«… damit keine stereotypen Feindbilder entstehen»

«… damit keine stereotypen Feindbilder entstehen»

Ratschläge für einen achtsamen Medienkonsum

Interview mit Dr. Daniele Ganser, Historiker und Friedensforscher, Swiss Institute for Peace and Energy Research (SIPER)

zf. Am 15. Januar, kurz nach den Anschlägen in Paris, hat der Schweizer Historiker und Friedensforscher Dr. Daniele Ganser dem Schweizer Radio SRF 1 in der Sendung «Ratgeber» ein Interview gegeben über den Umgang mit Medienerzeugnissen über Katastrophen oder Terroranschläge. Auch Kinder und Jugendliche sind solchen Bildern ausgesetzt und können sie noch weniger einordnen und hinterfragen als die Erwachsenen. Daniele Ganser hebt in seinen Ausführungen die schädigenden Auswirkungen von schockierenden Schreckensbildern auf das Menschenbild hervor und macht Vorschläge, wie man dem entgegenwirken, zugleich aber auch dem berechtigten Interesse am Zeitgeschehen Rechnung tragen kann. Dabei stellt er keineswegs das Interesse am Zeitgeschehen in Frage, sondern wendet sich vor allem gegen die kurzen, zerstückelten Informationshäppchen, die der Mensch gar nicht verarbeiten kann und aus denen er somit auch nichts erfährt. Dem stellt Daniele Ganser in Form von ganz konkreten Ratschlägen verschiedene Möglichkeiten des Umgangs für einen echten Wissenserwerb und ein der Realität entsprechendes Menschenbild gegenüber und gibt somit vor allem auch Eltern und Jugendlichen etwas an die Hand.

Radio SRF 1: Daniele Ganser ist Historiker und Friedensforscher. Er sagt uns zum Beispiel, Videos und Bilder von Katastrophen oder Terroranschlägen soll man gar nicht erst schauen, wenn sie auftauchen, möglichst vermeiden. Auch wenn das manchmal sehr schwierig sei. Wenn man dann trotzdem ein solches Video oder solche Horrorbilder gesehen hat, dann ist vor allem eines wichtig:

Daniele Ganser: Ich denke man sollte versuchen, das einzuordnen. Man sollte wirklich das Menschenbild wieder stabilisieren. Man sollte nicht denken, dass alle Menschen andere Menschen töten wollen. Sonst hat man einen sehr negativen Blick auf die Welt, und der ist nicht gerechtfertigt. Man sollte sich fragen: Wer in meinem Freundeskreis, den ich mit Vornamen kenne, hat denn schon einmal jemanden erschossen? Dann merkt man ja, eigentlich niemand. Oder, ist denn eigentlich schon jemand aus meinem Freundeskreis vergewaltigt worden? Dann ist es auch meistens niemand. Hat denn schon jemand gefoltert? Vor kurzem ist der CIA-Folterbericht herausgekommen. Man kann sich anschauen, wie sie gefoltert haben, und das schockt ja immer. Am Schluss sinkt das Menschenbild einfach ins Bodenlose, so dass man am Schluss vom Nachbarn denkt, der sprengt mich morgen in die Luft. Oder man denkt vom Chef, der foltert mich, wenn ich nicht … Es geht in diese Richtung. Da möchte ich wirklich dagegen halten und sagen, die meisten Menschen wollen gar keine Gewalt anwenden, sie wollen sich mit Freunden treffen, sie wollen etwas Geld verdienen, in die Ferien fahren, sie wollen sich verlieben, sie wollen vielleicht ein Buch lesen, Musik hören, usw., all die normalen Sachen. Das ist eigentlich das, was die meisten Menschen machen. Man sollte vor allem unterstreichen, dass der Mensch ein liebenswertes und schönes Wesen ist. Das Problem bei diesen Gewaltbildern ist ja, dass man ein schlechtes Menschenbild bekommt. Und dann sollte man vielleicht einfach schöne Bilder anschauen. In die Natur gehen, Sonnenuntergänge anschauen, schauen wie ein schönes Blatt strukturiert ist, mit freundlichen Menschen reden, das hilft.

