Interview mit Ständerat Thomas Minder SH
In einigen der bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU stehen Bestimmungen, wonach sich die Schweiz verpflichtet hat, die sogenannte «Weiterentwicklung» von EU-Recht anzuwenden, das heisst, Erlasse der EU zu übernehmen, die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung und Ratifizierung eines Abkommens durch die Schweiz noch nicht in Kraft waren, mit denen häufig auch niemand gerechnet hatte. Dies gilt gemäss Homepage der Eidgenossenschaft unter anderem für das Schengen/Dublin-Abkommen: «Mit der Assoziierung an Schengen und Dublin hat sich die Schweiz verpflichtet, die Weiterentwicklungen des Schengen- beziehungsweise des Dublin-Rechtsrahmens zu übernehmen.»1
Zum Dublin-Abkommen haben bisher bereits drei «Weiterentwicklungen» stattgefunden, bezeichnet als Dublin I, II und III. Sie wurden jeweils mit einem sogenannten Notenaustausch zwischen der Schweiz und der EU thematisiert; der Bundesrat nahm die Änderungen zur Kenntnis und sorgte dafür, dass die schweizerische Rechtsordnung entsprechend angepasst wurde.
Aktuell fordert die EU-Kommission, die Schweiz habe auch die Zuteilung von EU-Asylbewerbern gemäss dem geplanten permanenten Verteilschlüssel zu übernehmen. Dabei stellt sich nicht zum ersten Mal die staatsrechtlich brennende Frage, ob und wie die Umsetzung solcher EU-Beschlüsse mit der direkten Demokratie vereinbar sind. Wir Bürger und die von uns gewählten Parlamentarier müssen den Bundesrat ab und zu daran erinnern, dass er an erster Stelle dem Schweizer Souverän verpflichtet ist und nicht den Machthabern in Brüssel. In diesem Sinne wollte Ständerat Thomas Minder (SH, Unternehmer, parteilos) mit seiner Interpellation vom Bundesrat wissen, wie er sich zum erwähnten Ansinnen aus Brüssel stellt und wie die demokratischen Rechte von Parlament und Volk gesichert werden sollen.2
In diesem Zusammenhang ist klar festzuhalten, dass der Urheber dieser Interpellation und mit ihm die überwiegende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung in keiner Weise die humanitäre Verpflichtung der Schweiz gegenüber Flüchtlingen und anderen Menschen in Not in Frage stellen. Selbstverständlich nimmt die Schweiz auch weiterhin – wie sie es seit jeher tut – jeden Menschen mit einem Asylgrund und viele andere, die aus Kriegs- und Krisengebieten kommen, auf Dauer oder vorläufig auf. Was wir Bürger aber von unserer Regierung erwarten, ist, dass die Schweiz ihre eigenen Angelegenheiten als souveräner Staat entscheidet, statt sich weiterhin dem EU-Recht – auch dem künftigen! – meistens mit kaum hörbarem Protest zu unterziehen.
Zeit-Fragen: Herr Ständerat, was wollten Sie mit Ihrer Interpellation erreichen?
Ständerat Thomas Minder: Was mich beschäftigt hat: Wie wird eine solche Weiterentwicklung in unserem Gesetzesrahmen organisiert, zum Beispiel die Idee der EU mit der Verteilung von Flüchtlingskontingenten? Das ist schon ein Thema, das aufkommen wird, nicht nur in bürgerlichen Kreisen. Wie betrifft das die Schweiz? Ich bin froh, dass die Antwort des Bundesrates die Sache klarer macht. Ich sitze ja in der Staatspolitischen Kommission des Ständerates, die das Asylwesen behandelt. Vor einiger Zeit behandelten wir das sogenannte Dublin-III-Abkommen. Damals ging es um Lampedusa, weil dort so viele Flüchtlinge ankamen. Damals kam Bundesrätin Sommaruga in die Kommission und sagte, man habe keine Zeit für die ordentliche Gesetzgebung, das gehe 2 Jahre, und die EU wolle es «wie die Feuerwehr». Deshalb wurde die Anpassung via vorübergehende bundesrätliche Verordnung geregelt. (Von der bundesrätlichen Medienmitteilung bis zur provisorischen Inkraftsetzung von Dublin III dauerte es knapp 2 Wochen, und das über die Feiertage!3) Erst ein Jahr nach diesem Fait accompli hat man dann noch einen ordentlichen Bundesbeschluss verabschiedet, der dem fakultativen Referendum unterstand.
