«Ich sehe mich hier in der Tradition von Frau Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser, die unmissverständlich auf die multipolare Struktur der heutigen Welt hingewiesen und die daraus resultierende Notwendigkeit der Verständigung über weltanschauliche Grenzen hinweg betont hat. In einem Artikel von ihr (Zeit-Fragen, Nr. 28 vom 10.9.2013) heisst es: ‹Reichen wir einander die Hand, aus welchem weltanschaulichen Lager auch immer wir kommen.› Das ist jetzt die unmittelbare Problematik, vor der wir stehen, denn eigentlich ist, was wir hic et nunc erleben, fast ein Scherbenhaufen der internationalen Politik des Dialoges.»
von Prof. Dr. DDr. h.c. Hans Köchler
Heute geht es darum, dass man über den Gartenzaun hinausblickt und sich bemüht, die unterschiedlichen Lebenswelten, Weltanschauungen und Wertsysteme der Völker unserer internationalen Gemeinschaft zu verstehen, und diese Vielfalt auch als Chance sieht, den eigenen Standpunkt besser zu entwickeln. Auch wenn es angesichts der jüngsten Ereignisse vielleicht idealistisch erscheinen mag, so könnte man sagen, dass Kulturhermeneutik gerade in der Ära der Globalisierung eine eminente politische Bedeutung erlangt, die über die klassischen Anliegen des Bildungsbürgertums hinausgeht.
Die Allianz der Zivilisationen ist eine Initiative von inzwischen 139 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, die – wenn man den Namen betrachtet – offenbar mehr als einen blossen Dialog, nämlich eine Art Zusammenschluss der Zivilisationen suchen. Wenn es sich um Staaten und nicht um Individuen oder Gruppierungen der Zivilgesellschaft handelt, muss man allerdings immer auch hinterfragen, zu welchem konkreten Ziel, mit welchen Hintergedanken, eine solche Allianz geschmiedet wurde – und allenfalls auch, gegen wen oder wogegen. Dies ist durchaus berechtigt, weil sich unter den 139 Staaten, die sich offiziell als «Freunde der Allianz der Zivilisationen» deklariert haben, viele befinden, die aktiv in Kriege verwickelt sind – wobei es sich oftmals auch um Kriege mit zivilisatorischen Untertönen handelt.
Was die Politik betrifft, so ist es inzwischen eine allgemein anerkannte Tatsache, dass die Formel «Dialog der Zivilisationen» seit den bis jetzt unaufgeklärten – oder nicht voll aufgeklärten – Ereignissen des Jahres 2001 zum Inbegriff von so etwas wie globaler «political correctness» geworden ist. Die Formel «Dialog der Zivilisationen» wurde bereits im Jahre 2000 – also vor den Ereignissen von 2001 – durch den damaligen Präsidenten Irans, Mohammad Chatami, in der Weltöffentlichkeit thematisiert. Die Uno hat über sein Betreiben bereits damals beschlossen, dass 2001 das Jahr des Dialoges der Zivilisationen sein solle.
Angesichts der politischen Vereinnahmung dieser Formel durch praktisch alle Seiten und Parteien im globalen Spiel der Kräfte erscheint mir eine philosophische Hinterfragung angebracht.
Ganz kurz möchte ich noch auf die Vorgeschichte des Begriffes eingehen – das heisst auf die Zeit, bevor er zu einem Schlagwort der Weltpolitik wurde. Ich habe die Dialog-Problematik und die damit zusammenhängende philosophische Begrifflichkeit mehr oder weniger in der Phase des Kalten Krieges entwickelt. Anfangs der 70er Jahre – genau im Jahre 1972, als wir dabei waren, die International Progress Organization zu gründen, – habe ich an der Universität Innsbruck einen Vortrag zur Fragestellung: «Wie kann der Friede in einer Ära der ideologischen Konfrontation zwischen Kommunismus und Kapitalismus gesichert werden?» gehalten. Dies war die Zeit des Ost-West-Konfliktes. Meine Schlussfolgerung damals war, dass Friede dauerhaft nur gesichert werden kann auf der Basis eines echten Dialoges zwischen den verschiedenen kulturellen und zivilisatorischen Identitäten. Ich habe in diesem Jahr (1972) an die Direktion für Philosophie der Unesco einen Brief geschrieben und vorgeschlagen, die Weltkulturorganisation möge sich des Themas eines «Dialoges zwischen verschiedenen Zivilisationen» als Grundlage des Weltfriedens annehmen. Damals war die Zeit für die Idee jedoch noch nicht reif; das politische Umfeld war schlicht und einfach nicht gegeben – und insofern hat diese Initiative auf politischer Ebene nichts weiter ausgelöst. Dies ist, wie wir inzwischen wissen, erst ein Vierteljahrhundert später geschehen.
