Gesucht: Volksvertreter, die nicht mit einem Auge nach Brüssel schielen

Gesucht: Volksvertreter, die nicht mit einem Auge nach Brüssel schielen

National- und Ständeratswahlen am 18. Oktober 2015

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

In drei Wochen wird in der Schweiz der Nationalrat gewählt, in fast allen Kantonen stehen auch die Ständeräte zur Wahl. Ein für den Weiterbestand der föderalistischen, direktdemokratischen und neutralen Schweiz zentrales Wahlthema ist das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union. Während früher verschiedene politische Parteien den EU-Beitritt in ihrem Programm hatten, stehen im Wahljahr 2015 nur die Sozialdemokraten und die Grünen offen dazu, dass sie die EU-Mitgliedschaft anstreben, weil die Schweiz dann gemäss SP-Positionspapier «volles Mitspracherecht» hätte. (Wieviel Mitspracherecht die vielen, theoretisch gleichberechtigten Kleinstaaten neben den Grossmächten in der EU haben, steht allerdings in den Sternen!) Die übrigen politischen Parteien sind für die «Weiterführung des Bilateralen Weges», allerdings mit sehr unterschiedlicher Spannweite. So verlangen die einen – trotz der vom Souverän bestimmten Pflicht der Bundesbehörden, die Zuwanderung wieder selbst zu steuern – die Weiterführung der Personenfreizügigkeit bzw. die Ausweitung der Bilateralen Verträge um jeden Preis. Auch vor einem von der EU diktierten Rahmenabkommen schrecken viele Kandidaten nicht zurück. Demgegenüber steht die Forderung anderer Kandidaten: «Keinen Anschluss an die EU und keine Anerkennung fremder Richter, damit wir selber unsere Geschicke bestimmen können». Wir Bürger haben am 18. Oktober die Wahl.

Wem es vor den Abstimmungen über die Bilateralen I (Mai 2000) und Schengen-Dublin (Juni 2005) nicht klar war, der konnte inzwischen zur Genüge erleben: Die Schweiz wird von der EU nicht als gleichberechtigter Vertragspartner gesehen und behandelt, sondern soll sich gefälligst den jeweiligen Befindlichkeiten und sogenannten Rechtsentwicklungen des mächtigen Partners anpassen. Den laufenden Forderungen der Grossmacht nachzukommen, damit sind seit Jahren der Bundesrat und seine Mannschaft in der Bundesverwaltung und der Diplomatie sowie leider auch etliche Parlamentarier eifrig beschäftigt. «Autonomer Nachvollzug» wird die Umsetzung der Ansinnen der EU-Gremien in Schweizer Recht schönfärberisch genannt.
Erinnern Sie sich an den «Grossen Stucki»? In Zeit-Fragen Nr. 23 vom 1.9.2015 wurde dieser in jeder Beziehung grosse Schweizer Verhandlungsführer vorgestellt, der sich dem nationalsozialistischen Regime in den Dreissiger Jahren ebenso unerschrocken entgegenstellte wie den drei westlichen Allierten 1946 in New York. Bedauerlicherweise sind die heutigen Schweizer Verantwortungsträger nur selten aus demselben Holz geschnitzt.

