Ohne intakte Grundversorgung keine solide Staats- und Wirtschaftsordnung

Ohne intakte Grundversorgung keine solide Staats- und Wirtschaftsordnung

Worauf es bei den kommenden Wahlen ankommt

von Reinhard Koradi

Die Grundversorgung durch die öffentliche Hand wird heute unter dem Begriff «Service public» diskutiert. Hinter der neuen Namensgebung steht auch ein Gesinnungswandel. Ursprünglich entsprang die Grundversorgung einer auf die gegenseitige Unterstützung ausgerichteten gesellschaftspolitischen Tradition und wurde von einem umfassenden staatspolitischen Verständnis getragen. Bewusst wurde die Grundversorgung als existenzsicherndes Fundament aufgebaut und weiterentwickelt. So gelang es über Generationen hinweg, ein bei den Schweizerbürgern gut verankertes Fundament für das Allgemeinwohl und die Chancengleichheit zu etablieren. Mit einer gut entwickelten Infrastruktur legte das rohstoffarme Land Schweiz den Grundstein für den sehr attraktiven Lebensraum und Werkplatz Schweiz. Sowohl die Lebensqualität für die Bevölkerung als auch die Qualität des Wirtschaftsstandortes Schweiz haben sich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt und auf einem hohen Niveau etabliert. Der Staat schuf zum Nutzen aller eine ausgereifte, quantitativ und qualitativ hochstehende Infrastruktur für periphere Regionen wie auch für die Agglomerationen. Bewusst wurde eine Politik der dezentralen Besiedelung verfolgt und ländliche Räume und Berggebiete mit dem Ziel gefördert, die gesellschaftliche Kohäsion in unserem Land zu stärken.
In der Raumplanung, Verkehrs-, Siedlungs- und Agrarpolitik sowie der Ausgestaltung der Grundversorgung nahmen Integration und innerer Zusammenhalt einen zentralen Stellenwert ein, ohne schweizerische Werte wie Eigenverantwortung und Eigenleistung oder gar das Subsidiaritätsprinzip auszublenden.
Geschaffen wurden Grundlagen für eine hohe Leistungsfähigkeit und -bereitschaft in der Bevölkerung, für eine ehrliche Chancengleichheit, für Stabilität und eine verlässliche Existenzsicherheit.
Pfeiler dieser öffentlichen Versorgung waren respektive sind das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Verkehrsinfrastruktur (inklusive Post und Telefon), Recht und Sicherheit, Landesverteidigung, die Energie- und Wasserversorgung sowie die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung im eigenen Land. Last but not least wurde die Verwaltung als Dienstleister aufgebaut und geführt. All diese Aufgabenbereiche orientierten sich am Ziel, dem Bürger zu dienen. Den involvierten Aufgabenträgern (Exekutive, Verwaltung und öffentliche Unternehmen) wurde der «Dienst am Bürger» abverlangt. Selbstverständlich lag es an den Bürgern respektive den Steuerzahlern, diese existenzsichernde Grundversorgung für alle – ohne Klassifizierung nach Vermögen und Einkommen – zu finanzieren. Durch die direkte Demokratie übten die Bürger aber auch das Bestimmungs- und Kontrollrecht über die Grundversorgung in unserem Land aus. Gleichzeitig bot die in unserem Land tief verankerte Genossenschaftsidee die notwendige Flexibilität – durch Eigeninitiative und Eigenleistung Versorgungslücken durch die Gründung von Genossenschaften zu schliessen.