Ich kann hier nicht im einzelnen über die philosophischen Prinzipien des Dialoges zwischen den Zivilisationen sprechen. Ich möchte aber doch noch einen historischen Hinweis geben, bevor ich die gegenwärtige Konstellation behandle: Damals, als wir das Thema lancierten, also Anfang der 70er Jahre, hatten wir auch eine Konferenz über das kulturelle Selbstverständnis der Völker veranstaltet, und zwar im Jahre 1974 gemeinsam mit der Unesco. Die Weltkulturorganisation der Uno ist auf unsere Initiative eingegangen – und es ist bemerkenswert, dass damals zumindest eine Persönlichkeit der Weltpolitik die Bedeutung des Paradigmas des Dialoges der Zivilisationen und Kulturen verstanden und auch politisch thematisiert hat: Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kurt Waldheim, richtete eine Botschaft an die Teilnehmer unserer Innsbrucker Konferenz. Er schrieb wörtlich: «There is no future for mankind unless tolerance and understanding between cultures and nations become the rule rather than the exception.» (Die Menschheit hat keine Zukunft, solange Toleranz und Verständigung zwischen den Kulturen und Nationen nicht zur Regel werden, statt nur ausnahmsweise zu gelten.)
Worauf es mir in diesen Ausführungen ankommt, ist, den Dialogansatz als solchen im Hinblick auf die gegenwärtige weltpolitische Praxis kritisch zu hinterfragen. Ich sehe mich hier in der Tradition von Frau Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser, die unmissverständlich auf die multipolare Struktur der heutigen Welt hingewiesen und die daraus resultierende Notwendigkeit der Verständigung über weltanschauliche Grenzen hinweg betont hat. In einem Artikel von ihr (Zeit-Fragen, Nr. 28 vom 10.9.2013) heisst es: «Reichen wir einander die Hand, aus welchem weltanschaulichen Lager auch immer wir kommen.» Das ist jetzt die unmittelbare Problematik, vor der wir stehen, denn eigentlich ist, was wir hic et nunc erleben, fast ein Scherbenhaufen der internationalen Politik des Dialoges.
Zwei Umstände charakterisieren die gegenwärtige Situation:
Erstens: Kriegerische Auseinandersetzungen werden – trotz aller Dialog-Beteuerungen der Mächtigen – weiterhin mit unverminderter Härte geführt. Ein Beispiel dafür ist die stark ideologisch gefärbte Konfrontation zwischen dem Islam und der westlichen Welt, die sich erneut extrem zuspitzt. Man braucht nur darauf zu verweisen, was im Irak, in Syrien, in Libyen, Mali, Nigeria und anderen Ländern und Regionen geschieht. Es gibt aber nicht nur die ideologische Konfrontation «Islam – westliche Welt», sondern auch einen sehr bedrohlichen innerislamischen theologischen Konflikt zwischen Schiitentum und Sunnitentum, aber auch zwischen verschiedenen Gruppierungen innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft, was die Auslegung der Lehre betrifft. Des weiteren ist festzuhalten, dass neue ideologische Gräben zwischen Ost und West auch in Europa aufbrechen, wie am Beispiel des Ukraine-Konfliktes gezeigt werden kann. Es ist, so scheint mir, ein Faktum, dass Krieg weiterhin als Mittel zur Austragung von Streitigkeiten angesehen wird und dass man sich diesbezüglich noch nicht die Prinzipien, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zu Herzen genommen hat, wonach eigentlich jede Anwendung oder Androhung von Gewalt zwischen Staaten geächtet wäre.