Institutionelles Rahmenabkommen: Abschied von der souveränen Schweiz

Offenbar genügt der folgsame «autonome Nachvollzug» durch die Mehrheit des Bundesrates und der Bundesversammlung den EU-Machthabern nicht. Mit ihrer eigenartigen Gier nach prinzipiellen und vermeintlich unanfechtbaren Regelungen – wie etwa den idealen Massen einer Gurke oder eines Chüngelistalls – pocht die EU-Kommission gegenüber der Schweiz auf «Mechanismen, die eine einheitlichere und effizientere Anwendung bestehender und zukünftiger Verträge im Marktzugangsbereich gewährleisten sollen». In verständliches (Schweizer) Deutsch übersetzt: Der EU-Kommission passt es nicht, dass die Schweizer Behörden ewigs das cheibe Stimmvolk im Nacken haben, das auch noch ein Wörtchen mitreden will und ab und zu der «einheitlichen» Anwendung von EU-Recht auf Schweizer Territorium eine Absage erteilt. Und «effizienter» könnte die EU-Bürokratie – unter Assistenz unserer Bundesverwaltung – schon vorankommen, wenn nicht bei jeder gewichtigeren Neuregelung die Referendumsfrist von 100 Tagen und womöglich sogar eine Volksabstimmung mit unsicherem Ausgang abgewartet werden müsste.
Nun, von einem Grossmacht-Gebilde kann man ja auch nichts Besseres erwarten. Viel bedenklicher ist aber, dass der Bundesrat offenbar nichts dagegen einzuwenden hat, sich vom souveränen Schweizer Bundesstaat zu verabschieden, indem er der EU fundamentale Eingriffe in unseren Rechtsstaat erlauben will. Ein institutionelles Rahmenabkommen soll nämlich erstens regeln, wie die bilateralen Verträge den einseitigen Änderungen des EU-Acquis angepasst würden, wie die EU zweitens die korrekte Anwendung der Abkommen (auf Schweizer Territorium) überwachen kann, wie drittens eine «homogene Auslegung der bilateralen Abkommen sichergestellt werden» kann und welche Instanz viertens bei Unstimmigkeiten zwischen der Schweiz und der EU entscheiden soll (vgl. «Institutionelle Fragen: Informationsblatt», in: <link https: www.eda.admin.ch>www.eda.admin.ch).
Die Instanz, welche die Schweizer Anwendung von EU-Recht überwachen, einheitlich auslegen und über Streitigkeiten entscheiden würde, wäre sicher nicht das Schweizerische Bundesgericht, sondern der Europäische Gerichtshof EuGH, der bei Prozessen zwischen der EU-Kommission und einem EU-Mitgliedstaat nur ganz selten zugunsten des Mitgliedstaates entscheidet – geschweige denn für das Nicht-Mitglied Schweiz. Oder es wäre der sogenannte Efta-Gerichtshof, der tatsächlich mit der Efta nichts zu tun hat, sondern nach Aussage seines (Schweizer) Präsidenten Carl Baudenbacher dafür sorgt, dass dessen Entscheide gegenüber den EWR-Staaten Norwegen, Liechtenstein und Island den EuGH-Entscheiden entsprechen. Baudenbacher selbst nennt den Efta-Gerichtshof den «kleinen Bruder des EuGH» (vgl. Zeit-Fragen Nr. 26 vom 21.8.2013).
Zusammenfassend in einem Satz: Mit einem institutionellen Rahmenabkommen könnten Verträge, welche die Schweiz mit der EU abschliesst, jederzeit einseitig durch die EU abgeändert oder «homogen ausgelegt» werden, und falls uns das nicht passt, gibt der EuGH den Tarif durch: Fremdes Recht und fremde Richter!

So etwa würde es mit einem institutionellen Rahmenabkommen laufen

Ein aktuelles Beispiel ist die «Weiterentwicklung» des Schengen-Dublin-Abkommens durch die EU-Kommission: Für die Plazierung der Flüchtlinge in den EU-Mitgliedstaaten soll ein permanenter Verteilschlüssel festgelegt werden. Laut EU-Kommissionspräsident Juncker soll die Schweiz – zusammen mit den EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein – in den von Brüssel diktierten Verteilschlüssel eingeplant werden und «ohne Ausnahmen das Dublin-Recht und seine Weiterentwicklung akzeptieren». Andernfalls «werden die betreffenden Abkommen beendet», so liess sich die EU-Kommission gemäss Tagespresse verlauten.
Nicht, dass wir Schweizer nicht bereit wären, Flüchtlinge oder andere schutzbedürftige Menschen aufzunehmen. Wir tun dies seit jeher, denn der Schutz verfolgter Menschen ist Teil unseres Staatsverständnisses. Als Depositarstaat der Genfer Konventionen und Sitz des IKRK ist es für die Schweiz und für uns Schweizer selbstverständlich, unseren Beitrag zu leisten, sei es durch die Gewährung des Asylrechts oder die vorläufige Aufnahme von Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, sei es durch humanitäre Hilfe in den Flüchtlings- und Vertriebenenlagern vor Ort.
Aber: Den Verteilschlüssel der EU-Kommission – der übrigens durch die Mitgliedstaaten noch gar nicht abgesegnet ist – ganz einfach zur «Weiterentwicklung» des Schengen-Dublin-Abkommens zu erklären und jeden Widerspruch schon im voraus mit der Kündigungsdrohung abzuklemmen, ist dicke Post. Obwohl wir die Drohung ja eigentlich gelassen nehmen könnten, denn wir brauchen Schengen-Dublin nicht: So gut wie die Brüsseler Bürokraten haben wir unseren Grenzschutz und unser Asylrecht noch allemal selbst gemeistert.
Für uns Bürger ist das aktuelle Grossmachtgetöse der EU-Kommission ein anschauliches Beispiel, was uns mit einem institutionellen Rahmenabkommen blühen würde. Die EU-Kommission könnte jeden Tag daherkommen und uns die sogenannte «Weiterentwicklung» eines der zahlreichen Bilateralen Verträge (es gibt über 120 davon) aufzwingen. Jedes Aufmucken würde vom EU-Gerichtshof erledigt (siehe oben). Da irren die sich aber gewaltig! Das Schweizer Volk wird seiner eigenen Entmachtung nie und nimmer zustimmen! Das können sich auch Bundesrat Burkhalter und sein Oberverhandler Jacques de Watteville merken.