Effektivität statt Kohäsion

In den letzten Jahren traten an die Stelle von Solidarität und innerem Zusammenhalt Effizienz und Effektivität. Unter dem zum Teil künstlich aufgebauten Kostendruck wurde wegrationalisiert, was sich als nicht lohnenswert herausstellte. Im Schlepptau der Globalisierungspropaganda setzte sich die neoliberale Wirtschaftsdoktrin immer mehr durch. Bisherige Auffassungen über das Wirtschaften und Zusammenleben wurden – obwohl vielfach bewährt – durch die Definition des «freien Marktes» und die undifferenzierte Anwendung des Prinzips der Wirtschaftlichkeit ausser Kraft gesetzt. Um dem globalen Wettbewerb gewachsen zu sein, ­mussten die bisherigen Strukturen aufgeweicht und letztlich durch weltmarktfähige Wirtschaftseinheiten ersetzt werden. Kleine und mittlere Unternehmen verschwanden oder mutierten durch Fusionen und Übernahmen zu Global playern. Nicht rentable Leistungen wurden rigoros aus dem Angebot gestrichen. Wertvolle Arbeitsplätze fielen dem Kostendruck oder genauer der Renditenoptimierung ebenso zum Opfer wie Produkte und Dienstleistungen, deren Nutzenpotential als zu gering taxiert wurde. Bis anhin als strategisch wichtig eingestufte öffentliche Aufgaben wurden zurückgebunden respektive dem freien Markt zugeführt (Privatisierung der Gemeindewerke, Wasser- und Energieversorgung, Transport und Telefon).
Die Ökonomisierung des Lebens untergräbt grundlegende Werthaltungen in unserer Gesellschaft und wird längerfristig existenzgefährdende Lücken hinterlassen. Der innere Zusammenhalt zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen den Generationen wird zersetzt. Durch die Ausmusterung der kostentreibenden «Risikogruppen» aus dem Effizienzprogramm für die Grundversorgung laufen wir Gefahr, in eine Zweiklassen-Gesellschaft abzusinken.

Am Anfang steht die Ernährung

Unabdingbarer Bestandteil der Grundversorgung ist die Ernährungssicherheit. Allerhöchste Priorität ist daher der Lebensmittelproduktion im eigenen Land zuzuordnen. Vielleicht fehlt dem einen oder anderen die Vorstellungskraft, um nachzuvollziehen, was eine hungernde Bevölkerung für einen souveränen Staat bedeutet. Allein der Blick in die Krisengebiete genügt, um die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch den Hunger zu erkennen. Obschon immer wieder propagiert – der freie Markt hat bis anhin noch nie zur Lösung des Hunger- und Armutsproblems beigetragen. Die vor allem in Regierungskreisen vorherrschende Meinung, die Schweiz könnte allfällige Engpässe in der Lebensmittelversorgung in Krisenzeiten über den freien Marktzugang kompensieren, ist schlichtweg falsch.
In der Bundesverfassung verfolgen die Vorgaben für die einheimische Landwirtschaft dann auch versorgungspolitische Ziele. Trotzdem betreibt der Bundesrat eine Landwirtschafts- und damit eine Versorgungssicherheitspolitik, die die Schweizer Bevölkerung bei Versorgungskrisen in eine existenzielle Not treiben kann. Die Haltung des Bundesrates zur Forderung nach Ernährungssouveränität oder -sicherheit spricht auf jeden Fall nicht für eine staatsmännisch verantwortungsbewusste Versorgungspolitik. Diese Verantwortung an den freien Markt zu delegieren, verlangt eine Korrektur durch das Parlament oder in letzter Instanz durch das Volk.
Hauptsächlich über die Neugestaltung der Direktzahlungen (früher Bundessubventionen) wird die einheimische Landwirtschaft und damit auch die Versorgungssicherheit ausgeforstet. Getreu den Regeln des neoliberalen Wirtschaftens werden staats-, sozial- und versorgungspolitische Aspekte aus der Landwirtschaftspolitik verdrängt. Der bewusst angepeilte Strukturwandel (kleine Bauernhöfe müssen zugunsten von grösseren Betrieben verschwinden; sprich Indu­strialisierung der Landwirtschaft) und die geforderte preisliche Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Agrarmärkten löste ein irreversibles Bauernsterben aus und gefährdet damit die existenzsichernde Lebensmittelversorgung durch die einheimische Produktion respektive öffnet eine staatsgefährdende Lücke im Abwehrdispositiv unserer Souveränität.

