Am Anfang war die Idee: Le Locle soll wieder eine allgemeine Buchhandlung haben

Am Anfang war die Idee: Le Locle soll wieder eine allgemeine Buchhandlung haben

Gespräch mit Isabelle Zünd, André Frutschi und Odile Grange

Seit dem 29. August 2015 hat Le Locle, die kleine Stadt an der Grenze zu Frankreich, wieder eine allgemeine Buchhandlung. In Anlehnung an den französischen Schriftsteller Guy de Maupassant heisst sie «Aux Mots Passants». Drei Bewohner von Le Locle, Isabelle Zünd, Sozialarbeiterin, André Frutschi, Agraringenieur, und Odile Grange, pensionierte Buchhändlerin, haben das Projekt einer genossenschaftlich organisierten Buchhandlung initiiert. Eine ermutigende Bürgerinitiative.

Zeit-Fragen: Was war Ihre Motivation, eine genossenschaftlich organisierte Buchhandlung ins Leben zu rufen?

Isabelle Zünd: Mein Kollege interessierte sich schon immer für das Genossenschaftswesen, für genossenschaftliche Projekte. Und ich, seit 20 Jahren in Le Locle wohnhaft, bedauerte schon seit längerem, dass es hier keine Buchhandlung gab. So haben wir uns zusammengetan und die Idee geboren, ein genossenschaftliches Projekt in Form einer Buchhandlung auf die Beine zu stellen.
André Frutschi: Auch der kulturelle Aspekt spielte eine Rolle, eine Stadt von 11 000 Einwohnern verdient eine Buchhandlung. Le Locle ist im sozio-kulturellen Bereich relativ arm. Wir haben 8 % Arbeitslosigkeit, 30 % Grenzgänger, die zwar hier arbeiten, deren Steuern aber dem Kanton zugute kommen und nicht der Stadt. Es gibt viele Sozial­hilfeempfänger, Le Locle ist keine reiche Stadt. In den 70er Jahren baute man Anlagen für 15 000 Einwohner, seit der Krise der Uhrenindustrie zählt die Stadt jedoch nur noch rund 11 000 Einwohner. Die letzte allgemeine Buchhandlung hat in den 90er Jahren ihre Tore geschlossen. Odile kann Ihnen die Geschichte erzählen.
Odile Grange: Ja, das war Reymond, eine Buchhandlung mit Filialen in La Chaux-de-Fonds, Neuchâtel und Lausanne, und dann 1996/7 musste sie schliessen, und seither gibt es in Le Locle keine allgemeine Buchhandlung mehr. Die Leute sagen, wir seien mutig, hier in Grenznähe zu Frankreich und mit Amazon und Migros, wo Bücher billig zu haben sind, eine Buchhandlung zu eröffnen. Sie haben Recht, es ist schwierig.

Was hat Ihnen dennoch den Mut gegeben, das Projekt zu lancieren?

Isabelle Zünd: Sicher, es braucht Mut, aber es haben auch viele Genossenschafter positiv auf unseren Aufruf reagiert. Es war eine Art Thermometer, um zu wissen, ob die Leute hier gerne wieder eine Buchhandlung hätten. Und dann glaube ich, dass es sich rumspricht. Sie werden es ihren Freunden in La Chaux-de-Fonds und Neuchâtel weitersagen, wir haben sogar Leute aus Basel … Die persönliche Beratung und der menschliche Austausch, der durch die Kaffee-Ecke begünstigt wird, sind unsere Trümpfe.
André Frutschi: Ich war Parlamentsassistent, ich weiss nicht, ob Sie den Zürcher Nationalrat Daniel Vischer kennen. Als ich ihm erzählte, dass wir in Le Locle eine genossenschaftliche Buchhandlung gründen werden, sagte er: «Schicke mir einen Einzahlungsschein.» Er wird nie hierher kommen, um Bücher zu kaufen, aber er findet die Idee genial und unsere Initiative mutig und ist der Überzeugung, dass man Kultur fördern muss.

Was ist Ihrer Meinung nach die Bedeutung des gedruckten Buches in einer zunehmend elektronischen Welt?

André Frutschi: Ich habe ziemlich viele Vergleichsstudien gemacht. Es gibt einen grossen Unterschied zwischen der germanisch-angelsächsischen Welt und der lateinischen Welt. Die germanisch-angelsächsische Welt ist zum Book-Reader übergegangen, es gibt viele elektronische Bücher, während die lateinische Welt, Italien, Spanien, Frankreich und die Romandie das gedruckte Buch vorziehen, das ist kulturell bedingt. Das Bundesamt für Kultur hat für die Schweiz diesbezügliche Studien gemacht und hat zwischen der Deutschschweiz und der französischen und italienischen Schweiz einen Unterschied von 30 % festgestellt. Das ist unsere Chance.

