Ein anderes wirtschaftliches Denken und Wirtschaften sind unverzichtbar

Ein anderes wirtschaftliches Denken und Wirtschaften sind unverzichtbar

von Karl Müller

Anfang 2014 haben Studenten der Wirtschaftswissenschaften aus 19 Staaten (mittlerweile sind es Studenten aus 30 Staaten) einen «Aufruf für eine Plurale Ökonomik» veröffentlicht (www.isipe.net mit weiteren Informationen über diese Initiative). Mehr als 230 Lehrende der Wirtschaftswissenschaften haben sich bislang diesem Aufruf angeschlossen.

Ein Aufruf von Studenten aus 30 Ländern

Der Aufruf hält eingangs fest, dass sich die Weltwirtschaft in einer Krise befindet. Dies gelte allerdings nicht nur für die Weltwirtschaft, sondern auch für die Wissenschaft, deren Untersuchungsgegenstand das Wirtschaftsleben ist und welche die theoretischen Grundlagen für das praktische wirtschaftliche sowie für das wirtschafts-, finanz- und geldpolitische Handeln formuliert: die Wirtschaftswissenschaft, die an den Hochschulen gelehrt wird. Die Auswirkungen dieser Krise gehen, so der Aufruf, «weit über den universitären Bereich hinaus»; denn: «Die Lehrinhalte formen das Denken der nächsten Generation von Entscheidungsträgern und damit die Gesellschaft, in der wir leben.» Deshalb schreiben die Studenten in ihrem Aufruf: «Wir, 40 Vereinigungen von Studierenden der Ökonomie aus 19 verschiedenen Ländern, sind der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, die ökonomische Lehre zu verändern. Wir beobachten eine besorgniserregende Einseitigkeit der Lehre, die sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschärft hat. Diese fehlende intellektuelle Vielfalt beschränkt nicht nur Lehre und Forschung, sie behindert uns im Umgang mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – von Finanzmarktstabilität über Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel. Wir benötigen einen realistischen Blick auf die Welt, kritische Debatten und einen Pluralismus der Theorien und Methoden. Durch die Erneuerung der Disziplin werden Räume geschaffen, in denen Lösungen für gesellschaftliche Probleme gefunden werden können.»
Weiter heisst es im Aufruf: «Wir massen es uns nicht an, die endgültige Richtung zu kennen, sind uns aber sicher, dass es für Studierende der Ökonomie wichtig ist, sich mit unterschiedlichen Perspektiven und Ideen auseinanderzusetzen. Pluralismus führt nicht nur zur Bereicherung von Lehre und Forschung, sondern auch zu einer Neubelebung der Disziplin. Pluralismus hat den Anspruch, die Ökonomie wieder in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.»
Der Aufruf fordert eine Neuausrichtung des Studiums: «Studierende müssen […] innerhalb ihres Studiums die Möglichkeit erhalten, sich mit anderen Sozialwissenschaften oder den Geisteswissenschaften zu beschäftigen. Volkswirtschaftslehre ist eine Sozialwissenschaft. Ökonomische Phänomene können nur unzureichend verstanden werden, wenn man sie aus ihrem soziologischen, politischen oder historischen Kontext reisst und in einem Vakuum darstellt. Um Wirtschafts­politik intensiv diskutieren zu können, müssen Studierende die sozialen Auswirkungen und ethischen Implikationen ökonomischer Entscheidungen verstehen.»

Viele wirtschafts-, finanz- und geldpolitische Fehlentscheidungen

Der Aufruf der Studenten wurde in unseren Leitmedien bislang nur wenig diskutiert. Dabei ist spätestens in den Jahren 2007 und 2008 offensichtlich geworden, dass unsere bisherige wirtschaftliche Praxis und die ihr zugrundeliegende Theorie nicht mehr dem Gemeinwohl dienen und dass auch die dazugehörigen politischen Entscheidungen in eine falsche Richtung gegangen sind.
So gibt es kaum eine wirtschafts-, finanz- oder geldpolitische Entscheidung in der westlichen Welt der letzten Jahre, die nicht gegen grundlegende ethische Prinzipien verstossen hat und immer wieder neue «Krisen» hervorruft und hervorgerufen hat. Wie kann man das besser illustrieren als durch zwei Schlagzeilen einer gewiss nicht gesellschaftskritischen deutschen Tageszeitung, nämlich der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom 24. Januar 2015: «Die EZB-Geldpolitik macht Reiche noch reicher», und: «Mehr als 3 Millionen Erwerbstätige [in Deutschland] unter der Armutsschwelle».

Instrumentalisierung der Wissenschaften für eine falsche Politik

Dass die betroffenen Menschen selbst die Entwicklung nicht länger hinnehmen wollen, zeigt ganz aktuell das Ergebnis der Wahlen in Griechenland – wie man auch immer sonst zum Wahlausgang in diesem Land stehen mag.
Keiner der derzeitigen Unruheherde in der Welt kann allein auf Entscheidungen zurückgeführt werden, die etwas mit unserem Wirtschaften und mit unserem Umgang mit Geld zu tun haben. Aber in allen diesen Unruheherden spielen die damit zusammenhängenden «Interessen» und die dazugehörige Politik eine wichtige Rolle. Und dass die Wirtschaftswissenschaften so sind, wie sie derzeit sind und wie es die Studenten und auch viele Lehrende der Wirtschaftswissenschaften aus aller Welt beklagen, hat handfeste Gründe und fatale Folgen: Die Hauptrichtung wirtschaftswissenschaftlichen Denkens an unseren Hochschulen ist zu einer Rechtfertigungslehre mächtiger Interessen und ­Politik herabgewürdigt worden.