Neue Freiheiten für das neoliberale Wirtschaftsdiktat

Neue Freiheiten wurden definiert: Freier Personen-, Güter-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr. Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit auf Weltmarktpreisniveau setzten sich als dominante Parameter für eine vermeintlich erfolgversprechende Wirtschaftspolitik durch. Im Windschatten dieser Zielvorgaben wurde ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen Kulturen, landesspezifischen Fähigkeiten, nationalen Rahmenbedingungen und staatspolitischen Interessen ein Nivellierungsteppich über die einst mit unterschiedlichsten Leistungsprofilen und Wettbewerbsvorteilen ausgestatteten Volkswirtschaften Europas gelegt. Deregulierung, Liberalisierung und die sehr eng definierte Wettbewerbsfähigkeit über den Preis führten zu Uniformität, Gleichmacherei und schalteten schlussendlich den Wettbewerb aus. Beispielhaft ist die Entwicklung der italienischen und französischen Automobilindustrie. Peugeot, Renault, Fiat, einst Pioniere auf dem internationalen Automarkt, kämpfen ums Überleben und haben ihre Unabhängigkeit längst verloren.
Im Zusammenhang mit den vier Freiheiten wurden die Grenzen marginalisiert, Freihandelszonen geschaffen und Freihandelsverträge abgeschlossen. Verträge, die weit über den reinen Güterverkehr hinauswirken, indem sie den Vertragspartnern fremdes Recht aufzwingen und damit die Souveränität der Nationalstaaten massiv aushöhlen. Die Folge solcher Verträge ist auch der Verlust der eigenverantwortlichen Einflussnahme und Gestaltung der Wirtschaftspolitik im eignen Land. Die «unsichtbare Hand» wird alles zum Guten wenden, so das Losungswort. Inzwischen erleben wir und können am Beispiel Griechenland beobachten, wohin die Reise führt, wenn der anonyme Markt das Diktat übernimmt. Hohe Arbeitslosigkeit, Wirtschafts- und Finanzkrise prägen das aktuelle Wirtschaftsgeschehen, und die Politik scheint machtlos dem Geschehen ausgeliefert zu sein. Doch der Schein trügt. Es gibt keine «unsichtbare Hand». Vielmehr sind es handfeste Interessen der Hochfinanz und in deren Schlepptau geblendete Politiker, die uns ein Wirtschaftskonzept aufzwingen, das viele Verlierer und eine kleine Elite von Gewinnern hervorbringt. Unter diesem Aspekt müssen wir die aktuellen Wirtschaftsentwicklungen, die Verschuldung der Staaten und die Plünderung der Bürger durch den Fiskus einordnen. Inzwischen haben die «Heuschrecken» noch ein weiteres lohnendes Objekt ins Visier genommen, und die Politik spielt gehorsam mit. Die sogenannten öffentlichen Märkte sollen dem Kapital zugeführt werden. Diese Märkte weisen ein erhebliches Gewinnpotential aus, da sie existenzielle Bedürfnisse abdecken und die Menschen nur schwer ausweichen können. Über die WTO (Welthandelsorganisation) wurde der Prozess bereits eingeleitet und entsprechende Verträge unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgehandelt.