Warum haben Sie die Organisationsform der Genossenschaft gewählt?

Odile Grange: Ein grosser Vorteil der Genossenschaft ist, dass man unabhängig ist von Banken, die immer nach Umsatzzahlen fragen. Man ist weniger unter Druck und flexibler.
André Frutschi: Ja, ich denke, wenn wir zur Bank gegangen wären, um in Le Locle eine Buchhandlung zu eröffnen, hätten sie zuerst 10 Minuten gelacht, sich nicht einmal die Zeit genommen, uns einen Kaffee zu offerieren … und dann: bye-bye! Weil Buchhandlungen geschlossen und nicht eröffnet werden.
Angenommen, Isabelle und ich hätten 70 000 Franken auf den Tisch legen können und eine Buchhandlung eröffnet, dann hätten wir ein grosses Risiko auf uns genommen. Wenn man hingegen eine Genossenschaft gründet und 135 Genossenschafter je 500 Franken für das Projekt geben, dann sind das aktive Kunden, Leute, die nicht bei Amazon oder in Frankreich kaufen werden. Sie werden hierher kommen, da es ihre Buchhandlung ist, nicht die unsrige, die ihre. Das war wesentlich für unser Projekt.
Isabelle Zünd: Ja, und dann auch beim Umbau des Ladenlokals erlebten wir die Vorteile einer Genossenschaft. Wir mussten alles neu machen, Wände neu einziehen, Wände einreissen usw. Es gab immer Genossenschafter, die kamen und unentgeltlich mithalfen. Einige wollten die Möbel neu streichen, auf Anfrage hat uns ein Karosserielackierer die Möbel schliesslich gratis lackiert. Ein Berufsschreiner hat uns diese Stufe aus Eichenholz gemacht, ich weiss nicht, was das gekostet hätte, wenn wir sie hätten bezahlen müssen.

Das zeigt, dass sich die Genossenschafter wirklich verantwortlich fühlen. Eine Genossenschaft schafft auch menschliche Verbindungen.

André Frutschi: Ja, absolut. Wir haben verschiedene Leute kennengelernt. Sogar Leute von Rang und Namen, ein Notar hat uns beglückwünscht zu unseren Statuten und gesagt, wenn er je eine Genossenschaft gründen müsse, nehme er unsere Statuten als Vorlage.
Isabelle Zünd: Die Freiwilligenarbeit beschränkte sich auch nicht nur auf die Renovation der Räumlichkeiten. Aktuell sind Odile und ich je zu 50 % im Laden, und dann gibt es zehn Freiwillige, die uns unterstützen. Man hört manchmal sagen, dass die gegenseitige Hilfe heutzutage nicht mehr lebe, doch das ist nicht wahr, wenn man um Hilfe bittet, dann springen die Leute gerne bei.

Die Genossenschaft ist doch auch die demokratischste Organisationsform.

Isabelle Zünd: Genau. Jeder Genossenschafter hat eine Stimme, unabhängig davon, wie viele Anteile er gekauft hat. Die Gemeinde, die zehn Anteile gekauft hat, hat eine Stimme, und die drei Frauen, die zusammen einen Anteil gekauft haben, haben auch je eine Stimme. Das ist anders als bei einer einfachen Gesellschaft.

Wie sind Sie also, nachdem die Idee geboren war, bis zur Eröffnung der Buchhandlung vorgegangen?

Isabelle Zünd: Als erstes haben wir uns bei anderen Buchhandlungen kundig gemacht. Wir haben verschiedene Buchhandlungen besucht, in La Chaux-de-Fonds, in der Region, in Frankreich und haben uns angeschaut, wie sie funktionieren. Dann haben wir verschiedene Genossenschaften besucht, unter anderen «Espace Noir» in St. Imier.
André Frutschi: Ich weiss nicht, ob Sie «Espace Noir» kennen? Wenn nicht, müssen Sie diese vielfältige Genossenschaft besuchen. Sie ist sehr interessant, ein Ort der Kultur bestehend aus einem Wohnhaus, einem Theater und einer Buchhandlung anarchistischer Prägung. Historisch gesehen war St. Imier ein Ort der Anarchisten, Bakunin war in St. Imier. Die Genossenschaft «Espace Noir» fördert das Genossenschaftswesen sehr.
Isabelle Zünd: Wir haben also die Leute von «Espace Noir» getroffen, sie haben uns Ratschläge gegeben, Statuten … und dann wollten wir schon mal abtasten, ob überhaupt das Bedürfnis nach einer Buchhandlung bestand, ob die Leute gerne wieder eine Buchhandlung hätten. Als dies der Fall war, sagten wir uns: «Nichts wie los, geben wir Genossenschaftsanteile raus.» Innerhalb von 6 Monaten haben wir 135 Anteile à 500 Franken verkauft. Wir hatten sie auf 500 Franken angesetzt, da wir nicht zu viele Genossenschafter wollten, denn je mehr es sind, desto schwieriger ist die Genossenschaft zu verwalten. Wir hätten ein Sekretariat gebraucht. Wir ziehen jedoch eine schlanke Verwaltung vor.