Nun nehme ich an, zu den Flüchtlingskontingenten wird es ein «Dublin IV» geben, dazu wird zwischen der EU und der Schweiz wieder ein Notenaustausch stattfinden. Diesmal kann das aber nicht so einfach über den Bundesrat und über die Kommissionen [gemeint sind die zuständigen Kommissionen des National- und Ständerates] durchgewinkt werden. Falls es wirklich zu einem Notenaustausch kommt, zu dem es kein Gesetz geben soll, sondern nur aus Zeitdruck wieder eine Verordnung, müssten wir schauen, dass diese von Anfang an dem Referendum unterstellt wird. Dann könnte ich mir gut vorstellen, dass es zu einer Referendums-Abstimmung kommen würde.
Sie wollten also in erster Linie die rechtliche Lage klären?
Vor allem was die Kontingentsflüchtlinge betrifft. Für mich war der dringliche Verlauf bei der Lampedusa-Dublin-III-Verordnung unschön. Denn am Anfang stand ja ein Volksentscheid über das Dublin-Abkommen, damit auch über dessen Weiterentwicklung. Offenbar wurde die Dublin-III-Verordnung dem Referendum unterstellt. Weil sie nicht so bedeutend war, war die Referendumsfrage gar kein Thema. Aber es ist trotzdem unschön, dass man aus Zeitgründen und weil die EU stürmt einmal mehr nachgibt und eine Verordnung durchwinkt, also vorerst auf das Gesetzgebungsverfahren verzichtet hat.
Was halten Sie von der bisher vorliegenden schriftlichen Antwort des Bundesrates, es handle sich hier um kein Diktat der EU?
Mit dem Diktat habe ich gemeint, dass die EU uns Kontingentsflüchtlinge zuteilen will. Aber es ist klar, der Bundesrat hat freiwillig zugesagt; er ist ja für den Verteilungsschlüssel. Der EU-Rat hat ja die Regelung noch gar nicht beschlossen, es ist ein Vorschlag der Kommission. Der Bundesrat findet zwar die bisher diskutierten vier Faktoren gut (Bevölkerungszahl, BIP, bisherige Asylanträge, Arbeitslosenquote). Aber das wird noch ein ganz heftiges Thema sein im Parlament. Die Schlüsselfrage wurde übrigens nicht beantwortet: Sollen dereinst alle Flüchtlinge, die in die Schweiz kommen, via Brüssel zugeteilt werden?
Der Bundesrat stimmt schon zu, bevor die EU-Staaten sich einig sind?
Ja, er sagt, er sei für den Vorschlag der EU-Kommission. Aber ich bin froh, dass es nicht einfach eine Weiterentwicklung von Dublin ist, zu der wir fast nichts zu sagen haben, sondern es findet im Minimum ein Notenaustausch statt. Wenn Dublin III dem Referendum unterstellt war, dann muss Dublin IV, also die Frage der Kontingentsflüchtlinge, erst recht dem Referendum unterstellt werden.
Ein wichtiges Ziel Ihrer Interpellation war demnach, dass das Volk mitreden kann. Sie haben sogar überlegt, ob Dublin IV nicht einem obligatorischen Referendum unterstellt werden müsste – schon eher nein, oder?