Zweitens ist festzuhalten: Anders als vielleicht in früheren Epochen ist durch die technisch-wirtschaftliche Entwicklung heute eine präzise Trennung von internationaler (zwischenstaatlicher) und innerstaatlicher Dimension nicht mehr möglich. Der sogenannte «clash of civilisations», wie Huntington ihn nannte, der Konflikt zwischen Zivilisationen, spielt sich nicht nur auf beiden Ebenen ab, sondern es gibt auch eine Wechselwirkung zwischen innerstaatlicher und internationaler Ebene. Man kann hier zum Beispiel die Konflikte im Zusammenhang mit der Multikulturalität in Europa erwähnen. Diese können nicht von den Konflikten im Nahen Osten getrennt werden, in die sich europäische Staaten in den letzten Jahren direkt oder indirekt eingemischt haben. Ich habe bereits zu Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings – man kann natürlich auch einen anderen, neutraleren Terminus verwenden: etwa «Arabische Revolte» – im Jahre 2011 vor einer Einmischung von aussen gewarnt. Ich habe diese Warnung auch in verschiedenen türkischen Zeitungen geäussert. In den Staatskanzleien hat man – wie wir wissen – den Rat nicht befolgt – und jetzt ist man mit den Konsequenzen konfrontiert.
Es ist eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt worden, deren Folgen die Proponenten eines Dialoges der Zivilisationen nur noch als hilflos, wenn nicht überhaupt als unglaubwürdig erscheinen lassen. Die Frage ist, ob es sich hier wirklich um die berühmten, wie die Amerikaner sagen würden, «unintended consequences» handelt, die unbeabsichtigten Folgen politischer und militärischer Einmischung, oder ob nicht auch noch andere, nämlich langfristige machtpolitische Überlegungen mit hineinspielen.
Die Gretchenfrage in der jetzigen Situation ist die: Wie kann man, wenn man sich etwa im schönen Bali in Indonesien versammelt [gemeint ist die Konferenz der Uno im August 2014], um über die Allianz der Zivilisationen und die Förderung des Dialoges zu sprechen, eine solche Zielsetzung mit Waffengewalt, also mit einer auf Regime change gerichteten Politik der bewaffneten Intervention in fremden Ländern, vorantreiben?
Die Akteure der Weltpolitik, die sich offiziell dem Dialog verschrieben haben, haben tatsächlich eine politische Realität herbeigeführt, ein Klima geschaffen, das uns – wie immer man dies persönlich bewerten mag, und ob man will oder nicht – eine neue Ära kreuzzugsartiger Auseinandersetzungen beschert hat. Man könnte hier unter anderem auf die noch fortdauernden Interventionen in Afghanistan (2001), im Irak (2003), in Libyen (2011) und in Syrien (ebenfalls seit Beginn 2011) verweisen. Was alle diese Fälle bewaffneter Einmischung betrifft, macht die idealistische Rhetorik allerdings misstrauisch.
Es ist weiters eine Tatsache, dass durch wiederholte westliche Interventionen in der islamischen Welt ein Zustand herbeigeführt wurde, in welchem der Fortbestand der autochthonen christlichen Gemeinden faktisch im gesamten Nahen Osten, vor allem aber in Syrien und im Irak, nicht mehr gesichert ist. Dies ist ein Thema, das von den Medien in der westlichen Welt viel stärker thematisiert werden müsste. In diesem Zusammenhang konstatiere ich eine völlige weltpolitische Ratlosigkeit gegenüber dem sogenannten Islamischen Staat und insbesondere gegenüber dem Phänomen – wie ich es nennen würde – der Kalifatsausrufungen (wie zum Beispiel für ein Gebiet, das grosse Teile von Irak und Syrien umfasst, aber auch in Nigeria).
Ebenfalls ist auf die völlige geostrategische Ratlosigkeit gegenüber den Zerfallserscheinungen der im Zuge des Ersten Weltkrieges der Region des Mittleren Ostens aufgezwungenen politischen Ordnung zu verweisen. Es ist kein Zufall, dass diejenigen, die für den «Islamischen Staat sprechen», grossspurig erklärt haben, dass mit dem Auftreten dieses Gebildes das Ende von «Sykes-Picot» eingeleitet worden sei, dieses 1916 zwischen einem Diplomaten Grossbritanniens und einem Diplomaten Frankreichs abgeschlossenen Geheimabkommens, das die Grenzziehung in dieser Region gegen den Willen bzw. ohne Konsultierung der betroffenen Völker festgelegt hat. Wie dem auch immer sei: Es ist in dieser unserer Ära, in der man den Dialog der Zivilisationen ausgerufen hat, durchaus geboten, dass man ganz konkret politisch-historische Ursachenforschung betreibt.