Wie haben Sie die Genossenschafter gefunden?

Wir haben Briefe an unsere Freunde und dann auch an entferntere Bekannte geschrieben, Läden und Unternehmen im Bezirk angeschrieben, zwei Unternehmen sind Genossenschafter geworden. Dann haben wir auch die Gemeinden angefragt, Le Locle und Les Brenets haben zugestimmt. Die übrigen Genossenschafter sind alles Private. Ich habe viel Freiwilligenarbeit gemacht und kenne deshalb auch viele Leute.
Dann haben wir begonnen, die Statuten auszuarbeiten, was nicht ganz einfach war, da es in der Romandie wenige Genossenschaften gibt, an deren Statuten wir uns hätten orientieren können.
André Frutschi: Es gab schon ein Beispiel im Wallis, wir mussten jedoch die Statuten überarbeiten und unseren Bedürfnissen anpassen. Wir wollten im Zweckartikel festhalten, dass es sich um eine Genossenschaft mit ideellem Zweck handelt, um deutlich zu machen, dass es uns nicht primär um Gewinn ging. Doch aus rechtlichen Gründen war das nicht möglich, da eine Genossenschaft laut Gesetz einen wirtschaftlichen Zweck verfolgen muss, also mindestens in der Lage sein muss, sich selbst zu tragen.
Isabelle Zünd: Dennoch haben wir von der Loterie Romande1 einen Unterstützungsbeitrag bekommen, da es sich ja im Grunde doch um ein gemeinnütziges Projekt handelt. Mit diesem Geld konnten wir das Grund- und Informatikmaterial erwerben.
Diese Vorbereitungsarbeiten haben Zeit gebraucht, ungefähr ein Jahr. Im Verlauf dieses Jahres sind wir glücklicherweise auf Odile gestossen. Sie ist pensionierte Buchhändlerin und hat sich bereit erklärt, an unserem Projekt teilzunehmen. Jetzt, nachdem wir eröffnet haben, ist mir klar, dass wir ohne sie das alles nie geschafft hätten. Sie ist bereit, halbtags und manchmal auch mehr unentgeltlich für die Buchhandlung zu arbeiten.
André Frutschi: Am 23. März dieses Jahres haben wir dann in der Gründungsversammlung die Statuten verabschiedet. Seit dem 8. April ist die Genossenschaft «Aux Mots Passants» im Handelsregister eingetragen, und im April haben wir dann auch relativ günstige und gut gelegene Räumlichkeiten gefunden. Da die Räume bisher dem Antiquar von nebenan als Lagerräume gedient hatten, mussten wir alles neu machen. Aber dank den vielen Freiwilligen haben wir es geschafft, die Räume bis zur Eröffnung am 29. August schön herzurichten.
Wir waren erstaunt, als am Tag der Einweihung rund 300 Leute kamen. Vertreter der Regierung waren auch anwesend, man muss sagen, die Politik unterstützte unser Anliegen, die Gemeinde hatte 10 Genossenschaftsscheine gekauft. Viele freiwillige Helfer haben Spiele organisiert und Stände aufgebaut. 300 Besucher bei nur 135 Genossenschaftern, das zeigt schon, dass auch andere Leute sich für das Projekt interessieren!
Ende Jahr, 6 Monate nach Gründung, wird die Generalversammlung die erste Gelegenheit sein, alle Genossenschafter zu versammeln, und dann werden wir sehen … wir machen einfach Schritt für Schritt vorwärts. Wir haben schon Ideen … Es gibt zum Beispiel einen Neuenburger, er ist Staatsanwalt, schreibt aber auch Romane. Er ist auf uns zugekommen und hat uns gefragt, ob er bei uns eine Autogrammstunde anbieten dürfe.
Isabelle Zünd: So hat sich alles gut zusammengefügt. Manchmal sage ich mir, wenn die Energie im Projekt steckt, fügt sich alles Weitere, das ist das Wunderbare.

Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die Zukunft.     •
(Interview Susanne Lienhard)

1    Die sechs Westschweizer Kantone (Waadt, Freiburg, Wallis, Neuenburg, Genf und Jura) bewilligen den Betrieb der Loterie Romande und erhalten den ganzen Gewinn. Der Gewinn kommt vollumfänglich gemeinnützigen Institutionen in der Romandie zugute.

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