphilosophie zu integrieren, um die Schweiz zu dem zu machen, was sie heute ist. «Die Schweiz war in Europa das einzige Land, in dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts der ‹Liberalismus, der Föderalismus, die Demokratiebewegung und die Parlamentarisierung erfolgreich waren.›» (S. 56) Nach der Gründung des Bundesstaates kamen dann noch auf Bundesebene Referendums- und Initiativrecht dazu, so dass man mit Fug und Recht sagen kann, die Schweiz ist der einzige direktdemokratische Staat auf unserem Globus, und er funktioniert grundsätzlich gut. In mehreren Statistiken, die von der OECD in Auftrag gegeben wurden, belegt die Schweiz einen Spitzenplatz. Auch wenn gegenüber OECD-Umfragen und -Untersuchungen immer eine gewisse Skepsis angebracht ist, lassen sich zumindest aus dem Ranking im Ländervergleich einige Rückschlüsse ziehen.

«In der Schweiz überwiegt die soziale Solidarität»

Das Argument, die direkte Demokratie sei träge und verzögere den Innovationsprozess in der Schweiz, weist Geissbühler mit dem Argument zurück, dass nicht einmal 10 Prozent der Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden, im Rahmen eines Referendums dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Auch wenn die Schweiz ein liberaler Staat ist und der politische Liberalismus in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung eine wichtige Rolle gespielt hat, überwiegt in der Schweiz die soziale Solidarität. Im internationalen Vergleich «vertreten die Schweizerinnen und Schweizer […] also keineswegs (wirtschafts-)liberale Positionen». (S. 58) Geissbühler selbst steht dem Liberalismus nicht ablehnend gegenüber und sieht in ihm auch eine Triebfeder für den politischen und wirtschaftlichen Erfolg.
Weitere Wesenszüge, die für das Schweizer Staatswesen zentrale Bedeutung haben, werden thematisiert: das Milizwesen, die Milizarmee, die humanitäre Tradition usw. So stellt er fest, dass der legendäre Wehrwille der Schweizer geschrumpft ist. Zwei Drittel der Bevölkerung würden im Kriegsfall das Land verteidigen. Das ist das Resultat einer Stimmung, die sich auch darin zeigt, dass die Armee «in den letzten Jahren systematisch ausgehöhlt worden» ist. (S. 60) Neben der Milizarmee und der Verteidigungsbereitschaft, auch wenn es nur zwei Drittel der Bevölkerung sind, ist diese im Verhältnis zu unseren Nachbarstaaten Deutschland (37,4%) und Italien (43,4%) doch um einiges höher.
Eine Gefahr sieht Geissbühler im ständigen Ausbau des Sozialstaates. «Der Schweizer (Sozial-)Staat wurde in den letzten Jahrzehnten keineswegs ab-, sondern kontinuierlich ausgebaut.» (S. 104) Er kann, wenn man ihn zu weit treibt, bei einzelnen zur Passivität und zum Verlust der Eigenständigkeit führen. Für ihn ist es eine Gratwanderung zwischen Solidarität und Eigenverantwortung. «Während die Solidarität mit den Mitmenschen und ein gewisser Schutz unbestrittenermassen Werte beziehungsweise Ziele jeder Gesellschaft sein müssen, sind auch Solidarität und sozialer Schutz nicht grenzenlos.» (S. 76) Neben dem Ausbau des Sozialstaates sieht er eine zunehmende Bedrohung für die Freiheit des Individuums in der immer stärkeren Einmischung des Staates in das Privatleben sowie eine immer weiter greifende Regulierung des privaten und öffentlichen Lebens.

«Mehr Langfristigkeit und mehr Strategie im politischen Denken und Handeln»

Die Reformitis, die in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens Einzug gehalten hat, erkennt Geissbühler als Gefahr für die Souveränität und die direkte Demokratie. Besonders im Schulbereich lässt sich das feststellen, ein Bereich, der seit Jahren von einer Reform zu anderen getrieben wird, ohne dass sich die Qualität des Unterrichts und die Fähigkeiten der Schulabgänger verbessert hätten; das Gegenteil ist der Fall. «Freie Arbeit und offener Unterricht haben jedenfalls kaum einen positiven Effekt auf den Lernerfolg. Es gibt dagegen verschiedene neuere Studien, die zum Ergebnis kommen, dass Frontalunterricht besser ist als unstrukturierter, freier Unterricht.» (S. 98) Gefahren lauern auch in der Digitalisierung des Unterrichts, das Sucht­potential der sogenannten «sozialen Medien» ist immens. Kaum ein Schüler oder Student hält es aus, sein Smartphone während des Unterrichts nicht zu benutzen. Hier stehen wir vor einer Entwicklung, die mit Bildung und Ausbildung wenig zu tun hat. «Was heute mehr denn je fehlt, ist klassische Bildung. Gefragt wäre nicht der Sprint hinter dem Zeitgeist her, sondern echte Bildung, die Zeit und Geduld braucht, die Raum für die Entfaltung der Talente der Kinder lässt und die nicht einem kurzfristigen und illusorischen Investitionsdenken hinterherhechelt.» (S. 102)
Trotz aller Unbill oder, um mit den Worten der helvetischen Vorväter zu sprechen, trotz aller «Arglist der Zeit» sieht Geissbühler keinen Grund zum Pessimismus noch zum Fatalismus. Die negativen Entwicklungen in unserem Land sind nach seiner Auffassung selbstverschuldet und daher korrigierbar. «Diese Malaise begründet sich in den oben skizzierten negativen Trends, denen sich die Schweiz ausgesetzt sieht, die wir weitgehend selber verschuldet haben und gegen die wir zumindest bis jetzt zu wenig bis nichts unternehmen.» (S. 103) Gerade die Schweiz mit den Volksrechten wie Referendum und Initiative eröffnet Möglichkeiten, Fehlentwicklungen einen Stopp zu setzen und sich eines Besseren zu besinnen, als besinnungslos irgendwelchen internationalen Vorgaben zu folgen, die mit unserem Land, unserer (politischen) Kultur und unserer Art des Zusammenlebens nicht das Geringste zu tun haben. Darum braucht es nach Geissbühler «wieder mehr Langfristigkeit und mehr Strategie im politischen Denken und Handeln».
Wer die Wesenszüge der Schweiz und ihr hervorragendes Staatssystem erhalten will, findet im Buch von Simon Geissbühler eine überzeugende Unterstützung. •

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