Folgende drei Punkte möchte ich festhalten:
Erstens: Trotz aller Beteuerungen hat man sich – wie mir scheint – gegenseitig den Respekt versagt. Insbesondere die westliche Welt wollte über Jahrzehnte hinweg, vor allem auch seit dem Ende des Kalten Krieges, der östlichen – und speziell der islamischen – Welt ihren Stempel aufdrücken. Es kommt jetzt darauf an, die Situation so rational wie möglich und sine ira et studio [ohne Hass und Vorliebe, das heisst unbedingt sachlich] zu analysieren, denn emotionale Verurteilungen bringen uns hier nicht weiter. Man muss der historischen Wahrheit ins Auge sehen. Im Fall des Irak etwa ist zu bedenken, dass die Bürger dieses Landes zunächst (ab 1990) einer mehr als zehn Jahre dauernden grausamen, umfassenden Sanktionspolitik unterworfen waren, an deren Folgen bis zu einer Million Menschen gestorben sind, und dass in der Folge – nach dem Aggressionskrieg 2003 – die Sunniten im Irak systematisch marginalisiert und gedemütigt – man könnte auch sagen: der Rache ihrer Feinde ausgeliefert – wurden. Man erlaube mir hier die persönliche Anmerkung bzw. Frage, wie denn der zum Katholizismus konvertierte ehemalige britische Ministerpräsident Tony Blair eine solche genozidale Politik mit seinem Gewissen vereinbaren konnte; denn als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat er die Religion in seinen Reden immer besonders hervorgehoben.
Die Entwicklung in Syrien und im Irak – mit der Herausbildung einer neuen Struktur (des sogenannten Islamischen Staates), von der ich nicht weiss, wie sie sich verfestigen und wie lange sie sich halten wird – ist nicht aus dem Nichts gekommen. Sie hat einen konkreten historischen und sozialen Hintergrund. In der Geschichte und in den Beziehungen zwischen den Kollektiven gilt stets das Gesetz von actio und reactio.
Zweiter Punkt: Die politische Neugestaltung gemäss der Vision des sogenannten Greater Middle East ist vornehmlich mit Mitteln der Gewalt erfolgt. Es handelte sich dabei um Sanktionen und um bewaffnete Interventionen, aber es ging auch – als Teil des Ganzen wesentlich – um ideologische Bevormundung der Bevölkerung, die man im Sinne unserer westlichen Vorstellungen von Demokratie und Freiheit missionieren – oder umerziehen – wollte.
Dritter Gesichtspunkt: Diese Politik führte – wie schon angedeutet – zu einer immer grösser werdenden Entfremdung der moslemischen Bevölkerung auch in Europa und – auf beiden Seiten – zu einer Infragestellung dessen, was man mit dem Schlagwort der Multikulturalität bezeichnet. Dies ist übrigens der «Scherbenhaufen», von dem ich vorher gesprochen habe.
In der Folge bedeutet dies, dass die Propagierung eines Dialoges der Zivilisationen ein blosses Lippenbekenntnis bleibt, wenn dieses Projekt nicht in eine insgesamt friedliche Politik der Koexistenz, einschliesslich des Verzichtes auf Missionierung und ideologische Bevormundung, eingebettet ist. Ich meine hier «Missionierung» nicht in einem theologischen, sondern im politisch-ideologischen Sinn, so wie sie die führende Weltmacht bisher betrieben hat. Was ich hier sage, gilt selbstverständlich für beide Seiten, nicht nur für den Westen.
Die zivilisatorisch-kulturellen Bruchlinien zeigen sich inzwischen überall, nicht nur in den europäischen Gesellschaften, sondern auch in der arabischen Welt – und dort mit grösserer Schärfe, als man sich das jemals hat vorstellen können. Dies sieht man zum Beispiel an den Entwicklungen in Ägypten, wobei ich hier auf die Details nicht eingehen kann, und natürlich auch in Syrien, im Irak und in Libyen.