Und trotzdem, wenn so eine Meldung reinkommt, dass etwas Schlimmes passiert ist, will man ja mehr wissen. Man will wissen, was ist passiert, warum ist es passiert?

Das Interesse an der Welt ist auf jeden Fall richtig. Man sollte sich ja fragen, was passiert bei einem Terroranschlag, oder warum wird Syrien bombardiert, oder was ist der Krieg in der Ukraine, oder was sind die Drohnenangiffe auf Afghanistan? All diese Fragen sind wichtig. Man soll sich für die Welt interessieren. Das finde ich absolut wertvoll. Aber ich empfehle eher, dass man Sachbücher lesen sollte. Jemand, der sich zum Beispiel für den Krieg in Syrien interessiert, sollte ein Buch über Syrien lesen, das vielleicht 300 Seiten hat, da versteht er viel mehr, als wenn er kurz ein Video anschaut. Oder wenn er sagt, nein, lesen mag ich nicht, dann soll er sich eher einen Dokumentarfilm von 60 Minuten anschauen, wo sich ein Journalistenteam relativ lange mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Da hat man einfach mehr Informationen, weil das längere Informationsstücke sind. Das kann der Kopf viel besser verarbeiten, wenn er eine Stunde zu einem Thema hat, nicht drei Minuten Video dort und dann den Sturz von Simon Ammann und dann das Wetter von morgen und zwischendurch einen Telefonanruf von irgend jemandem, der etwas will, und dann noch ein Mail beantworten … was ja unser reales Leben ist. Das Zerstückelte führt dazu, dass wir uns an gar nichts mehr genau erinnern können. Wir wissen nicht mehr genau, wie das gewesen ist, der Madrid-Anschlag oder der London-Anschlag oder der 9/11-Anschlag. Wenn man die Bilder sieht, hat man keine Ahnung, wer es wirklich gewesen ist. Was da genau gewesen ist, die Namen, das wissen wir alles nicht mehr. Diese kurzfristigen Informationsstückchen können wir nicht verarbeiten.

Sie sagen auch, dass man mit Kindern ab 10 Jahren nachher zwingend darüber reden muss. Unter 10 Jahren soll man die Kinder mit solchen Schreckensnachrichten verschonen. Fernsehschauen ist aus Ihrer Sicht für unter 10jährige sowieso Tabu. Aber ab 10 Jahren muss man nachher mit ihnen sprechen. Die Kinder ja nicht mit diesen Bildern und Videos sich selbst überlassen.

Man sollte eigentlich sagen, was hast du gesehen und wie verändert das dein Bild: «Glaubst du, dass viele Menschen andere Menschen umbringen wollen? Glaubst du, es sind nur wenige? Glaubst du, es gibt das in jeder Religion? Hast du einen Freund, der Muslim ist? Glaubst du jetzt, dass Muslime gewalttätiger sind als Christen? Also was glaubst du denn: Zum Beispiel im Krieg von Frankreich gegen Libyen sind 30 000 Menschen gestorben, die meisten waren Muslime. Jetzt sind vermutlich 12 Christen gestorben durch Muslime, vielleicht, wir wissen es noch nicht genau [Bezug zu den Anschlägen in Paris]. Wer ist denn jetzt gewalttätiger?» Man sollte einen differenzierten Dialog beginnen, den auch Jugendliche verstehen. Es gibt in allen Religionsgruppen das Problem der Gewalt. Und es gibt auch unter Atheisten das Problem der Gewalt. Also die RAF, das sind in erster Linie Atheisten gewesen. Und ich denke, es ist sehr, sehr wichtig, dass man in erster Linie das Gespräch führt, damit keine stereotypen Feindbilder entstehen, wo man dann sozusagen mit dem Finger darauf zeigt und sagt: «Ja die, das sind die Bösen.»     •

Quelle: SRF1 Ratgeber vom 15.1.2015, mit freundlicher Genehmigung

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