Ein personaler Ansatz der Wirtschaftswissenschaften

Zu einer «Pluralen Ökonomik», so wie es die Studenten fordern, muss ein «personaler Ansatz der Wirtschaftswissenschaften» gehören, also ein Ansatz, der das Wirtschaften der Menschen und Staaten und deren Umgang mit Geld an der Sozialnatur und Würde des Menschen ausrichtet und einer Ethik verpflichtet ist, die den Menschen und seine natürlichen Rechte in den Mittelpunkt stellt.
Die Soziallehre der christlichen Kirchen und die Naturrechtslehre haben eine ausgereifte Wirtschaftsethik entwickelt. Johannes Messner hat in seinem Grundlagenwerk «Das Naturrecht» (7. Auflage, 1984) fast 250 Seiten dieser Frage gewidmet. Wirtschaften ohne Ethik hat die Welt in eine Sackgasse geführt.
Säkulare Wirtschaftsethiker (zum Beispiel Peter Ulrich: «Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie», 4. Auflage, 2008) haben eine Wirtschaftsordnung gefordert, die sich am Selbstbestimmungsrecht der Menschen und Völker orientiert und deshalb demokratisch ist. Dies ist um so wichtiger, wenn die Börse und die Wertpapierkurse die Politik bestimmen wollen und den demokratischen Willen auszuhebeln versuchen.
Selbst die Vereinten Nationen haben die von grundlegenden mitmenschlichen Prinzipien getragene Genossenschaftsidee aufgegriffen und ihr eine zentrale Bedeutung bei der Lösung der Probleme in der Weltwirtschaft zugewiesen (vgl. Genossenschaft Zeit-Fragen: «Wir gründen eine Genossenschaft – Miteinander und füreinander leben und wirken», 2014). Der Genossenschaftsforscher Helmut Faust schrieb in seinem Buch «Die Geschichte der Genossenschaftsbewegung» (3. Auflage, 1977): «Solange Menschen die Erde bevölkern, haben sie sich, wenn es galt, wirtschaftliche oder andere Bedürfnisse zu befriedigen, und dies die Kräfte des einzelnen überstieg, in Gruppen oder Gemeinschaften zusammengeschlossen. Der Aufstieg des Menschengeschlechts aus dem Dunkel des Naturzustandes in das Licht von Zivilisation und Kultur ist überhaupt erst durch die Vergesellschaftung mit ihrer arbeitsteiligen Gliederung möglich geworden.» Solche Erkenntnisse müssen in die Wirtschaftswissenschaften einfliessen.

Humanwerte gegen den Geist der Spekulation und der Geldvermehrung

Der Geist der Spekulation, der reinen Geldvermehrung und des reinen Profitstrebens muss von einer Ethik der Versorgung aller Menschen mit den zum Leben notwendigen Gütern und Dienstleistungen abgelöst werden.
Die «Humanwerte» unternehmerischer Tätigkeit (vgl. Rainer Gebhardt, Eberhard Hamer: «Humanwerte der Betriebstypen», 2005) müssen wieder im Mittelpunkt stehen.
Noch ist nicht abzusehen, wohin die Völker mit den anhaltenden wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Fehlentscheidungen und der diese Entscheidungen rechtfertigenden falschen wirtschaftswissenschaftlichen Theorie geführt werden. Der Zustand Europas und der westlich orientierten Welt lässt zurzeit nichts Gutes erwarten.
Um so wichtiger ist die Forderung, alle Initiativen zu unterstützen, die einer dem Menschen und seiner Natur und Würde gerecht werdenden Wirtschaftsweise und Wirtschaftswissenschaft einen Weg ebnen.

Geschichtliche Erfahrungen

Während des Zweiten Weltkriegs, als die Wirtschaft Europas alle Wege der Ethik verlassen und allein dem Krieg zu dienen hatte, haben Wirtschaftswissenschaftler der «Freiburger Schule» um Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke – alle Ökonomen, die sich auch und vor allem als ethisch orientierte Gesellschaftswissenschaftler verstanden haben – nach einem dem inneren und äusseren Frieden dienenden Wirtschaftsmodell für die Jahre nach dem Krieg gesucht und Grundlagen für die Idee der Sozialen Marktwirtschaft gelegt.
Warum haben so viele vergessen, was zum Beispiel Wilhelm Röpke 1958 in seinem Buch «Jenseits von Angebot und Nachfrage» geschrieben hat: «Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Masshalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen – das alles sind Dinge, die die Menschen mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen. Sie sind die unentbehrlichen Stützen, die beide vor Entartung bewahren. Familie, Kirche, echte Gemeinschaften und Überlieferung müssen sie damit ausstatten. Die Menschen müssen auch unter Bedingungen aufwachsen, die solche moralischen Überzeugungen begünstigen, Bedingungen einer natürlichen, die Zusammenarbeit fördernden, die Überlieferung achtenden und den einzelnen einbettenden Ordnung.»
Heute geht es darum, wieder die geistigen Grundlagen für eine menschengerechtere Wirtschaftsweise zu sammeln, zu sichten und in praktikable Vorschläge einfliessen zu lassen. Morgen oder übermorgen muss und wird hierauf zurückgegriffen werden.    •

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