Weltpolitisch bedeutet dies, dass eine lange Zeit der Instabilität auf uns alle zukommt, nicht nur auf die Menschen im Nahen Osten. Man wird auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass der Traum von der «splendid isolation» – hier bei uns, nördlich des Mittelmeeres – angesichts der neuen Völkerwanderung aus dem Süden, die wesentlich durch die westliche Interventionspolitik ausgelöst wurde, inzwischen wohl ausgeträumt ist.
Zum Abschluss: Quid nunc? – Was jetzt?
Für kurzfristige Symptomkuren ist es zu spät. Luftangriffe sind zwar für den Westen bequem (übrigens auch feige), zumeist jedoch ineffizient, ja kontraproduktiv. Der Schaden ist bereits angerichtet.
Angesichts des auch vom Westen verursachten Chaos und der Verunsicherung der Bevölkerung im Nahen Osten genauso wie in Europa ist eine strategische Neubesinnung im Hinblick auf die Politik bzw. die politische Relevanz des Dialoges der Zivilisationen notwendig. Dies muss eine Rückbesinnung auf das Paradigma, also auf den Grundbegriff des Dialoges im gegenwärtigen System der zwischenstaatlichen Beziehungen einschliessen.
Ich verweise auf einige wenige Gesichtspunkte, die man sich hier vergegenwärtigen sollte:
Dialog ist unvereinbar mit dem Ethos – man kann natürlich auch sagen: Pathos – der Missionierung, auf islamischer genauso wie auf westlich-säkularer oder christlicher Seite. Wenn Dialog mehr sein soll als blosses Zwiegespräch, blosse Konversation, dann müsste man sich auf die rationale Seite des menschlichen Handelns besinnen – und hier konkret nicht nur auf die des individuellen, sondern auch des kollektiven Handelns. Es geht um den der jeweiligen zivilisatorischen oder speziell auch religiösen Weltsicht eigenen Logos, das heisst um deren Strukturen, und es ist durchaus legitim, man könnte auch sagen rational – der Mensch ist eben ein zóon lógon échon –, dass man sich um einen strukturellen Vergleich zwischen den verschiedenen Weltsichten bemüht. Nur so kann man sie verstehen, und nur so kann man überhaupt begreifen, was man selber glaubt oder propagiert.
Es müsste den politischen Führungspersönlichkeiten eigentlich möglich sein, einzusehen, dass die eine Weltsicht, die man selber hat, nicht restlos, nämlich ohne geistigen und kulturellen Verlust, auf die andere reduziert werden kann, dass man also – im Umkehrschluss – das andere nicht ausschliesslich dogmatisch mit den eigenen Massstäben messen kann. Der spirituelle Absolutheitsanspruch von Weltanschauungen darf nicht politisch instrumentalisiert werden. Es muss hier ganz klar zwischen den Bereichen abgegrenzt werden. Es müsste – so glaube ich – dann zumindest möglich sein, die jetzt aufbrechenden ideologischen Konfliktsituationen philosophisch, also rational, zu analysieren. So könnte man zur Schlussfolgerung gelangen, dass sich gegenseitig ausschliessende Welterklärungen, kontradiktorisch entgegengesetzte Heilslehren, ihre Integrität – und das heisst auch ihr Fortbestehen, ihre internationale Akzeptanz – nur bewahren können, wenn sie sich auf eine Politik der friedlichen Koexistenz nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit einigen. Dies mag zwar im Fall einer eschatologischen Heilslehre (siehe auch «Islamischer Staat») blosse (Überlebens)taktik sein. Für die weltweite Völkergemeinschaft ist es aber besser als nichts. Es wird zwar nicht einen hochgeistigen Dialog über metaphysische und ontologische Prinzipien garantieren, aber es kann einen mehr oder weniger stabilen Frieden ermöglichen.
Ich darf hier ganz kurz auf Beispiele aus der Geschichte verweisen:
Schon vorher habe ich gesagt, dass wir gegenwärtig eine Art kreuzzugsartige Stimmung haben. In diesem Zusammenhang mag von Interesse sein, dass es – auch wenn der damalige Kontext vollkommen anders war – in der Ära der Kreuzzüge einzelne grosse Persönlichkeiten gab, die sich durchaus bemühten, in ein Gespräch mit der anderen Seite zu treten, auch wenn dies nicht bedeutete, dass man darob die eigene eschatologische oder metaphysische Auffassung in Frage gestellt hätte. Nur ein Beispiel dafür, was über die Grenzen hinweg auf der Basis von Gegenseitigkeit und Koexistenz, und zum Teil auch von Philosophie, möglich sein könnte: Karl der Grosse war an der Wende des 8. zum 9. Jahrhundert sehr wohl imstande, freundschaftliche Beziehungen zu den Abbassiden in Bagdad zu unterhalten.