Nein, wenn wir so darüber reden: Für ein obligatorisches Referendum müsste es «scho es bitzeli meh» sein. Aber die Überlegung geht schon in diese Richtung: Am Anfang stand ein Volksentscheid zu Schengen/Dublin, und die Flüchtlingskontingente sind ein derart neues System, dass man das nicht ohne das Volk durchwinken kann. Denn unser Asylwesen ist föderalistisch, eine Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Kantonen und den Gemeinden. Das kann nicht sein, dass eine vierte Stufe, also Brüssel, praktisch final entscheidet, wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen sollen. Das wäre schon ein neues Phänomen und hätte sehr wohl Verfassungsrang.
Ihr Anliegen war also auch zu klären, ob wichtige Entscheide am Volk vorbeilaufen, auch am Parlament vorbei …
Nicht ganz am Parlament, aber Dublin III wurde nur den Kommissionen konsultativ vorgelegt, nicht den Gesamträten, und das ist unschön, wenn man aus Zeitgründen die Prozesse umgeht. Ich als Unternehmer bin auch einer, der gern Vollgas gibt, aber wenn die EU sagt, es ist dringend, und bei uns geht es halt zwei Jahre, bis ein Gesetz durch alle demokratischen Abläufe gegangen ist … Die Lex USA zum Beispiel hat man in 3 Wochen durchgejagt, ebenso die Abgeltungsteuern gegenüber Österreich, Deutschland, Grossbritannien. Wenn von aussen eine Forderung kommt, dann jagen wir die Sache durch wie die Feuerwehr. Ein solches beschleunigtes Vorgehen entspricht aber nicht dem schweizerischen Demokratieverständnis – daran wollte ich den Bundesrat und meine Kollegen im Ständerat erinnern.
Herr Ständerat Minder, vielen Dank für das Gespräch. •
(Interview Marianne Wüthrich)
1 www.sem.admin.ch/sem/de/home/internationales/internat-zusarbeit/europa-migpolitik/schengen-dublin.html
2 vgl. Interpellation 15.3915, «Permanenter EU-Verteilschlüssel für Flüchtlinge. Reaktion der Schweiz und Vereinbarkeit mit der Masseneinwanderungs-Initiative»
3 «Der Bundesrat hat heute entschieden, einen Grossteil der Bestimmungen der neuen Dublin-III-Verordnung gleichzeitig mit allen anderen Dublin-Staaten ab dem 1. Januar 2014 vorläufig anzuwenden. Die Verordnung betrifft den Asylbereich und hat zum Ziel, das Dublin-System effizienter zu machen und die Rechtsgarantien von Asylsuchenden zu stärken.» (Medienmitteilung des Bundesrates vom 18.12.2013)
mw. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Nicht nur wir Schweizer, sondern alle Völker wollen über ihre Angelegenheiten selbst entscheiden. So hat am 3. Dezember 2015 die Mehrheit der Dänen in einem Referendum gegen die Abschaffung ihrer Sonderregeln gegenüber der EU gestimmt. Der dänische Souverän hatte 1992 den Maastricht-Vertrag abgelehnt und beteiligt sich deshalb nicht voll an der Sicherheits-, Justiz- und Innenpolitik der EU. Auch der Beitritt zur Währungsunion wurde in einer Volksabstimmung im Jahr 2000 abgelehnt: Die Dänen sind bei ihrer Landeswährung, der Krone, geblieben. In ihrem jüngsten Entscheid sagten die Dänen nun nein zur engeren Anbindung ihrer Sicherheits-, Justiz- und Innenpolitik an die EU, konkret auch nein zu einer zentralistischen Regelung der Polizei-Zusammenarbeit in Europol. Dies gegen die Empfehlung der Regierung und der meisten politischen Parteien.
Für uns Schweizer besonders interessant: Weil Dänemark bei der supranationalen Europol-Ordnung nicht mitmachen will, muss es sich laut Tagespresse (z. B. «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 3. Dezember 2015) um ein Parallelabkommen mit der EU bemühen.
Aha, sagt sich der unabhängigkeitsliebende Schweizer, es ist also doch möglich, mit Brüssel Parallelabkommen abzuschliessen. Wie wär’s denn mit einer Neuaushandlung des Personenfreizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EU?
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