New Public Management

Neuseeland und Australien sind die Ursprungsländer der neuen Managementpraxis öffentlicher Verwaltungen und Unternehmen. Die Reformwelle unter dem Namen New Public Management (NPM) breitete sich über die USA sowie Grossbritannien aus und erfasste schliesslich auch das europäische Festland. Versprochen wurden ein Abbau der Bürokratie und eine Modernisierung der öffentlichen Verwaltungen. Wirkungs-, effizienz- und kundenorientiert sollen die öffentlichen Verwaltungen ihre Aufgaben zukünftig erfüllen. Interessanterweise hat NPM vor allem die Macht der Verwaltung gegenüber der Exekutive und der Legislative erheblich gestärkt. Der Bürger in der Rolle des Kunden ist nur noch Nachfrager und nicht mehr Gestalter der öffentlichen Dienste. Dieser Rollentausch muss erst einmal durchschaut und analysiert werden. Heute sagen die Verwaltungen dem Kunden, was er zu tun hat, früher waren es die Bürger, die der Verwaltung Aufträge und Kompetenzen erteilten. Besonders auffällig sind die Eigendynamik innerhalb der Verwaltungen, der damit verbundene, rasant ansteigende Administrations- und Personalbedarf und die immer mehr um sich greifende Bevormundung der Bürger durch die Verwaltung (Bundesamt für Gesundheit, Bundesamt für Landwirtschaft usw.). Der administrative zentralisierte Kontroll­aufwand ist in den letzten Jahren ins Uferlose gestiegen und steigt mit jeder Reform (Bildung, Gesundheit) weiter an, belastet «die Auskunftspflichtigen» derart, dass sie ihre ursprüngliche Arbeit kaum mehr erfüllen können. Genau genommen ist NPM Schweiz-untauglich. New Public Management strapaziert nicht nur den Grundsatz der Gewaltentrennung, sondern auch die direkte Demokratie und das Milizsystem.
NPM ist denn auch gar nichts anderes als der Versuch, die öffentlichen Aufgaben marktfähig zu machen. In einem ersten Schritt werden sie der Bestimmung und Kontrolle durch den Bürger entzogen (öffentliche Schulen/Schulpflege/Schulleitung) und in einem zweiten Schritt privatisiert (Swisscom oder private Spitex). Die Kommerzialisierung der öffentlichen Aufgaben entfernt sowohl das Gesundheitswesen (Spitallisten/Fallpauschale usw.) wie auch die Post (Schliessung von nicht rentablen Poststellen) und die SBB immer mehr von dem ursprünglichen Auftrag, einen Beitrag zur Kohäsion und damit zum inneren Zusammenhalt zu leisten. Vor allem rentable Bereiche innerhalb der Grundversorgung werden für Investoren immer attraktiver und für den freien Markt entsprechend aufgemotzt.
Die Teppiche für den Weg in die neoliberale Zukunft der Grundversorgung werden bereits ausgerollt. TiSA (Trade in Services Agreement) heisst das Abkommen, das die USA, Kanada, Japan, Australien, die Schweiz, die EU und einige Länder in Asien und Lateinamerika derzeit hinter verschlossenen Türen verhandeln. (Zeit-Fragen berichtete mehrfach über dieses Abkommen.) Die Verhandlungspartner nennen sich «really good friends of services», also die «sehr guten Freunde von Dienstleistungen». Sie treffen sich seit Juni 2013 regelmässig hinter verschlossenen Türen in der australischen UN-Botschaft in Genf. Geheim, weil sie eine öffentliche Diskussion um die Privatisierung der Grundversorgung scheuen. Das bedeutet für uns, dass es um ein sehr gewichtiges Vorhaben geht und wir die Gestaltung der Grundversorgung mit existenziellen Produkten und Dienstleistungen nicht aus der Hand geben dürfen.

Inneren Zusammenhalt und Solidarität mehr gewichten

Es gibt viele Gründe, um gegen die «Vermarktung» von Kohäsion und Solidarität anzukämpfen. Die Frage stellt sich nur, wo sollen wir ansetzen? Im Vordergrund steht eine Rückbesinnung auf die tragenden Säulen einer soliden zukunftsfähigen Volkswirtschaft. Dabei ist die Existenzsicherung für die Bevölkerung von zentraler Bedeutung. In unserem Land geht es um Selbstbestimmung, Handlungsspielräume bei der Ausgestaltung der Sicherheits-, Sozial-, und Wirtschafts­politik. In den letzten Jahrzehnten wurden diese Handlungsspielräume erheblich ausgeforstet. Eine Wiederaufforstung drängt sich auf. Und wie das Jungholz in den Wäldern braucht die Rückeroberung unserer Souveränität relativ viel Zeit. Wir werden Etappenziele stecken müssen. Die erste Etappe umfasst die Einsicht, dass es Wirtschaftsbereiche gibt, bei denen das öffentliche Interesse höher einzuordnen ist als Rendite, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumsperspektiven. In der zweiten Etappe geht es um die Schadensminderung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Grundversorgung zukünftig nicht mehr Bestandteil von Freihandelsabkommen ist. Das bedeutet selbstverständlich eine klare Zurückweisung von TTIP und TiSA. Ebenso sind die Verhandlungen mit der EU so zu führen, dass die für unser Land existenzsichernde Grundversorgung eine innere Angelegenheit bleibt und die Einmischung von aussen unterbunden wird. In der nächsten Etappe geht es dann um die zukünftige Ausgestaltung der Grundversorgung in der Schweiz. Dabei dürfte die Rückbesinnung auf grundlegende Werte und eine stärkere Gewichtung von Kohäsion und Solidarität zielführend sein. Diese Rückbesinnung kann in der Schweiz dank der direkten Demokratie vom Volk ausgehen. Packen wir diese Chance. Am 18. Oktober 2015 ist Wahltag. Wählen wir Volksvertreter in den Stände- und Nationalrat, die ihre Verantwortung gegenüber den Wählern ernsthaft wahrnehmen und sich für die Freiheit und Unabhängigkeit der Schweiz einsetzen.    •

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK