Direkte Demokratie benötigt historisches Wissen

Direkte Demokratie benötigt historisches Wissen

von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie*

In der Schweiz haben die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie in den letzten 200 Jahren zu einem weltweit einmaligen Modell entwickelt. Die direkte Demokratie ist fester Bestandteil der politischen Kultur und das Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg. Diese Fakten müssten Grund genug sein, dass Entstehung und Entwicklung der direkten Demokratie ein gewichtiges Forschungsthema der schweizerischen Geschichtswissenschaft darstellten. Dem ist aber nicht so. Obwohl in den letzten Jahren mit einigen Detailstudien die Erforschung der direkten Demokratie in der Schweiz gefördert wurde, liegen viele Forschungsfelder brach.

Paradigmenwechsel

Was ist der Grund für diese Misere? Zweifellos hat dieser Zustand mit dem Paradigmenwechsel zu tun, der sich in den 1970er und 1980er Jahren in der Geschichtswissenschaft vollzog. Gewisse Historikerkreise forcierten eine «Histoire totale», das heisst, sie unternahmen den Versuch, die Geschichte multiperspektivisch zu betrachten und besonders die Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte in den Mittelpunkt zu rücken. Die so forcierte Öffnung der Disziplin erreichte oft das Gegenteil, nämlich eine ideologische Verengung. Das wird auch heute weiter gepflegt. Anstatt politische Geschichte und Ideengeschichte mit einzubeziehen, versteigt man sich in postmoderne Theorien, die keine Erkenntnisgewinne bringen. Die direkte Demokratie wird dabei entweder verhöhnt oder man verharrt in alten Denkmustern, da seriöse Forschungen fehlen. Höchst problematisch ist, dass heutzutage namhafte Vertreter des postulierten Paradigmenwechsels diverse Lehrstühle besetzen und jegliche Versuche blockieren, die Historiographie aus dieser Sackgasse zu führen. Ein eigentlicher Lehrstuhl für Schweizer Geschichte existiert nicht mehr. Gerade die direkte Demokratie benötigt aber historisches Wissen, um deren Wert bewusst zu machen und sie weiter entwickeln zu können.

Theorie der direkten Demokratie

Die direkte Demokratie in der Schweiz entwickelte sich im 19. Jahrhundert sehr unterschiedlich, aber immer von unten nach oben, also aufbauend auf den politischen Gemeinden über die jeweilige Kantons- bis hin zur Bundesebene. Tragend in diesem Prozess waren die theoretischen Elemente des Genossenschaftsprinzips, des christlichen und modernen Naturrechts sowie der Volkssouveränität.
Wie der Name der «Eidgenossenschaft» schon andeutet, geniesst das genossenschaftliche Prinzip in der Schweiz eine lange Tradition. Es beinhaltete eine gemeinschaftsbildende und integrierende Kraft, ohne die eine Willensnation Schweiz nicht hätte entstehen können.
Das christliche Naturrecht erhielt durch die spanische Schule von Salamanca im 16. Jahrhundert ein personales Fundament. Sie betonte die angeborene Gleichheit und die natürliche Freiheit des Menschen sowie seine gemeinschaftsbildende Sozialnatur. Die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts entwickelte auf dieser Basis das moderne Naturrecht, das auch in der Schweiz rege diskutiert wurde (vgl. etwa die Westschweizer Naturrechtsschule).
Der Genfer Jean-Jacques Rousseau beschrieb in seinem «Gesellschaftsvertrag» die Idee einer naturrechtlich begründeten Volkssouveränität. Seine Überlegungen waren zentral, um direktdemokratische Instrumente zu entwickeln.
Auf dieser theoretischen Grundlage schufen in der Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ländliche Volksbewegungen die ersten direktdemokratischen Volksrechte. Sie setzten diese gegen teilweise sehr heftigen, vornehmlich liberalen Widerstand durch. Dies zeigen diverse kantonale Beispiele.

Das Beispiel Baselland

In Baselland forcierten liberale Kreise ab 1830 die demokratische Entwicklung. Sie vertraten als kleine liberale Führungsschicht das Prinzip der Repräsentation. Die Volkssouveränität sollte sich in der Wahl der Legislative erschöpfen und nicht durch weitere Volksrechte konkretisiert werden. Schnell formierte sich dagegen eine Opposition aus der ländlichen Bevölkerung, die sogenannten «Bewegungsleute». Diese waren radikal denkende Freisinnige, die aus jakobinisch-frühsozialistischer Überzeugung für weitergehende Volksrechte eintraten. Sie setzten sich besonders für eine Vorform des heutigen fakultativen Referendums ein, das Gesetzesveto. Im Zuge der Trennung von Basel-Stadt verbuchten die «Bewegungsleute» bald einen ersten Erfolg. 1832 gab sich Baselland die erste, eigenständige Verfassung und verankerte darin das Gesetzesveto. Die ersten politischen Erfahrungen waren gut. In den kommenden Jahrzehnten wurde die direkte Demokratie – wie in anderen Kantonen auch – gezielt weiterentwickelt. So baute man das Veto zu einem obligatorischen Referendum aus. Damit konnte die Bevölkerung – ganz im Sinne Rousseaus – über jedes Gesetz befinden.

Das Beispiel Luzern

Der Kanton Luzern hatte 1831 erstmals eine Verfassung per Volksabstimmung angenommen. Die 31er Verfassung war primär ein Produkt liberaler Kreise und war dank ihres demokratischen Charakters ein grosser Fortschritt. Die Demokratie war aber eine repräsentative, das heisst, abgesehen von Wahlen gab es für die Bevölkerung keine Möglichkeit, die Politik aktiv mitzugestalten. Die Katholisch-Konservativen, auch «ländliche Demokraten» genannt, hatten eine andere Vorstellung von Volkssouveränität. Sie wollten der Bevölkerung viel mehr Mitsprache sichern. Um das zu erreichen, formierte sich eine ländliche Volksbewegung. Nach einer intensiven politischen Debatte drängten die «ländlichen Demokraten» 1841 auf eine Totalrevision der Verfassung. Die katholisch-konservativ geprägte sogenannte «Siebzehnerkommission», welche die Aufgabe hatte, eine neue Verfassung vorzubereiten, erläuterte zum ersten Verfassungsparagraphen:
«Es wird ausgesprochen, dass der Freistaat nicht etwa bloss ein demokratisch-repräsentativer, sondern ein demokratischer sei. Im demokratischen Staate ist der Volkswille, die wahre öffentliche Meinung, die sich nur vor Gott, der Religion und der Gerechtigkeit beugt, das höchste Gesetz; im demokratisch-repräsentativen Staat hingegen wird der Wille des Volks an die Stellvertreter desselben abgetreten, und es bleibt dem Volke selbst nur der Schatten der eigentlichen Souveränität.»
Die Luzerner Bevölkerung nahm noch im selben Jahr die Verfassung mittels einer Volksabstimmung an. Die neue Verfassung stellte einen Meilenstein für die weitere Entwicklung der direkten Demokratie dar. Entscheidend waren die Einführung von Volksrechten: die Volksinitiative auf Total- oder Partialrevision der Verfassung, das obligatorische Verfassungsreferendum sowie das Gesetzesveto. Nirgendwo sonst in der Schweiz besass damals eine Bevölkerung so viel politische Macht. Der einige Jahre später einsetzende Sonderbundskrieg machte zwar einiges wieder zunichte, doch die Durchsetzung der direkten Demokratie auf kantonaler Ebene konnte nicht mehr aufgehalten werden.

Liberales Geschichtsbild korrigieren

Oskar Vasella, ein katholischer Schweizer Historiker, der von seinen Fachkollegen ignoriert wurde,  schrieb in seinem Essay «Zur historischen Würdigung des Sonderbunds» zutreffend, dass gerade in der Beurteilung des katholischen Konservatismus «eine grössere Freiheit im geschichtlichen Denken» nötig sei, um die Vorgeschichte der Bundesstaatsgründung wahrheitsgetreuer darzustellen. Dasselbe gilt auch für die Bedeutung des Frühsozialismus. Die Frühsozialisten waren zumeist Föderalisten und traten für ein dezentrales politisches System und für mehr Volksrechte ein. Die später sich formierende linke Bewegung adaptierte zumeist die marxistische Ideologie, die zentralistisch ausgerichtet war und deren Menschenbild nicht mehr naturrechtlich, sondern klassenkämpferisch fundiert war.
Die Katholisch-Konservativen und die Frühsozialisten gehören zu den politischen Verlierern in der Schweiz. Sie haben aber die Geschichte des Bundesstaates ebenso geprägt wie die Liberalen. Die Sieger des Sonderbundskrieges mussten einen langen Lernprozess durchstehen, bis sie die direkte Demokratie akzeptierten und ihren Dünkel gegenüber dem «Volk» ablegten. Die Schweiz wäre kein föderalistisches und direktdemokratisches Staatswesen geworden, wenn sich die liberalen, antiklerikalen und zum Teil auch zentralistischen Elemente widerstandslos durchgesetzt hätten. Die liberale Sieger-Geschichtsschreibung muss dringend korrigiert werden.    •

*    Der Autor ist promovierter Historiker, Gymnasiallehrer und Leiter des «Forschungsinstituts direkte Demokratie» (www.fidd.ch)

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