Man könnte hier auch auf ein Beispiel aus dem 13. Jahrhundert verweisen, das stark ins Philosophische hineingeht: Friedrich II., König von Sizilien und Jerusalem, hat – für viele seiner Zeitgenossen schwer verständlich – aufrichtige, philosophisch inspirierte Offenheit gegenüber der islamischen Kultur gezeigt und auch den Rat islamischer Gelehrter gesucht – und dies trotz seiner Teilnahme an den Kreuzzügen. Im Rahmen der mittelalterlichen Realpolitik waren Abmachungen zwischen den Führungspersönlichkeiten auf beiden Seiten durchaus möglich, was aber nicht bedeutete, dass der eine versucht hätte, den anderen zu missionieren. Das ist, glaube ich, auch jetzt das Entscheidende: Man muss versuchen, die jeweils andere Position zu verstehen, und man muss auf dieser rationalen Grundlage die Prinzipien der friedlichen Koexistenz, wie wir sie schon aus anderem Kontext hier in Europa kennen, herausarbeiten.
Für eine fernere Zukunft darf man vielleicht darauf hoffen, dass sich – was die islamische und die westliche Zivilisation betrifft – beide auf ihre gemeinsamen Wurzeln in der klassischen Antike, nämlich der griechischen Philosophie, besinnen. Auch wenn dies oft übersehen wird, so wird, wer eine humanistische Erziehung mit Lateinisch und Griechisch genossen hat, verstehen, was ich meine. Beide Zivilisationen haben in ihrer Blütezeit – der Islam in der Epoche der Abbassiden in Bagdad und der Emirate von Cordoba und Granada in Andalusien, Europa in der nachfolgenden Renaissance – ihre Weltsicht in der Begrifflichkeit der griechischen Philosophie, insbesondere auch der Metaphysik und Ontologie von Aristoteles, entfaltet und das jeweils eigene System mit griechischen Termini sozusagen «auf den Begriff gebracht». Im Mittelalter gab es diesbezüglich tatsächlich eine intensive Befruchtung der europäischen Wissenschaft und Philosophie durch die arabisch-islamische, stark in der griechischen Antike fundierte Gelehrsamkeit, insbesondere in Spanien. Auf die Einzelheiten des Einflusses islamischer Forscher und Denker auf einige der grossen Kirchenlehrer kann ich hier nicht näher eingehen.
Diese historische Reminiszenz mag angesichts dessen, was in den Jahrhunderten nachher geschehen ist und was heute der Fall ist, einer gewissen Nostalgie nicht entbehren; aber ein solcher Rückblick zeigt, was auch möglich sein könnte.
Die Ziele des Dialoges und einer stabilen Friedensordnung können allerdings in gar keiner Weise erreicht werden, wenn man sich – so wie dies in der Weltpolitik immer noch geschieht – in Realitätsverweigerung übt und lediglich die Formeln von Toleranz und Verständigung propagiert, ohne dafür die konkreten Rahmenbedingungen zu schaffen. Diese Zielsetzungen bleiben nur dann keine Leerformeln, wenn man in Form einer politischen Strategie – und dies würde ich gerade auch von den hohen Herren der Allianz der Zivilisationen, nämlich den Staats- und Regierungschefs erwarten – genau angibt:
a) Was mit diesen Zielsetzungen erreicht werden soll und
b) wie diese konkret umgesetzt werden können.
Die Operationalisierung eines Programmes unter dem Titel «Dialog» oder «Allianz» der Zivilisationen kann unter den gegebenen Bedingungen nur heissen:
* Gekürzter Text eines am 30. August 2014 auf der Tagung «Mut zur Ethik» gehaltenen Vortrages.
«Die Operationalisierung eines Programmes unter dem Titel ‹Dialog› oder ‹Allianz› der Zivilisationen kann unter den gegebenen Bedingungen nur heissen:
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