«Autonomer Vorvollzug» – Der Bundesrat nickt schon im voraus

Herr Juncker und seine Truppe werden sich freuen: Gegenüber der Schweiz ist sein autoritärer Stil gar nicht nötig. Denn der Bundesrat erledigt die Angelegenheit schon im voraus. Am 18. September 2015 sind die Bundesräte Sommaruga und Burkhalter vor die Medien getreten. Während Didier Burkhalter den sinnvollen Beschluss des Bundesrates mitteilte, 70 Millionen Franken zusätzlich für die Flüchtlingshilfe vor Ort einzusetzen, enthüllte Simonetta Sommaruga Erstaunliches: Ohne das offizielle Gesuch der EU an die Schweiz abzuwarten, gab sie bekannt, dass der Bundesrat deren Forderungen bereits im voraus «beschlossen» habe. Die Schweiz werde sich am 1. Relocation-Programm (Verteilung von 40 000 Schutzbedürftigen) mit der Aufnahme von 1500 schutzbedürftigen Personen beteiligen, und am 2. (120 000 Schutzbedürftige) ebenfalls, nach Rücksprache mit den Kantonsregierungen (https://www.admin.ch, Medienkonferenz vom 18. September).
Also kein «autonomer Nachvollzug», sondern sozusagen ein «autonomer Vorvollzug». Wirklich autonom, denn die einseitige Rechtsübernahme erfolgt freiwillig, bevor klar ist, ob innerhalb der EU eine Einigung zustande kommt.

Absage an die Nationalstaaten: «Es gibt keine nationalen Lösungen mehr»

Geschickt nutzt Frau Sommaruga die Schwierigkeiten der EU zur Ausrufung einer Art von sozialistischer Internationale. Als Ursache des heutigen Schlamassels diagnostiziert sie anlässlich der Medienkonferenz das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Asyl­politik und setzt sich für (noch) mehr Macht der Parteizentrale, pardon der Zentrale in Brüssel, ein. Ja, sie bietet sogar an, der EU in diese Richtung voranzugehen:
«Wir sind gut gerüstet, höchst legitimiert, weil wir auch in Europa aufgezeigt haben, dass man eine glaubwürdige, konsequente Asylpolitik durchführen kann. Aber es ist jetzt klar: Es gibt keine nationalen Lösungen mehr. Auch wenn wir unsere Hausaufgaben gemacht haben: Es gibt keine nationalen Antworten auf dieses europäische Problem. Und deshalb wollen wir hier unseren Beitrag auch leisten.» (Simonetta Sommaruga an der Medienkonferenz vom 18. September)
Wo bleibt da die Logik? Wenn der Kleinstaat Schweiz eine bessere Asylpolitik zustandebringt (was sogar von der mächtigsten EU-Dame anlässlich ihres kürzlichen Besuchs in Bern lobend erwähnt wurde) als das vor seiner Einführung hochgepriesene Schengen-Dublin-Programm, das sich dann bald als praktisch untauglich erwies, ist doch offensichtlich der Nationalstaat Schweiz dem zentralistischen System der EU überlegen, oder etwa nicht? Nein, so Sommaruga, es brauche eben über den Dublin-Mechanismus hinaus zusätzliche Instrumente «für besondere Lagen», kurz «eine gemeinsame, eine gerechte europäische Asylpolitik». Sie jedenfalls will in Brüssel Dampf machen: «Der Bundesrat hat ebenfalls beschlossen, dass er das EJPD und das EDA beauftragt, sich im Rahmen der laufenden Gespräche mit der EU für einen dauerhaften und verbindlichen Verteilmechanismus von schutzbedürftigen Personen innerhalb von Europa einzusetzen.» (Medienkonferenz vom 18. September)
Es ist nur zu hoffen, dass Chefunterhändler de Watteville nicht vergisst, für das Entgegenkommen der Schweiz auch umgekehrt etwas von der EU zu fordern.
Nach dieser Medienkonferenz können wir erahnen, dass etliche Leute bereits eine Vision davon haben, wie sie einst ihren Platz in der EU-Zentrale einzunehmen gedenken. Nur hat das Stimmvolk sie bisher daran gehindert und wird dies auch weiterhin tun.
Wie gesagt: Wir Schweizer haben am 18. Oktober die Wahl. Und nicht vergessen: Die gewählten National- und Ständeräte werden im Dezember den Bundesrat wählen.    •

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